Unheimliche Begegnungen mit dem Fußball. Als Literatur-Freund freute ich mich, im Juni 2010 Jane Campions neuen Film „Bright Star“ im nahen Arthaus-Kino zu sehen: die unglückliche Liebesgeschichte des sterbenskranken Dichters John Keats. Die Kamera glitt sanft zu Mozarts Musik über Blumenwiesen, erlesene Kostüme der Jane-Austen-Ära und die subtile Mimik der Hauptdarsteller.
Auf einmal erklang eine aufdringliche Sprecherstimme aus dem Nebenraum. Ich hatte in meiner Versunkenheit vergessen, dass zum Kino eine Kneipe gehörte, die aber normalerweise den Filmgenuss nicht störte. Ich verstand vage einige Wortfetzen wie „Flanke“ oder „Freistoß“. Oh nein, ein Fußballspiel! Fanny, John Keats schöne Geliebte, hatte inzwischen mit der Rezitation eines Gedichts begonnen: „Ein Werk der Schönheit ist ein Glück für immer.“
„Schweinsteigaaaaaah“, brüllte auf einmal der Kommentator.
„Stets wächst noch seine Anmut; es wird nimmer ins nichts vergehen“, rezitierte Fanny.
„Podolskiiih – und wieder Schweinsteigaaah“. Draußen im Saal schwoll ein unkontrollierbarer Erregungszustand. Auf einmal schienen 30 oder mehr Fußballfans den Nachbarraum zu bevölkern.
„Wird ständig ein Gemach der Stille uns bereiten, einen Schlaf voll süßer Träume“, fuhr Fanny fort.
Was danach kam, war nicht mehr zu verstehen, denn der Kommentator der Fußballspiels war völlig aus dem Häuschen: „Mertesackaaaaah – und Tooooor!!!“ Draußen tobte die Menge so laut, dass wir ebenso gut einen Stummfilm hätten sehen können. Als das Werk mit dem tragischen Tod von John Keats endete, hatte ich rund ein Viertel der Dialoge nicht verstanden.
Ich trat aus dem Kinosaal in die Kneipe und sah, dass unser versprengtes Häuflein von Filmkunstfreunden hoffnungslos in der Minderzahl war. Vorsichtig, um nicht aufzufallen, huschten wir durch ein Spalier von Fußballfans, die mit glühendem Blick und hoch roten Gesichtern auf einen Flachbildschirm starrten, nach draußen.
Die Leiden eines „Fußballmuffels“
Diese wahre Begebenheit, die sich ebenso in diesen Tagen der WM in Russland zutragen könnte, hat sicher amüsante Züge. Sie ist aber symptomatisch für ein kulturelles Phänomen: die übertriebene Dominanz einer einzelnen Sportart und die Rücksichtslosigkeit ihrer Fans. Die Hysterie gerade zu WM-Zeiten grenzt teilweise an Diskriminierung der Nicht-Fußballfans.
Sogenannte Fußball-Muffel werden entweder ungefragt vereinnahmt oder ausgegrenzt. Vereinnahmt, wenn man etwa von „Fußball-Deutschland“ spricht oder wenn behauptet wird: „Ganz Deutschland fiebert mit unseren Jungs.“
Die Ausgrenzung geschieht, wo der Nicht-Fußballfan als vaterlandsloser Geselle oder quasi verhaltensgestörtes Kuriosum vorgeführt wird.
So gab es etwa zur WM 2006 Radiointerviews mit „Fußballverweigerern“, die von der Moderatorin mit überlegener Nachsicht öffentlich vorgeführt wurden. Der Nicht-Fan war gezwungen, sein Leben um Fußball herum zu organisieren. „Anpassung oder Flucht“ hieß die Devise, und die Fluchträume werden rar in WM-Zeiten.
Sie finden in WM-Zeiten kaum in eine Kneipe oder in ein Restaurant, in dem kein Fußball auf einem Bildschirm läuft. Es kommt Fußballfans nicht in den Sinn, dass es Menschen gibt, die andere Interessen haben und sich dadurch gestört fühlen. Wenn ich versuche, mich in der Öffentlichkeit zu unterhalten, höre ich das Plappern des Stadionsprechers und die erregten Ausrufe der Fans immer als Grundrauschen im Hintergrund. Ich spreche deshalb auch von Fußballsmog, in Anlehnung an Infosmog oder Elektrosmog.
