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Die Kunst des Trauerns

Die Kunst des Trauerns

Um angstfrei leben zu können, müssen wir uns der Realität unserer eigenen Endlichkeit stellen.

Später Herbst, ein Felsloch, der schäumende Ozean vor dem windumtosten Eingang des Hades am Kap Matapan, dem Totenreich der antiken Unterwelt. Es gibt kaum eine bessere Kulisse für ein Nachdenken über unseren Umgang mit Tod und Trauer.

„Rasch tritt der Tod den Menschen an, es ist ihm keine Frist gegeben; es stürzt ihn mitten aus der Bahn, es reißt ihn fort vom vollen Leben“ — ein schwacher Trost von Friedrich Schiller. Wir sollten zukünftig ein wenig nachdenken, bevor wir uns beim Kondolieren im Hilflosen verheddern, so von wegen „unerklärlich“, „fassungslos“ und „mitten aus dem Leben gerissen“. Aber richtig schützen können wir uns letztlich ohnehin nicht, wenn da frühmorgens zwei Polizisten vor der Türe stehen und uns betreten auffordern: „Sie müssen jetzt stark sein“.

Christiane zu Salm verlor im Alter von sechs ihren drei Jahre jüngeren Bruder und erinnert sich heute an jene Trauerzeit daheim: „Meine Eltern waren so aufgesogen von dem Schmerz, dass bei uns nur noch eine große Sprachlosigkeit herrschte und viel dafür getan wurde, wieder ein ganz normales Leben zu führen. Es ging um die Kunst der kleinen Schritte, also wieder ins Leben zurückzufinden und ganz von vorne und ganz von unten anzufangen. Wie jeder anders liebt, trauert auch jeder anders. Die Sätze der Freunde wie: Ich bin immer für dich da oder ruf mich einfach an, wenn du mich brauchst — halfen herzlich wenig, denn der Trauernde hat keine Kraft, jemanden anzurufen. Es geht darum, einfühlsam auszuloten, was demjenigen guttut, also lieber einen Brief schicken, eine kleine Geste zeigen wie eine Umarmung oder einem einfach das Gefühl vermitteln, dass man nicht alleine ist.“

Wer wie und warum und wie lange trauert und wie er am Ende da herauskommt, ob gestärkt, ratlos, schockerstarrt oder zerbrochen, das muss jeder am eigenen Leib erfahren und bewältigen. Ein Trauern auf Rezept dürfen wir von der Welt nicht einfordern.

Sigmund Freud prägte den Begriff der „Trauerarbeit“ und meinte damit eine echte Leistung auch im physischen Sinne. Er sprach sich dafür aus, die Erinnerungen an das geliebte, aber definitiv verlorene Wesen immer wieder zu durchlaufen, um damit die affektive Bindung nach und nach aufzuheben und die so zurückgewonnene psychische Energie dem Ich wieder zur Verfügung zu stellen.

Für eine gewisse Zeit ähnelt das Trauern einem pathologischen Zustand, denn der Tote lebt ja weiter, irgendwie, im Traum, in Visionen, spürbar, hörbar und in einer quälend-diffusen Lücke zwischen Wissen und Ahnung, Realität und Wunsch, Leere und Wahn. Die Trauerarbeit schafft die Möglichkeit, langsam dem Schwindel aus Schmerz, Verzweiflung und Einsamkeit zu entkommen und den für immer verlorenen Menschen nach und nach in einem würdigen Terrain zu beheimaten, ob Friedhof, Privataltar, Erinnerungsbuch, sein altes Zimmer oder als behüteter Schatz in der eigenen Seele. Das Ende der Tortur besteht darin, ihn ein zweites Mal sterben zu lassen, aber dann nach ganz eigenen Vorstellungen und Wünschen, was den entscheidenden Trost bewirkt.

Ein allzu häufiger Sonderfall des Trauerns äußert sich in konstruierten und oft auch abenteuerlichen Schuldzuweisungen. Wir kennen die tränenreichen Beschwörungen der Betroffenen: „Hätte ich doch besser … Wäre ich nur eine Minute früher … Wenn ich nur richtig zugehört hätte …“

Abgesehen davon, dass dies keinen Toten in die Welt zurückholt, hat man — aus der Distanz betrachtet — nicht selten das Gefühl, dass hier Masochismus und Geltungssucht einen makabren Paso doble zelebrieren. Man ist rundum gut beraten, sich hier zügig vom Kreuz des Schicksalsträgers zu befreien und die bittere Realität hinzunehmen. Es gehört zur humorlosen Eigenart des Todes, dass er zu jeder Zeit jeden von uns abberufen kann. Und immer geschieht es, dass wir jemanden zum letzten Mal gesehen, umarmt oder verstoßen haben. Solche Gewissheiten mögen uns dazu anregen, dem gelebten Leben mehr Achtung zu erweisen.

