Anfang und Ende
Als sich im August 2015 ein Treck von mehreren Hundert Flüchtlingen aus krisengeschüttelten Ländern an der Südgrenze Ungarns staute und sich die Politiker vor Ort scheuten, diese Flüchtlinge aufzunehmen, ertönte aus der Ferne die Stimme der Bundeskanzlerin: „Lasst sie durch und zu uns nach Deutschland kommen!“ Und so geschah es. Das Problem war gelöst, so schien es, auf eine einfache und sehr menschliche Art.
Das war der Beginn einer bisher in dieser Form noch nie von Politikern praktizierten Willkommenskultur. Es war das Signal: Wer nicht weiß, wohin in seiner Not, Deutschland nimmt ihn auf. Die Auswirkungen ließen nicht lange auf sich warten. Tausende und abertausende Flüchtlinge machten sich auf den Weg nach Deutschland. Dass es so viele werden könnten, damit hatte keiner gerechnet, auch die Bundeskanzlerin nicht.
Es gab zwar Stimmen, die meinten, schon im Frühjahr hätte jeder wissen und erkennen können, dass es über kurz oder lang allein schon aufgrund des Syrienkriegs zu einem gigantischen Flüchtlingsstrom kommen müsse. Aber darauf angesprochen, meinte die Kanzlerin nur: „Das Asylrecht kennt keine Obergrenze.“ Und mit „Wir schaffen das“ appellierte sie an die Ehre einer ganzen Nation und an ihre Fähigkeit, mit großen Herausforderungen bisher immer fertig geworden zu sein.
In dieser Attitüde ist die Kanzlerin nicht mehr wiederzuerkennen. Denn lange haftete ihr das Image an, „Kohls Mädchen“ zu sein, ein versteckter Zweifel an ihrer Fähigkeit, die Regierungsgeschäfte zu leiten. Dann folgten Jahre, in denen sie zumindest ihren Machtinstinkt bewies und politische Konkurrenten rechtzeitig kalt stellte. Gleichzeitig wurde ihr vorgeworfen, sie könne nicht rasch entscheiden, sondern stattdessen den Lauf der Dinge abwarten und sich erst dann entscheiden, wenn selbst der Dümmste erkannt habe, was zu tun sei. Aus diesen Jahren resultiert eine erste Erkenntnis: Merkel lässt Entscheidungen reifen. Mit ihren Worten 2007: „Man bekommt beim Schweigen ganz gut ein Maß für die Zeit.“
Bewältigen der ersten Krise
Als die Bankenkrise nach dem Zusammenbruch der Bank Lehmann & Brothers 2008 auch auf Deutschland übergreift und die Kanzlerin zwingt, auf einem Gebiet Stellung zu beziehen, das für sie relativ neu war, agiert sie noch im Einvernehmen mit ihren engsten Beratern, insbesondere mit Finanzminister Steinbrück. Die Zeit für einsame Statements ist noch nicht gekommen. Zusammen mit Steinbrück verkündet sie vor der Presse: „Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind.“ Aber der Ruf nach dem Staat ebnet Merkel den Weg in die „Alleinherrschaft“.
Merkel lernt schnell. Aus der Schönwetter-Kanzlerin wird die Krisenkanzlerin, eine Frau mit Stehvermögen, der man die Bewältigung von Krisen jetzt zutraut.
Dass die Zeitschrift Forbes sie seit 2006 sieben Mal „zur mächtigsten Frau der Welt“ gewählt hat, unterstützt diese Entwicklung, Kanzlerin Merkel tritt immer selbstbewusster auf. Zunehmend emanzipiert sie sich von ihren Beratern und den demokratischen Entscheidungsgremien. Dabei nutzt sie das entschiedene und abrupte, auf den Punkt gebrachte Formulieren ihrer eigenen Meinung in der politischen Öffentlichkeit als zentralen Erfolgsfaktor für das Durchsetzen ihrer Position.