Fußball-Opportunismus
In der U-Bahn kommen mir betrunkene, grotesk kostümierte Fans entgegen. Selbst bei privaten Festen fragt sicher mindestens ein Gast, ob er „das Spiel“ anschauen darf. Wenn ich irgendwo eingeladen bin, käme ich nicht auf die Idee, mir beim Gastgeber einen Spielfilm anschauen zu wollen. Ich empfände es als unhöflich. Fußballfans denken sich nichts dabei.
„Public Viewing“ hat diese Situation noch verschärft, denn der Fußball ist so aus den Wohnzimmern auf die Plätze vorgedrungen. Der Staat zeigt sich kleinlich, wenn Jugendliche auf Plätzen lärmen. Streng überwacht er Demonstranten, die aus politischen Gründen Platz für sich beanspruchen. Fußballfans bekommen den öffentlichen Raum dagegen ohne Probleme, obwohl sie weder unauffällig, noch immer nüchtern oder besonders ordnungsliebend sind.
Man sieht daran, welche Art von Bürgern dem Staat lieber ist. Während für die Belästigung von Nichtrauchern durch Raucher sich mittlerweile ein Bewusstsein entwickelt hat und Raucher eher zurückgedrängt werden, nimmt die Belästigung durch Fußballfans eher noch zu. Der gängige Fußballopportunismus erlaubt es kaum einem Wirt, seine Kneipe fußballfrei, also lärmfrei zu halten.
Ablenkende Spaßkultur
Ab einer bestimmten Größenordnung wird ein Phänomen zum Selbstläufer. Denn auch Menschen, deren Sportinteresse von Haus aus gering ist, vermeiden gern das unbehagliche Gefühl, „nicht dazu zu gehören“. Es ist die archaische Angst davor, von der Herde ausgestoßen zu werden.
So allgegenwärtig wie Fußball zu WM-Zeiten ist – saisonal begrenzt – nur noch Weihnachten mit den vielen Verkaufsbuden und Rotweinständen. An Weihnachten aber wurde Jesus geboren; bei der WM bolzen Müller und Kroos. Es sagt etwas über eine Kultur aus, von welchen Phänomenen sie sich dominieren lässt.
Sich mit Sport zu beschäftigen, ist auch für denkende Menschen zunächst nicht verkehrt. Aktiv betrieben, fördert er die Körperbeherrschung und ist unverzichtbar für eine stabile Gesundheit. Und wer pflegt nicht manchmal verstohlen ein Hobby, das ihn „intellektuell“ nicht weiter bringt, sondern einfach nur Freude macht? In meinem Fall sind es diverse Unterhaltungsfilme und Serien. Durch die Dominanz einer lautstarken Minderheit und den Einfluss der Medien hat sich der Fußballkult aber zu einem Musterbeispiel ablenkender Spaßkultur entwickelt.
Die Lust an der Gefühlsentladung
Die Tatsache, dass Fußball bei allen Generationen und sozialen Schichten ankommt, hat aber sicher mit der Lust an ungehemmten Gefühlsentladungen zu tun. Laut sein, begeistert sein, in Gemeinschaft sein – das tut allen Menschen mal gut. Und dazu gibt gerade in der deutschen Leisetreter-Gesellschaft viel zu wenig Gelegenheit.
Fußball ist diesbezüglich dem Karneval näher als dem Golfsport. Er dient als Ventil und der Seelenhygiene. Ein periodischer Ausbruch des „dionysischen Chaos“ ist offenbar nötig, damit sich die Menschen für den Rest der Zeit ruhig verhalten können. Fußball ist also (auch) ein Vorwand, um für begrenzte Zeit so aus sich herausgehen zu dürfen, wie man es sich sonst nicht traut.
Kein Film hat das besser dargestellt als Sönke Wortmanns „Das Wunder von Bern“. Ein Kriegsheimkehrer hat Schlimmes erlebt und seine Gefühle über Jahre hinuntergeschluckt. Jetzt, anlässlich des überraschenden WM-Siegs der deutschen Mannschaft 1954 bricht es aus ihm heraus: Er weint hemmungslos.