Immer wenn ich mich damals von meinen Eltern verabschiedete und mich auf den langen Weg Richtung Berlin machte, sah ich sie im Rückspiegel meines alten Daimlers winken — immer kleiner werdend bis zur Kurve. Jedes Mal überkam mich eine wehmütige Traurigkeit, weil ich ja wusste, dass ich irgendwann nur noch unsere kahle Hausfassade sehen würde. Als ich später an ihren Gräbern stand und ein Häufchen Erde über den Sarg rieseln ließ, halfen mir die vielen kleinen Abschiedsschmerzen dabei, den großen halbwegs aufrecht und würdig zu überstehen. Weder der Sermon des seelsorgenden Fachmanns über die Lebensstationen meiner ihm unbekannten Eltern noch die festlich versteinerten Mienen der livrierten Sargträger brachten mich aus der Ruhe, als es mit Chopin in B-Moll auf die letzten Meter ging.

Die meisten deutschen Beerdigungen sowie das ganze Festbrimborium könnten aus den Kreativstuben der Monty Pythons stammen. Dazu gehören auch Todesanzeigen wie diese:

„48 Jahre erfolgreiche Tätigkeit verbanden Dr. Karl Maier mit unserem großartigen Unternehmen. Während dieser Zeit hat er sich insbesondere bei schwierigen verfahrenstechnischen Entwicklungen auf dem Gebiet der dualen Schwermetall-Entsorgung bleibende Verdienste erworben.“

Doch selbst die Protagonisten der früher rebellischen Anti-Spießer-68er-Generation knicken beim großen Finale meistens ein. Von wegen bunte Grabsteine, erhobene Fäuste, der Kampf geht weiter, LSD in der Trauerbowle, ein freischaffender Anarcho-Wildwestprediger der Marke Dennis Hopper oder ein dröhnender Neil Young mit „Cortez the Killer“ in der 11.27-Minuten-Live-Tempodrom-Fassung. Die knallharte Playlist umfasst eher „Yesterday“, „Candle in the Wind“ oder „Bye Bye Love“, man serviert alternative Tofu-Wienerle und Ingwer-Kürbis-Schaumsüppchen, stößt mit dem fein-strukturierten Lieblings-Chianti Riserva des verblichenen Kommunarden an und lächelt ansonsten bemüht-entspannt in der Gegend herum.

Doch jenseits dessen stellen sich ernstere Fragen, die sich um unsere hochneurotische Beziehung zum Tod und die Unfähigkeit eines halbwegs gelungenen Trauerns drehen.

Dieser Tod will partout nicht mehr so richtig zu einem gesellschaftlichen Modell passen, das auf Wachstum basiert, ständiger Entwicklung und Steigerung, einer geisteskranken Scheinwelt des Miles and More und Higher and Higher.

Als irritierender Störfaktor taucht der Tod immer mal wieder kurz auf, um dann nach besten Kräften umgehend wieder abgelegt zu werden.

Kranke, Alte, Gestörte, all diese Vorboten der Sterblichkeit werden von einem gut geölten Wellness-System elegant in spezialisierte Isolationszentren verfrachtet, wo ihre Fälle hinter hohen Mauern abgehandelt werden. Was also jedem von uns eines Tages blüht, wird zum Tabu erklärt oder in abstrakten Pflegedebatten oder Organspende-Aufrufen abgehandelt. Der Krebs, der uns alle wie eine unheimliche Drohung verfolgt, wird von Pharmalobbyisten wie von Eso-Akrobaten als beherrschbares Vorsorgeproblem dargestellt. Und kollektiv auf Unsterblichkeit hoffend, verschließen wir die Augen angesichts des Grauens der Pflegeheime und Seniorenhäuser, der schicken Dialyse- und Chemo-Institute und seriös für sich werbenden Fünf-Sterne-Palliativhäuser.

Man muss es schon als herausragende Leistung der narzisstischen Zeitgeistpsyche würdigen, die einzig definitive Wahrheit des Lebens zu einer Art Fußnote des Daseins zu erklären und das Sterben zu einem Vorfall, der mit einem selbst eher nichts zu tun hat. Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter meint dazu lapidar: „Je mehr wir den Tod verdrängen, desto mehr werden wir von Todesangst geplagt sein.“

Anstatt beizeiten dem Tod ein Lebenszeichen zu schicken, gestehen wir dem Mann mit der Sense absurde Metamorphosen zu: nächtelange Killerspiele, suizidäre Extremsport-Events, allabendliche TV-Krimi- Exzesse, hochdosiertes Viagra und Botox-Orgien, pulskontrollierte Ironman-Irrläufe und, als Dernier Cri aus dem US-Tollhaus, das biostatische Kryonik-Einfrieren bei minus 196 Grad inklusive späterer Reanimation. Hätte man das etwas früher erfunden, könnte uns immerhin der frisch aufgetaute Lee Harvey Oswald diese Sache mit Kennedy erklären.