Eigenmächtiges Verkünden „letzter Wahrheiten“
So sagt sie 2008: „Die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.“ Klare Ansage, was aus ihrer Sicht Teil der deutschen Staatsräson ist. Volle Zustimmung. Aber warum sagt sie das? Will sie damit verhindern, dass jemand auf die Idee kommen könnte, sie in dieser Frage in eine Diskussion zu verwickeln? Markus Kaim von der Bundeszentrale für Politische Bildung bringt es auf den Punkt: Zunächst wollte sie „deutlich darauf verweisen, in welcher Kontinuität sie stehe und wie tradiert diese politische Prioritätensetzung sei.“
Okay. Aber warum hält sie es für erforderlich, gerade zu diesem Zeitpunkt und überhaupt in dieser Weise Stellung zu beziehen? Nach Kaim ist das ihre entschiedene Antwort darauf,
„dass die grundsätzlich proisraelische Orientierung der deutschen Politik von weiten Teilen der Bevölkerung nicht länger geteilt wird. Im Gegenteil ist derjenige Anteil gestiegen, der Israel gegenüber eher kritisch eingestellt ist, was bis in Teile der Exekutive und Legislative hineinreicht. Aus nachvollziehbaren Gründen ist dies vor allem dann der Fall, wenn der arabisch-israelische beziehungsweise israelisch-palästinensische Konflikt militärisch eskaliert, wie in den vergangenen Jahren mit trauriger Regelmäßigkeit geschehen, oder wenn es den Anschein hat, dass die israelische Armee unverhältnismäßig Gewalt einsetzt.“
Damit bestätigt sich: Mit ihren definitiven Auftritten und lapidaren Botschaften verfügt sie über ein Instrument, als mächtige Politikerin auf die öffentliche Meinung massiven Druck auszuüben, der in letzter Konsequenz jeden diskriminiert, der eine andere Meinung hat. Das ist das Gegenteil von Demokratieverständnis. Merkel etabliert zunehmend einen Regierungsstil des Alleinganges, der apodiktischen Verkündung „letzter Wahrheiten“ und einer autoritären Manipulation der öffentlichen Meinung.
Unterdrücken öffentlicher Diskussionen
Im Januar 2015 erfolgte der mörderische Anschlag auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Der danach entstandene Slogan „Je suis Charlie“ sollte die uneingeschränkte Solidarität mit den ermordeten Redaktionsmitgliedern zum Ausdruck bringen. Gleichzeitig wurde er auch zu einem klaren Bekenntnis des Rechts auf freie Meinungsäußerung für Jedermann, als sichtbares Zeichen einer funktionierenden Demokratie westlicher Prägung. Die Pariser Großdemonstration hat diese Sichtweise nochmal eindrucksvoll ins Bild gesetzt.
Das Recht auf eine freie Meinungsäußerung gilt als einer der relevantesten Werte der westlichen Wertegemeinschaft. So war es kein Wunder, dass in der Zeit nach dem Pariser Attentat Politiker, Journalisten und andere Protagonisten der Gesellschaft immer wieder betonten: „Wir lassen uns unser Recht auf freie Meinungsäußerung nicht nehmen, erst recht nicht von Terroristen!“ Dieser einvernehmliche Aufschrei quer durch die ganze Gesellschaft stieß zunächst auf ein ungeteiltes Echo der Zustimmung.
Dann aber begann in der öffentlichen Diskussion die Differenzierung. Meinung sei nicht gleich Meinung. So ist es mehr als ein Unterschied, ob meine Meinung jemanden diffamiert, beleidigt und verhöhnt. Oder anders ausgedrückt, mit Bezug auf die Allgemeine UN-Erklärung der Menschenrechte von 1948 oder unser Grundgesetz von 1949: ob die Meinungsäußerung die Würde des Anderen verletzt. Oder ob einer freimütig das Verhalten von Menschen, Unternehmen und Organisationen kritisiert und dadurch dazu beiträgt, dass in der Gesellschaft unhaltbare Zustände ans Tageslicht kommen.
Also wurden in diesem konkreten Fall Bedenken laut:
Hatten sich die Karikaturisten nicht unübersehbar und bewusst beleidigend über den islamischen Glauben der Muslime lustig gemacht? Wer diese Frage bejaht, wird dann auch der Schlussfolgerung zustimmen müssen, dass ein solches Verhalten durch das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht geschützt ist.
In unserer Gesellschaft hat jeder ein Recht auf die Unverletzbarkeit der eigenen Person. Er kann sich daher mit dem Hinweis auf seine Persönlichkeitsrechte gegen verletzende Angriffe zur Wehr setzen. Denn seine Würde ist unantastbar.
Der Aufschrei in Paris war deshalb deplatziert und peinlich. Hier sollte der Eindruck entstehen, die Terroristen wären die Ursache dafür gewesen, dass uns unsere unverbrüchlichen demokratischen Rechte genommen werden. Tatsache aber ist, dass wir es gewesen sind, die das Recht auf freie Meinungsäußerung über eine längere Zeit in anmaßender Weise missbraucht und andere Menschen in ihrem Glauben zutiefst verletzt haben.