Hinzu kam damals die Aufwertung des kollektiven Selbstbewusstseins, das im Nachkriegsdeutschland am Boden lag. Isoliert betrachtet weckt Fußball Begeisterung und starke Emotion, scheinbar unabhängig von einem adäquaten Anlass.
Bis heute investiert „Fußball-Deutschland“ viel Gefühl in eine Bagatelle und verweigert zugleich sein Engagement in Fragen, die uns alle brennend bewegen sollten.
Etwa Überwachungsstaat und Sozialabbau. Gerade als Ersatzhandlung macht der Fußball-Hype jedoch Sinn.
„Die Deutschen jammern zu viel“
Fußball ist nicht zuletzt ein Politikum. Großturniere – und gar der Sieg der eigenen Mannschaft – helfen immer der Regierung. Nelson Mandela hat sich 1995 des Rugby-Sports bedient, um sein zerrissenes Land zusammenzuschweißen. China polierte mit den Olympischen Spielen 2008 sein Selbstbewusstsein auf, ohne dass die Menschenrechtslage Anlass zum Stolz gegeben hätte. Auch fragt sich so mancher, was Angela Merkel 2006 im Trainingslager der deutschen Mannschaft zu suchen hatte. War sie davor jemals durch ihre sportliche Kompetenz aufgefallen?
Problematisch wird es, wenn politische und fußballerische Volkserziehungsabsichten allzu offensichtlich ineinander fließen. Jürgen Klinsmann gab in der WM-Doku „Deutschland, ein Sommermärchen“ zum Besten, die Deutschen jammerten zu viel. Die grandiose Durchhalteleistung der Nationalmannschaft sei nun ein Beispiel positiver Energie.
Das war mehr als nur kompatibel mit dem Gerede unserer neoliberalen Politiker. Und während der diesjährigen WM leistete sich Kommentatoren-Legende Waldemar Hartmann den entlarvenden Ausrutscher „Fußball ist Krieg!“ Das gab er in der Talkshow mit Markus Lanz am vergangenen Dienstag zum Besten. Und er präzisierte (mit Bezug auf den offenbar lahmenden Stürmer Mario Gomez): „Wie willst du mit so einem Mann den Krieg gewinnen?” Es sei endlich Zeit, „die Wohlfühloase zu beenden und etwas mehr an den Krieg zu denken.“ Weder der Moderator noch einer seiner Studiogäste wiesen den Kriegslüsternen zurecht.
„Fußball ist Krieg“
Nun, dieser WM-Krieg ist verloren, aber der nächste kommt mit Sicherheit und wird von Appellen begleitet sein, Deutschland möge diesmal aber bitte durchhalten und sich bis zum Äußersten kämpfend aus der Asche seiner Meister-Träume erheben.
Mögen „Experten“ auch noch so oft beschwören, dass der Fußball für sich stehe und mit Politik nichts zu tun habe. Das Fußballerische (nicht nur das Private, wie die 68er behaupteten) ist politisch. Das Verhalten der bolzenden Nationalhelden ist durchaus ein Spiegel des sich ändernden Zeitgeists.
Galt Wuschelkopf Paul Breitner noch als scharfzüngiger „Linker“ im DFB-Trikot, so finden türkischstämmige Nationalspieler wie Özil und Gündogan heute nichts dabei, mit dem Menschenrechtsverächter Erdogan zu posieren. Dagegen waren die Mentaltrainingsphrasen des Kanzlerinnen-Lieblings Klinsi noch harmlos.
Nicht untypisch auch, dass die Hautfarbe von Nationalspielern heute für manche Politiker ein Problem darstellt. So beschied beispielsweise AfD-Senior Alexander Gauland, die Deutschen wollten Jerome Boateng nicht zum Nachbarn haben. Der rassistische Vorstoß wurde von der Mehrheit der veröffentlichten Meinung abgeschmettert, jedoch ist das nicht unbedingt ein Grund, Entwarnung zu geben.
Farbige deutsche Helden werden eben einfach in den patriotischen Diskurs miteinbezogen, anstatt ganz auf Patriotismus zu verzichten.
