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Die Kriegsschreiber

Die Kriegsschreiber

Das Jahr 1914 zeigt, wie Propaganda auch Künstler und Intellektuelle in militaristische Ja-Sager verwandeln kann.

„In solchen Zeiten wird jeder, er mag wollen oder nicht, in seine Nation zurückgerissen. Ich kämpfe sehr dagegen an. Das gute Europäertum liegt meinem Herzen näher als das Deutschtum. (…) Ich selbst lebe in diesem Kriege. Ich sehe in ihm sogar den heilsamen, wenn auch Grausamen Durchgang zu unseren Zielen. Er wird die Menschen nicht zurückwerfen, sondern Europa reinigen, bereit machen.“

Der Krieg als Reinigung? Ungewöhnlich an diesem Zitat ist nicht das Datum, der 24. Oktober 1914. Zu diesem Zeitpunkt schwappte die Kriegsbegeisterung in Deutschland bei vielen hoch. Ungewöhnlich ist der Name des Schreibers. Franz Marc, der hoch sensible Maler und Schöpfer einiger der schönsten Tierbilder der Kunstgeschichte („Rote Rehe“) schrieb diese Zeilen zu Kriegsbeginn an seinen Malerfreund Wassily Kandinsky. Franz Marc war am 6. August freiwillig als Soldat in den Krieg gezogen.

Marc war nicht allein mit dieser Entscheidung. Auch Max Ernst, Richard Dehmel, Alfred Döblin, Ernst Ludwig Kirchner, Oskar Kokoschka, Wilhelm Lehmbruck, Ernst Toller und Georg Trakl meldeten sich freiwillig. Ja, auch Otto Dix, der spätere unbestechliche Gesellschaftskritiker. Gottfried Benn, Hugo von Hofmannsthal, Paul Klee und andere wurden eingezogen. Es war ein trauriges Schauspiel: die fast flächendeckende Kapitulation des Geistes vor Militarismus und Kriegshetze. Im berühmten „Manifest der 93“ (September 1914) erklärten bedeutende Vertreter aller Sparten des Geisteslebens ihre Solidarität mit dem deutschen Kriegshandeln: Max Planck, Wilhelm Röntgen, Richard Dehmel oder Siegfried Wagner.

Engelbert Humperdinck, Komponist des wunderbaren Lieds „Abends, wenn ich schlafen geh“, und Gerhard Hauptmann, Autor des erschütternden sozialkritischen Dramas „Die Weber“, setzten ihre Unterschrift unter rassistische und militaristische Ergüsse wie diese:

„Im Osten aber tränkt das Blut der von russischen Horden hingeschlachteten Frauen und Kinder die Erde, und im Westen zerreißen Dumdumgeschosse unseren Kriegern die Brust. Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen.“

Und hurra-patriotisch:

„Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt. Zu ihrem Schutz ist er aus ihr hervorgegangen in einem Lande, das jahrhundertelang von Raubzügen heimgesucht wurde wie kein zweites. Deutsches Heer und deutsches Volk sind eins. Dieses Bewusstsein verbrüdert heute 70 Millionen Deutsche ohne Unterschied der Bildung, des Standes und der Partei.“

„Keine Parteien mehr, nur noch Deutsche!“

Damit waren die vormaligen Selberdenker ganz auf die Linie des schon damals als schlichtes Gemüt geltenden Kaisers Wilhelm II. eingeschwenkt: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“, sagte er in auffälliger Parallele zur Rhetorik George W. Bushs nach dem 11. September 2011.

„Zum Zeichen dessen, dass Sie fest entschlossen sind, ohne Parteiunterschied, ohne Stammesunterschied, ohne Konfessionsunterschied durchzuhalten mit mir durch dick und dünn, durch Not und Tod zu gehen, fordere ich die Vorstände der Parteien auf, vorzutreten und mir das in die Hand zu geloben“ (Thronrede am 4. August 1914 im Reichstag).