Heißt also: Die Terroristen hätten Charlie anzeigen können. Damit wären sie sicher durchgekommen. Stattdessen aber haben sie die Karikaturisten abgeknallt. Das war aus unserer Sicht Mord und entsprechend konsequent zu bestrafen. Beleidigungen als Provokation reichen nicht aus, einen solchen Mord zu rechtfertigen, niemals, zumindest nicht aus westlicher Sicht. Vom Standpunkt fanatisierter Islamisten allerdings könnte es sein, dass Beleidigungen der Religion das Ermorden der Beleidiger nicht nur rechtfertigen, sondern sogar unausweichlich einfordern.
Vielleicht ist davon auszugehen, dass in anderen Kulturkreisen beim Einzelnen eine andere innere Plausibilität abläuft als in unserem Kulturkreis. Deshalb lässt sich auch vorstellen, dass die Terroristen nach ihrem Selbstverständnis nicht als Mörder gehandelt haben, sondern als Verteidiger der Ehre und Erhabenheit Mohammeds.
„Wir lassen uns unser Recht auf freie Meinungsäußerung nicht nehmen“, hieß es in Paris. Als würde dieses Recht noch uneingeschränkt jedermann zur Verfügung stehen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich sehr schnell, dass es in Deutschland seit langem kein durchgängig geltendes Recht auf freie Meinungsäußerung mehr gibt. Es gibt Lebensbereiche, in denen keine Kritik erlaubt ist. Exemplarisches Beispiel ist die deutsch-israelische „Freundschaft“ sowie die Berichterstattung und Äußerungen über die Politik Israels als Besatzungsmacht seit 1967.
Spätestens seit dieser Zeit, das heißt seit fast 50 Jahren, haben alle israelischen Regierungen immer wieder massiv gegen Völker- und Menschenrechte verstoßen. Verelendung, Entrechtung und Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung sind nach wie vor das Ziel jeder israelischen Regierung. Allein die militärischen Interventionen im Gaza-Streifen sind nicht nur brutal unverhältnismäßig, sondern haben mehrfach gegen anerkannte Regeln des humanitären Völkerrechts verstoßen.
In der täglichen Auseinandersetzung mit der palästinensischen Bevölkerung begehen das Militär, die Siedler und die Justiz ständig gravierende Menschenrechtsverstöße. In Deutschland sind diese Dinge den Politikern, den Medien und allmählich auch der Bevölkerung bekannt. Aber die notwendige offene Auseinandersetzung mit der Politik der israelischen Regierung findet nicht statt, auch wenn dies immer wieder abgestritten wird.
Die gesamte Berichterstattung in diesem Bereich beschränkt sich auf eine mehr oder weniger ausführliche Beschreibung einzelner Geschehnisse, jede Kritik ist hier Tabu.
Zunehmendes Ausblenden von Realitäten
Bei der Suche nach den Ursachen dieser Entwicklung schiebt sich automatisch zunächst wieder die Position der Bundeskanzlerin in den Vordergrund. In ihrer Rede vor der Knesset, dem israelischen Parlament, sagte sie 2008: „Diese historische Verantwortung ist Teil der Staatsräson meines Landes.“ Abgesehen von der globalen Interpretation, damit könne die umfassende bedingungslose Unterstützung Israels gemeint sein, finanziell und materiell, politisch und kulturell, verrät dieses Postulat noch keine Position zum Thema Bürger-, Menschen- und Völkerrechten. Aber dann sagte sie noch: „Es ist die Kraft zu vertrauen.“ Diese Kraft stütze sich auf die Werte, die Deutschland und Israel teilen – Freiheit, Demokratie und die Achtung der Menschenwürde.
Am Tag der Konrad-Adenauer-Stiftung im Herbst 2008 sagte sie: „Interessengeleitete Außenpolitik muss auch wertegeleitete Außenpolitik sein.“ Und sie betonte, diese Werte seien universell und müssten von allen Staaten respektiert werden: „Wir können bestimmte Lebensumstände nicht als Entschuldigung dafür akzeptieren, dass Menschenrechte nicht berücksichtigt werden.“ Als wichtigstes Instrument zur Verbreitung der Menschenrechte nannte Merkel dann den Dialog, er müsse mit fester Wertebasis und Konfliktfähigkeit geführt werden. Und wann hat sie das selbst jemals gemacht?