Um den Tod und die Arbeit des Trauerns etwas besser zu begreifen, könnten wir ja beispielsweise versuchen, in jedem Lebenden den Toten zu sehen, und unsere Lebensarbeit damit bereichern, dass wir den Tod als allumfassende Ordnung akzeptieren, die jedem Wandel, jedem neuen Tag, jedem Schlaf und jedem kleinen Abschied anhaftet.

Das Leben vom Tod her gedacht versieht uns mit gesünderem und intensiverem Erleben, ob Freude, Traurigkeit, Glück, Zweifel, Mut, Angst. Er ist nach Abzug aller Nebenkosten nun mal das einzige Gesetz. Der Tod durchdringt die Poesie, die Musik und Philosophie, ob Psalmen, Plato, Homer, Konfuzius, Dante, Shakespeare, Goethe, Rilkes Elegien und natürlich die beiden Testamente, selbst dann, wenn der Schmuckschuber der Luther-Bibel vom Universaldesigner Harald Glööckler gestaltet wurde. Bevor wir uns der Verdrängung hingeben, sollten wir in jedem gelebten Moment unseren Nächsten mit gebotener Hingabe begegnen, ihnen ihre Macken nachsehen und all die Dinge tun, die der verspäteten Reue verwehrt sind.

Als der griechische Schriftsteller Nikos Kazantzakis im Jahre 1942 erfuhr, dass sein geliebter Freund Georgios Sorbas gestorben und damit der zigfach und stets so leichtfertig versprochene Besuch sinnlos geworden war, ließ er alles an sonstiger Arbeit stehen und liegen, schrieb monatelang wie in Trance und schenkte seinem Kumpel ein Monument der Unsterblichkeit. Mit dem millionenfach gelesenen Roman „Alexis Sorbas“, dessen spätere Verfilmung drei Oscars einbrachte, schuf der Autor ganz nebenbei die Ikone eines echten Mannsbilds mit einer magischen Strahlkraft bis in unsere Tage hinein und darüber hinaus noch ein beeindruckendes Beispiel für Trauerarbeit im Sinne praktizierter Auferstehung. Nicht minder überwältigend erscheint mir die Reaktion des französischen Autors Antoine Leiris, dessen Frau Mitte November 2015 im „Bataclan“ ermordet wurde.

Wenige Tage später schrieb er in seinem offenen Brief: „Am Freitagabend habt ihr das Leben eines außerordentlichen Wesens geraubt, nämlich das der Liebe meines Lebens, der Mutter meines Kindes. Aber ich werde euch nicht das Geschenk machen, euch zu hassen. Selbstverständlich frisst mich der Kummer auf, diesen kleinen Sieg gestehe ich euch zu. Wir sind jetzt zwei, mein Sohn und ich, aber wir sind stärker als alle Armeen dieser Erde. Er wird seinen Brei essen wie jeden Tag, wir werden spielen wie jeden Tag, und sein ganzes Leben wird dieser kleine Junge euch beleidigen, indem er glücklich und frei ist, und auch seinen Hass werdet ihr nicht bekommen.“

Nach neuesten Umfragen halten über 75 Prozent der Deutschen rein gar nichts von der Idee der Reinkarnation. Im Sinne pragmatischer Vernunft fängt das Leben also mit der Geburt an und endet mit dem Tod. Zwei Stempel und basta. Dagegen hat die überwältigende Mehrheit der primitiven und auch vieler neuzeitlicher Parallelkulturen ihren Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod bewahrt.

Ob bei den balsamierenden Ägyptern, Azteken und Mayas, den ebenfalls in Sachen Grab-Beigaben so goldversessenen Mykenern, den archaischen Ritualen der Indianer und Aborigines, den ganz in Weiß tanzenden Hindus und den trommelnden Voodoo-Haitianern oder auch den nächtelang singenden Klageweibern des Mittelmeerraums. Hier wird nicht nur bunter und meist fröhlicher Abschied genommen, die dargebotene Vitalität weist auf ein tief empfundenes Wissen über eine Weiterreise der Seele hin, ob sie ins Licht wandert, sich in Spiral-nebeln auflöst, ins Nirwana eingeht oder in himmlische Sphären aufsteigt. Man lebt mit Sicherheit gesünder, moralischer, leidenschaftlicher und solidarischer mit der — österlichen — Botschaft der Auferstehung im Herzen. Was also spricht dagegen?

Der Filmregisseur Werner Herzog erzählte einmal beiläufig, was er erlebte, als er die Asche seines geliebten Feindes Klaus Kinski in den Ozean streute: „Genau dort, wo die Asche landete, tauchte plötzlich ein Seelöwe auf, mit dem Bauch nach oben und schaute mich lange und durchdringend an.“


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