Schon bei der Verabschiedung des deutschen Expeditionskorps nach China im Jahr 1900 hatte Wilhelm das verantwortungslose Säbelrasseln einüben können:

„Kommt Ihr vor den Feind, so wird er geschlagen, Pardon wird nicht gegeben. (…) Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bestätigt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.“

Ein solcher „Hunne“ hätte eher in Behandlung gehört als an die Macht. Der Kaiser war aber seinerzeit zugleich Kulminationspunkt und Galionsfigur einer die ganze Nation ergreifenden Kriegsstimmung. Diese wurde vorbereitet durch eine jahrelange schleichende Militarisierung des Alltags. „Wo ham se jedient?“, wird Wilhelm Voigt in Carl Zuckmayers Drama „Der Hauptmann von Köpenick“ gefragt — nicht von einem Offizier, sondern vom Chef einer Schuhfabrik, bei der er sich bewirbt. „Ick hab jedacht, hier wär ne Fabrik, ick hab nich jewusst, dass det hier ne Kaserne is“, antwortet Voigt folgerichtig.

Das Theaterstück, Bezug nehmend auf ein reales Ereignis von 1906, gibt das tragikomische Porträt einer komplett „durchmilitarisierten“ Gesellschaft. Die vormilitärische Erziehung, die Abrichtung auf Disziplin und Gehorsam, begann im Wilhelminismus bereits im Elternhaus. Grandios dokumentiert wird dies etwa in Michael Hanekes Vorkriegs-Drama „Das Weiße Band“. Sie setzte sich fort in der Schule, in Sportvereinen und Männerbünden.

„Zum Krieg wie zu einem Feste gehen“

Die Begeisterung der Jugend beschrieb Ernst Jünger im Nachhinein 1920 in seinem Roman „In Stahlgewittern“: „Der Krieg musste es uns ja bringen, das Große, Starke, Feierliche. Er schien uns männliche Tat, ein fröhliches Schützengefecht auf blumigen, blutbetauten Wiesen.“ Der lesenswerte Aufsatz „Erziehung für Verdun“ von Ulrich Herrmann in „Zeit online“ beschreibt die damalige Manipulation der Jugend mit Blick auf ihre spätere kriegerische Verwertbarkeit. Als Themen von „Besinnungsaufsätzen sind unter anderem aus jener Zeit dokumentiert: „Auch der Krieg hat sein Gutes“, „Welche Güter sind es wert, dass wir für sie das Leben einsetzen?“ und „Der Tod hat eine reinigende Kraft“.

Wenn man dies liest, ist man erschüttert zu hören, dass die Bundeswehr in jüngster Zeit wieder verstärkt Werbung an den Schulen macht. Zwischen 2007 und 2013 wurde das dafür vorgesehene Budget mehr als verdoppelt. Demonstrationen nach dem Motto „Kein Werben fürs Sterben“ konnten diesem Treiben nur unzureichend Einhalt gebieten.

Die neue Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer möchte die Bundeswehr wieder stärker in der Öffentlichkeit verankern und ihr Image aufpolieren. Soldaten sollen umsonst Bahn fahren können, Rekrutengelöbnisse auf großen Stadtplätzen stattfinden — ungeachtet der Tatsache, dass militärischer Formalismus für junge Menschen eine Demütigung darstellt. Die Bundeswehr wird in groß angelegten Werbekampagnen als „cooler“ Arbeitgeber mit Aufstiegschancen und kameradschaftlicher Geborgenheit verkauft. Die Einübung im Töten und Sterben als ultimative Initiation ins Erwachsenenleben.

1911 gründete sich auf Anregung des Militärs der Jungdeutschland-Bund, ein Dachverband mehrerer Jugendverbände zur Wehrerziehung. Er umfasste 1914 bereits 750.000 Jugendliche. In einem Manifest der Gruppierung heißt es:

„Jungdeutschland (…) steht in guten und bösen Tagen unverbrüchlich zu Kaiser und Reich. Jungdeutschland soll wehrhaft und wahrhaft sein. (…) Auch uns wird einmal die frohe, große Stunde des Kampfes schlagen. (…) Still und tief im deutschen Herzen muss die Freude am Krieg und ein Sehnen nach ihm leben, weil wir der Feinde genug haben und der Sieg nur einem Volke wird, das mit Sang und Klang zum Krieg wie zu einem Feste geht.“