Bis heute wiederholt Merkel bei den verschiedensten Gelegenheiten öffentlich ihr Credo: Israel und Deutschland hätten die gleichen Grundwerte.
Die Mitglieder der Regierung vertreten die gleiche Position. So sagte Bundesjustizminister Heiko Maas anlässlich der deutsch-israelischen Justizkonferenz im Dezember 2015 bei der Begrüßung der israelischen Justizministerin Ayelet Shaked:
„Deutschland und Israel sind auch durch die Herausforderungen der Gegenwart miteinander verbunden, und weil wir beide Rechtsstaaten und Demokratien sind, teilen wir die gleichen Werte.“
Von der israelischen Justizministerin ist bekannt, dass sie nach dem letzten Gaza-Krieg im Sommer 2014 gesagt hat:
„Sie alle (die Palästinenser, der Autor) sind feindselige Kämpfer gegen uns, und sie werden dafür bluten. Dazu zählen nun auch die Mütter der Märtyrer/…/ Sie sollten ihren Söhnen folgen – nichts wäre gerechter. Sie müssen verschwinden, und ebenso die Häuser, in denen sie diese Schlangen großziehen.“
Shaked ist das personifizierte System der seit Jahrzehnten von Israel gegenüber den Palästinensern praktizierten Unterdrückung, Entrechtung und Enteignung.
Natürlich kann niemand vor den tatsächlich in Israel und Palästina stattgefundenen Ereignissen, vor den Verstößen gegen die immer wieder bemühten Grundwerte, die Augen verschließen, auch die Kanzlerin nicht. Israel habe das Recht auf Selbstverteidigung, heißt es dann immer.
Auch die deutschen Mainstream-Medien befolgen immer wieder die offizielle Sicht auf Israel und damit die generelle Sprachregelung. Jede davon abweichende Meinung erscheint suspekt: Aus einer faktisch nachvollziehbaren Israelkritik wird dann schnell eine „antisemitische“ Hetzparole. Öffentliche Beschimpfungen, Diffamierungen und Ausgrenzungen sind die Folgen. Angesichts dieser zu erwartenden Konsequenzen kann man vom einzelnen Bürger nicht mehr erwarten, dass er seine abweichende Meinung äußert.
Denn auch die Bundeskanzlerin zusammen mit unserem Bundespräsidenten war sich nicht zu schade, angesichts der vielen Demonstrationen in Deutschland im Sommer 2014 gegen die israelische Gaza-Offensive jeden beteiligten Bürger unter den Generalverdacht zu stellen, ein Antisemit zu sein. So wurde aus dem viel gelobten Recht, frei seine Meinung äußern zu dürfen, ein Maulkorb-Erlass.
Und es bestätigte sich erneut der schon seit längerem von Insidern gehegte Verdacht,
Merkel leide unter einem gravierenden Realitätsverlust. Nachdem sie das Existenzrecht Israels zur „Staatsräson“ erhoben und „die besondere historische Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel“ betont hat, blendet sie alles aus, ignoriert alles, was diese Position infrage stellen könnte. Es kann nicht sein, was nicht sein darf.
Eine katastrophale Situation mit sehr vielen negativen Auswirkungen hier in Deutschland.
Zum Vergleich: Seit 10 Jahren wird um die Aufklärung der NSU-Morde in Deutschland gerungen. Dabei geraten die Polizei, der Verfassungsschutz, die Justizbehörden und die Gesellschaft selbst immer wieder in die Kritik und in den Focus der Öffentlichkeit. Zu Recht, wie wir meinen. Aber in Israel passieren solche Morde an Palästinensern seit vielen Jahren, ausgeführt von Siedlern und den IDF-Soldaten und schweigend geduldet von der jeweiligen israelischen Regierung. Wer zu dieser Lynchjustizpraxis von der deutschen Bundesregierung und insbesondere von der Bundeskanzlerin ein kritisches Wort erwartet, wurde bisher immer enttäuscht.
Als neu gewählte Kanzlerin hat Merkel vor ihrem Amtsantritt in Anwesenheit des Bundestages laut Grundgesetz den Amtseid abgelegt:
„Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“
Ein hoher Anspruch, der selbst einer souveränen Kanzlerin in den großen Krisensituationen der heutigen Zeit ein Höchstmaß an Wahrnehmung, Gewissenhaftigkeit, Situationsgespür und sorgfältigster Analyse und Problemlösung abverlangt. Jeder Versuch, die komplexe Wirklichkeit auf eine einfache Formel zu reduzieren, produziert zwangsläufig unbefriedigende, nicht zu Ende gedachte oder sogar falsche Entscheidungen.