Erst in diesen Tagen fasste der AfD-Politiker Jens Maier nach und erklärte die verlorene WM quasi für eine Spätfolge von Merkels Multi-Kulti-Politik: „Ohne Özil hätten wir gewonnen.“
Härtetest in einer sich verhärtenden Gesellschaft
Ein Fußballturnier (und seine mediale Überhöhung zur Nationalepos) rückt genau diejenigen Eigenschaften in den Mittelpunkt des Interesses, die politisch gewollt sind: Härte, Konkurrenz, Kampfgeist, Standortnationalismus, „Positives Denken“. Daneben auch eine infantile Freude am Umgang mit nationalen Symbolen.
Dabei wirft die (Hoch-)Leistungsmentalität im Fußball einen langen Schatten. Zwei Profifußballer – Sebastian Deisler und Robert Enke – verfielen unter dem Druck, dem sie ausgesetzt waren, in Depression. Deisler gab nach seinem Rücktritt zu Protokoll: „Ich habe lange versucht, im Fußball zu überleben, wollte hart und kühl sein. Aber so bin ich nicht. Ich habe mich selbst verletzt.“ Bei einer solchen Krankheit ist es enorm wichtig, manchmal „zu jammern“, also laut zu sagen, was einem wehtut.
Robert Enke fiel das schwer, und er wählte 2009 den Freitod. Müdigkeit, Traurigkeit und Zweifel werden einem „Nationalhelden“ nicht gestattet. Wenige Jahre nach Enkes Selbstmord feierte Fußballdeutschland den noch blutend weiterkickenden Schweini, der der Nation 2014 einen weiteren sportlichen Endsieg bescherte. Vergessen war die durch Enkes Tat vorübergehend in der Öffentlichkeit spürbare Sensibilität für die dunkle Seite des Leistungsheroismus.
Die Nationalflagge als Fetisch
Das „Sommermärchen“ 2006 und die Nachfolge-WMs 2010, 2014 und 2018 zeigten auch, welches Ausmaß an Gleichschaltung einem Interessenkomplex aus Medien, Politik und Wirtschaft heute möglich ist. Dies ist beängstigend, denn warum sollte dieselbe Vorgehensweise nicht auch bei einem anderen, gefährlicheren Thema gelingen.
Der medial geschürte Volkszorn auf ein vormals beliebtes europäisches Land wie Griechenland, die einseitige Berichterstattung über Flüchtlingskriminalität seit 2015 und die Terrorhysterie aufgrund relativ weniger gewaltsamer Vorfälle im Jahr 2016 boten einen Vorgeschmack darauf, was uns blühen könnte.
Fußball ist im Vergleich dazu ein eher harmloses Thema, aber Fußballturniere bieten Manipulationskartellen die Chance, ihre Techniken der Gleichschaltung zu verfeinern. Vielleicht muss auch einmal Kriegsstimmung angeheizt, müssen Grausamkeiten gegen sozial Schwache populär gemacht werden. Die Tatsache, dass die Nationalflagge in den 2000er-Jahren wieder zum Fetisch geworden ist, scheint mir nicht unbedenklich. Kollektive Hysterie wurde von der Politik als Rückkehr Nachkriegsdeutschlands zur „Normalität“ begrüßt.
Es gibt keinen harmlosen Patriotismus
Einen harmlosen Nationalstolz gibt es nicht – nach einem solchen sehnte sich das Fußballvolk vielleicht 2006, teilweise durchaus in gutem Glauben. Vier Jahre später aber trat ein Thilo Sarrazin mit rassistischen Parolen an die Öffentlichkeit, brach etliche damals gültige Tabus – und erzielte einen Millionenerfolg. Acht Jahre später hatten wir Pegida und die AfD an der Backe. Fußball ist nicht ursächlich für diese Phänomene. Aber „harmlose“ Vorfälle können eine Bresche in die Abwehrmauer gegen Nationalismus schlagen, die nach 1945 nicht ohne Grund in Deutschland lange existierte.
Dabei war die Einheit der „Volksgemeinschaft“, die bei Fußballturnieren beschworen wird, schon immer eine Lüge. Sie ist es umso mehr in einer Zeit, in der das Land zunehmend in Arm und Reich, Verlierer und Gewinner zerfällt.