Damals schon: Versagen der Opposition

Wer hätte diesem Wahn Einhalt gebieten können? Die parlamentarische Opposition vielleicht, die SPD? Da sehe ich manche meiner Leserinnen und Leser mit Blick auf das heutige Erscheinungsbild der Sozialdemokraten schon müde lächeln. Das Bild von der Umfallerpartei („Wer hat uns verraten — Sozialdemokraten“) entstammt jener Epoche. Am 25. Juli 1914 verkündete der Parteivorstand noch im Zentralorgan „Vorwärts“:

„Gefahr ist im Verzuge. Der Weltkrieg droht! Die herrschenden Klassen, die euch in Frieden knechten, verachten, ausnutzen, wollen euch als Kanonenfutter missbrauchen. Überall muss den Machthabern in den Ohren klingen: Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Es lebe die internationale Völkerverbrüderung!“

Schöne, stolze und einsichtige Sätze, wie man sie ähnlich auch heute angesichts des sich wieder aufheizenden Kalten Kriegs in der Russland-Ukraine-Krise zu hören wünscht. Schon damals, 1914, war Russland der Gegner, war Russenfeindlichkeit weit verbreitete Rhetorik. Nur sechs Tage später, am 31. Juli, präsentierte der „Vorwärts“ jedoch die gewendete Meinung des Parteivorstands:

„Wenn die verhängnisvolle Stunde schlägt, werden die vaterlandslosen Gesellen ihre Pflicht erfüllen und sich darin von den Patrioten in keiner Weise übertreffen lassen.“

Der Vorwurf, vaterlandslose Gesellen zu sein, machte den Sozialdemokraten damals psychisch sehr zu schaffen. Bis heute tragen sie seither Sorge, ihn durch eifrige Zustimmung zu Militäreinsätzen zu entkräften. Dass es auch anders gehen konnte, zeigten die Statements der linken Sozialistin Rosa Luxemburg, die die Zustimmung zu den Kriegskrediten als beispiellosen Verrat der SPD an den eigenen Grundsätzen empfand.

„Noch nie, seit es eine Geschichte der Klassenkämpfe, seit es politische Parteien gibt, hat es eine Partei gegeben, die in dieser Weise, nach fünfzigjährigem unaufhörlichem Wachstum, nachdem sie sich eine Machtstellung ersten Ranges erobert, nachdem sie Millionen um sich geschart hatte, sich binnen vierundzwanzig Stunden so gänzlich als politischer Faktor in blauen Dunst aufgelöst hatte wie die deutsche Sozialdemokratie.“

Der Krieg als reinigendes Gewitter

Der zeitgenössische Militärhistoriker Manfried Rauchensteiner beschreibt, wie die Kriegsbegeisterung alle Bevölkerungsschichten und politische Lager durchdrang:

„Für die Menschen war es zwar nicht selbstverständlich, dass es Krieg gab, aber es schien ihnen auch nichts besonders Erschreckendes zu sein; Krieg gehörte zur menschlichen Existenz und war etwas ungemein Aufregendes. Der Krieg schien der ideale Ausweg zu sein, um dem Alltag zu entfliehen. Alles Mögliche floss da ein: Gegensätzliches wie Müdigkeit an der Moderne und Sehnsucht nach etwas Neuem, irrationale Heilserwartung, Lösung der verschiedensten Dilemmata, Überwindung einer Stagnation, außenpolitischer Befreiungsschlag, Verwirklichung nationalistischer, Festigung staatlicher Struktur, Zentralismus und Föderalismus. (…)

In Berlin und St. Petersburg, in Paris und London konnte man ähnlich wie in Wien das Gefühl haben, der Krieg würde als Erlösung gesehen. Und der intellektuelle Anstoß, der quer durch Europa zu beobachten war, ließ jene ungeheure Kriegsbegeisterung hochkommen, die ein Phänomen dieses Jahrhunderts werden sollte. Die Zerstörbarkeit aller Ordnung wurde als Möglichkeit gesehen und der Krieg als Experiment.“

Es zeigt sich hier ein Dilemma, das wir uns gut ansehen sollten, weil es auf unsere Zeit vorausweist. Wenn historische Kriegshandlungen im Nebel lang vergangener Jahrzehnte verschwimmen, wenn sich kaum ein Lebender mehr an die Gräuel des Kriegs erinnert und der Friede scheinbar „zu lang“ und zu selbstverständlich geworden ist, dann kann kollektiv eine Sehnsucht nach einem neuen heroischen Zeitalter aufkommen, nach Abenteuer, Blut und Bewährung. Feingeistern erscheint ihre Epoche dann „dekadent“, Tatkraft und Widerstandsfähigkeit der Menschen scheint zu erschlaffen, eine träge und hypochondrische „Innerlichkeit“ greift Raum.