In Fußballzeiten ist das meistgebrauchte Wort „gegen“. Der Gegensatz zwischen den Nationen wird betont, um den viel zentraleren Gegensatz zwischen Oben und Unten zu verschleiern. Fußballbegeisterung bietet auch eine Plattform, um anderweitig „verpöntes“ Nationalgefühl auszuagieren.
Dahinter steckt, was Erich Fromm „kollektiven Narzissmus“ nennt – die Annahme, das eigene Rudel sei anderen Gemeinschaften von Natur aus überlegen. Dass dieses Phänomen gerade jetzt mit Macht zurückkehrt, ist kein Zufall. Je mehr sich das Individuum in seinem sozialen Umfeld machtlos und entwürdigt fühlt, desto mehr verlangt es nach Ausgleich auf der kollektiven Ebene. Der Arbeitsmarkt unter dem Diktat des Kapitalismus bietet genügend Menschen einen Anlass, sich „klein“ zu fühlen.
König Kommerz regiert die Welt
Trotzdem gibt es gesunde Formen der Heimatliebe wie auch der Sportbegeisterung. Leider wird aber selbst das aufrichtigste Motiv heute für kommerzielle Zwecke missbraucht. Mit „Liebe“ wirbt man für eine Fastfood-Kette, mit „Freiheit“ für eine Automarke und mit Fußballkameradschaft vielleicht für einen gnadenlosen globalen Ausbeuterkonzern.
Wenn ich in der Vergangenheit ein Fußballspiel ansah, fühlte ich mich immer wie bei einem gigantischen Viehtrieb: Die Zuschauer-Herde wird von den medialen Anstachlern vor die Großleinwände getrieben, wo – scheinbar zufällig – die Logos bekannter Markenfirmen prangen. Kein Absingen der Hymne, kein Elfmeter, der nicht von Getränkehersteller X oder Sportschuhkonzern Y „präsentiert“ wird. Im Umfeld eines Spiels hat jeder Zuschauer dutzende von Werbebotschaften „geschluckt“.
Markenfirmen „präsentieren“ die großartigen Leistungen der Sportler, so als könne sich ein Fußballer ohne Hackfleischbrötchen und zuckrige Limonade keinen Zentimeter fortbewegen.
Somit sind die Werbekunden Profiteure der oft unter großen Strapazen erarbeiteten sportlichen Höchstleistungen und der ehrlichen Sportbegeisterung eines globalen Publikums.
Weltmeister Profit, Vizeweltmeister Polizeistaat
Eine sündteure Show als Werbeumfeld auf Kosten der Steuerzahler; peinliche Nationaltümelei der Politiker; unfassbare soziale Härte gegenüber den Systemverlierern – leider ist dieses traurige „Maßnahmenbündel“ keine Seltenheit in der Welt der Großevents. Für den Eurovision Song Contest in Baku ließ das die Menschrechte verachtende aserbaidschanische Regime einen teuren Schnulzentempel errichten. Zuvor hatte man Anwohner aus ihren Wohnungen vertrieben.
Die Formel 1-Show in Bahrain wurde zu einem humanitären Desaster, nachdem das Regime mit ausufernder Gewalt und Folter auf Demonstrationen reagierte. Für die Olympischen Winterspiele in Vancouver 2010 wurde für Ski- und Immobilienanlagen Land von indianischen Ureinwohnern beschlagnahmt. Die Indigenen errichteten im Skiort Sun Peaks ein Protestcamp. Die Polizei griff hart durch und verhaftete 54 Protestierer.
Im Zusammenhang mit der Fußball WM 2022 in Katar – ohnehin ein Ereignis, an dem der Geruch von Schiebung und Korruption haftet – wurden schon Jahre vor der diesjährigen WM Berichte darüber laut, dass Arbeiter, die die neuen Luxussportstätten errichten sollten, wie Sklaven „gehalten“ wurden. Da zeigt sich Sport von seiner brutalen Seite.