Thomas Mann hat dieser Stimmung der drückenden Schwüle vor dem Gewitter in seinem „Zauberberg“ beredten Ausdruck gegeben. In der zum Sanatorium verkommenen Vorkriegsgesellschaft breitet sich darin plötzlich „Die große Gereiztheit“ aus.

Zuvor gepflegt Parlierende giften sich an oder werden handgreiflich, die Zivilisation erscheint als dünne Eisdecke über gefährlich brodelnden, archaischen Emotionen. Sogar der große und so feinfühlige Mann, der spätere aufrechte Hitlergegner, liebäugelte damals mit der Verharmlosung des Kriegs als reinigendem Gewitter: „Wird auch aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen?“, schreibt er in Anspielung auf Wagners „Götterdämmerung“.

Wenn der Friede langweilig wird

Ein einzigartiges Dokument der Zeitstimmung ist eine Tagebuchnotiz des bedeutenden expressionistischen Lyrikers Georg Heym aus dem Jahr 1910:

„Geschähe doch einmal etwas. Würden einmal wieder Barrikaden gebaut. Ich wäre der erste, der sich darauf stellte, ich wollte noch mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Oder sei es auch nur, dass man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln.“

Wer den Frieden nicht liebt, wer ihn als anödend und quasi unter seinem Niveau betrachtet, der wird anfällig für die Verlockung durch den Krieg.

Diese Psychodynamik stellt eine große Gefahr gerade auch im 21. Jahrhundert dar, in einem Europa, das — wie Politiker gern stolz beschwören — fast sieben Jahrzehnte ohne Krieg hinter sich hat (Ex-Jugoslawien ausgenommen). Die gelegentlich zu uns durchdringenden Berichte über traumatisierte Afghanistan-Soldaten und dort verübte Massaker (Kunduz 2009) lassen hoffen, dass es nicht zu einer erneuten Idealisierung von Krieg kommen wird. Jede Friedenshoffnung schwindet jedoch rasch wieder, wenn wir hören, was Joachim Gauck 2012 an der Hamburger Bundeswehruniversität von sich gab: „Dass es wieder deutsche Gefallene gibt, ist für unsere glückssüchtige Gesellschaft schwer zu ertragen.“ Glückssüchtig? Zum Glück gibt es noch eine weit verbreitete Unlust, dem Töten und Sterben als notwendigen Begleiterscheinungen deutscher „Verantwortung“ in der Welt zuzustimmen.

Neben Gewöhnung an die „unvermeidliche“ Realität von Krieg ist eine allgemeine Verrohung des Gefühlslebens konstituierend für die „Kriegsreife“ eines Volkes. In diesem Zusammenhang zitiere ich noch gern aus Filippo Tommaso Marinettis berüchtigtem „Manifest des Futurismus“ (1909):

„1. Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit. (…) 3. Bis heute hat die Literatur die gedankenschwere Unbeweglichkeit, die Ekstase und den Schlaf gepriesen. Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag. (…) Wir wollen den Krieg verherrlichen — diese einzige Hygiene der Welt —, den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.“

Freilich kann man sagen, dieser italienische Sonderling habe mit Deutschland nichts zu tun, aber die Verrohungsmechanismen, die damals auch intellektuelle Schichten erfassten, können in allen Ländern als Warnung dienen. Nur 13 Jahre nach dem „Futuristischen Manifest“ kam in Italien Benito Mussolini an die Macht. Und dass Deutschland nicht nach dem Ersten Weltkrieg von bellizistischen Irrwegen geheilt war, ist allgemein bekannt.