Übungsfeld für Repressionstechniken
Staatliche Organe, speziell Sicherheitsbehörden, neigen dazu, ihre eigene Bedeutung aufzublähen und ihren Aktionsradius ständig zu erweitern, sofern sie nicht auf demokratische Gegenwehr stoßen. Dies geht notwendig auf Kosten der Freiheit und der Bürgerrechte. Macht hat wie Reichtum Suchtcharakter. Für beide gilt das Motto: Genug ist nicht genug. Jedes Massenereignis birgt ein Gefährdungspotenzial, wie nicht zuletzt der Anschlag auf israelische Sportler in München 1972 zeigt; andererseits sind sie willkommene Übungsfelder für neue Repressionstechniken. Es sind Vorwände, um den Strick um den Hals der Bürger unmerklich noch ein Stückchen fester zuzuschnüren.
Während sportlicher Großveranstaltungen sieht eine Stadt für ein paar Wochen so aus, wie sich rechte Politiker die Welt generell wünschen: gelenkte Menschenherden, bei jedem Schritt von Sicherheitskräften bewacht und von Kameras bespitzelt. Die Straßen blank poliert und von „Gesindel“ gereinigt.
Anlässlich einer WM zeigt sich der Wahnsinn des globalisierten Kapitalismus in konzentrierter, gleichsam symbolisch verdichteter Form. Was wir im Kleinen rund um die Sportfeste beobachten können, zeigt sich auch im Großen: Dies gilt für die Gentrifizierung der Städte, den Ausbau des Überwachungsstaats wie auch den Kommerz-Overkill.
Durch konzertierte Manipulation locken Massenmedien, Markenfirmen und Politik die Menschen in Scharen in die Stadien und vor die Bildschirme. Es entsteht eine kollektive Hysterie, die den öffentlichen Raum über Wochen fast lückenlos beherrscht. Globale Konzerne profitieren durch exklusive Lieferträge für den Bedarf der Sportler und Zuschauermassen, aber auch durch beispiellose Werbepräsenz.
Geliehenes Glück
Wir können dieses System natürlich nicht von heute auf morgen ändern, wohl aber dem Fußball-Zirkus unsere Energie entziehen.
Die Metapher vom „König Fußball“ ist seit den Singversuchen der Beckenbauermannschaft in aller Munde. In Wahrheit ist der Profisport jedoch eher eine Marionette in den Händen von „König Kommerz“.
Eigentlich sollten in unserem Land nicht die Monarchie, sondern Demokratie und Pluralismus hoch im Kurs stehen.
Fußball ist nur geliehenes Glück, Fremdfreuen. Nach dem Fußballevent fällt der vom Siegestaumel Aufgeblähte wieder in seine gefühlte Bedeutungslosigkeit zurück. Statt unseren Stolz an die Nationalmannschaft zu delegieren, sollten wir endlich die Voraussetzung dafür schaffen, auf uns selbst stolz zu sein.
Entwickeln wir die Tugenden in uns, die wir uns von den Spielern wünschen und packen wir mit dieser Energie endlich die Themen an, die wirklich wichtig sind! Es müssen ja keine „kriegerischen“ Tugenden sein, aber mehr Gemeinschaftsgeist wäre zum Beispiel ganz hilfreich.
Sehen wir das frühe Ausscheiden der deutschen Mannschaft auch als Chance. Für Nicht-Fußballfans ist es ohnehin angenehmer, wenn sich die Hysterie bis zu einer deutschen Finalteilnahme nicht noch weiter aufschaukelt. Aber auch die Fußball-Interessierten könnten die Gelegenheit nutzen, um sich mal wieder bewusst zu machen, was sich sonst so auf der Welt tut.
Zum Beispiel vollzieht sich derzeit vor unseren Augen der Anfang vom Ende eines weltoffenen, halbwegs humanen Europa. Wir könnten jetzt noch die letzte Ausfahrt nehmen, bevor der Kontinent in die Barbarei abdriftet, bevor Geflüchtete nur noch in Lagern konzentriert oder ohne Rücksicht auf Verluste ins Meer zurückgetrieben werden. Die Zeiten sind brisant, und tatsächlich sammeln sich die Menschen auf Straßen und Plätzen – allerdings bis jetzt nur, um auf Großleinwänden Fußball zu schauen.
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