Pazifisten in der Defensive

Natürlich gab es auch mahnende Stimmen wie die des Romanciers Stefan Zweig: „Krieg lässt sich mit Vernunft und gerechtem Gefühl nicht koordinieren.“ Der Pazifist sah sich jedoch gezwungen, seinen Frieden mit den Kriegshetzern zu machen und suchte sich einen Job im Kriegsarchiv: „So hielt ich Umschau nach einer Tätigkeit, wo ich immerhin etwas leisten konnte, ohne hetzerisch tätig zu sein.“ Erich Mühsam, der Anarchist, Dichter und spätere Mitstreiter der Münchener Räterepublik verkündete anfangs noch vollmundig:

„Es gibt kein Volk und kann keins geben, das zivilisiert genug wäre, um zivilisiert Kriege zu führen. Denn der Krieg selbst ist etwas Unzivilisiertes.“

Fast gleichzeitig beobachtete Mühsam aber an sich selbst, wie er sich der allgemeinen Zeitstimmung nicht ganz entziehen konnte, vergleichbar einem Fußballmuffel, der sich gegen Ende der WM dann doch von der überall aufdringlich dominierenden Begeisterung anstecken lässt:

„Ich ertappe mich irgendwie ergriffen von dem allgemeinen Taumel, entfacht von zorniger Leidenschaft, wenn auch nicht gegen etwelche ‚Feinde‘, aber erfüllt von dem glühend heißen Wunsch, dass ‚wir‘ uns vor ihnen retten.“

Wenn ein Massenwahn einmal ein gewisses Stadium erreicht hat, so könnte man schlussfolgern, ist es fast unmöglich, sich ihm zu entziehen. Die wenigen, die es dennoch vermögen, müssen eine machtlose Nischenexistenz führen oder werden — wie Rosa Luxemburg — gleich „entsorgt“.

Von entscheidender Bedeutung wäre es also, sich einer eventuell aufkeimenden Kriegsstimmung von Anfang an entschlossen entgegenzustellen. Resümieren wir noch einmal einige Merkmale einer fortgeschrittenen Kriegsstimmung: Militarisierung des Alltags, allgemeine Verrohung des Zeitgeists, Fetischisierung der Nation, Versagen der Opposition und der „Eliten“ (Wissenschaftler, Künstler, Intellektuelle), die Etablierung von Feindbildern… Mit Blick auf heutige Verhältnisse müssen wir feststellen, dass der Prozess hin zu einem neuen Krieg mit Zustimmung der Deutschen zwar nicht abgeschlossen, jedoch schon ein Stück weit fortgeschritten ist.

Kriegstreiber an die Front!

Angesichts solcher „Eliten“ ist es wohltuend und anrührend, was der Elsässer Bauer Dominik Richert nach dem Krieg schrieb:

„Ich habe mal gelesen: ‚Unsere Soldaten sterben für ihr Vaterland mit einem Lächeln auf den Lippen.‘ Welch dreiste Lüge! Wem wird es wohl ums Lächeln sein, der einen so schrecklichen Tod vor Augen sieht! Alle jene, die solche Sachen erdichten und schreiben, gehörten nur in die vordere Front. Dort könnten sie bald an sich selber sowie an den anderen sehen, welche infame Lüge sie in die Öffentlichkeit geschleudert haben.“

Der größte Feind jeder Kriegsbegeisterung ist allerdings der Krieg selbst. Georg Trakl, anfangs noch Kriegsfreiwilliger, nahm im September 1914 als Feldsanitäter an der Schlacht von Grodek teil. Seine Eindrücke verarbeitete er später in seinem berühmten Gedicht „Grodek“.

Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen
Und blauen Seen, darüber die Sonne
Düster hinrollt; umfängt die Nacht
Sterbende Krieger, die wilde Klage
Ihrer zerbrochenen Münder.

Wenige Tage nach der Niederschrift des Gedichts, am 3. November 1914, verstarb der Dichter nach einem Nervenzusammenbruch und einem Suizidversuch an einer Überdosis Kokain. Auch Franz Marc sollte den Ersten Weltkrieg nicht überleben. Er starb 1916 bei einem Erkundungsritt in der Nähe von Verdun. Zuvor hatte er den Krieg noch als „tiefbeschämend“ und „schmachvoll“ bezeichnet, sich über den „Leichengeruch“ entsetzt.

Es ist schön, wenn Menschen in der Lage sind, umzulernen. Aber brauchen wir Nachgeborenen, nach zwei entsetzlichen Erfahrungen im 20. Jahrhundert, nach allem was wir historisch wissen oder uns lesend aneignen können, wirklich noch einmal einen Krieg, um zu überzeugten Kriegsgegnern zu werden?



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