Ein bestes Beispiel hierfür ist nun mal die „besondere historische Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel“. Das Ausblenden der gravierenden Menschenrechts- und Völkerrechtsverletzungen durch die israelische Regierung reduziert den Blick unserer Politiker, allen voran der Bundeskanzlerin, auf eine Realität, die seit fast 50 Jahren gar nicht mehr existiert. Israel ist kein kleines Land mehr, das von Feinden umgeben um seine Existenz ringen muss. Die Konsequenz dieser gewissenlosen „Realitäts“wahrnehmung ist, dass die Bundeskanzlerin akzeptiert, wenn Israel aus „Verteidigungsgründen“ Hunderte von palästinensischen Kindern, Müttern und alten Menschen töten und verstümmeln lässt, wie geschehen im Gaza-Krieg 2014.
Und in der Konsequenz sieht die Bundeskanzlerin nichts Falsches darin, dass der Holocaust die israelischen Regierungen dazu legitimiert, an der palästinensischen Bevölkerung jede Art von Verbrechen zu begehen. Damit verletzt sie nicht nur ihren Amtseid, sondern alle ihre Aussagen zum Thema „Grundwerte“.
Damit sie diesem katastrophalen Widerspruch politisch nicht zum Opfer fällt, wiederholt sie permanent die Aussage, Deutschland und Israel verbänden die „gleichen Grundwerte“.
Eine beispiellose Manipulation der öffentlichen Meinung durch eine Bundeskanzlerin, die unter anderem geschworen hat, Schaden vom deutschen Volk abzuwehren. Die Bundeskanzlerin interpretiert und reduziert die Wirklichkeit; für die dann noch wahrgenommenen Probleme verkündet sie selbstherrlich im Alleingang ihre Lösungen, die sich schnell auf längere Sicht als Fehlentscheidungen herausstellen.
Evelyn Hecht-Galinski, die Tochter des langjährigen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, hat den ungeheuren Realitätsverlust unserer Kanzlerin mit den Worten beschrieben: „Ich habe mir das Lebensmotto meines Vaters zu eigen gemacht: ‚Ich habe Auschwitz nicht überlebt, um zu neuem Unrecht zu schweigen‘.“ Heißt, eine gewissenhafte Realitätswahrnehmung sieht anders aus und würde gerade im Rahmen einer deutsch-israelischen Beziehung völlig neue Perspektiven eröffnen, die überzeugender mit dem Begriff „Freundschaft“ verbunden werden könnten als alles das, was unter diesem Namen veranstaltet wurde.
„Alternativloses“ Durchregieren
Im Februar 2010 sagte Bundeskanzlerin Merkel zur Frage der Enteignung von insolventen Banken, Anlass war unter anderem die Hypo Real Estate: „Ich halte das Vorgehen für alternativlos.“ Auch den Afghanistan-Einsatz bezeichnet sie als alternativlos. Alternativlos, die Formel der Zukunft. Die von Anfang an jeden Widerspruch, jede Kritik unterbinden soll. Bereits 2009 rechtfertigten Merkel und andere Politiker mit dieser Begründung politische Entscheidungen.
2010 kürte die Gesellschaft für deutsche Sprache das Wort zum deutschen Unwort des Jahres. Die Jury erklärte dazu:
„Das Wort suggeriert sachlich unangemessen, dass es bei einem Entscheidungsprozess von vornherein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskussion und Argumentation gebe. Behauptungen dieser Art …. drohen, die Politikverdrossenheit in der Bevölkerung zu verstärken.“
Wie der SPIEGEL online im Januar 2011 feststellte, wurde „Alternativlos“ zum „Basta“ der Merkel-Regierung.
Als Managerin der Finanzkrise wurde es für Merkel immer selbstverständlicher, ihre Entscheidungen im Parlament problemlos durchzubringen, zum Beispiel die Milliardenbürgschaft für die HRE; der Haushaltsausschuss und die Fraktionen folgten ihr ohne Wenn und Aber. Im Bewusstsein ihrer politischen Macht etabliert Merkel zunehmend einen neuen Stil des Durchregierens. Gremien, Ratgeber und Einflüsterer haben bei ihr keine Chance mehr, sie wird beratungsresistent. Sie geht ihren eigenen Weg, trifft höchstpersönlich ihre „einsamen“ Entscheidungen und setzt sie dann in politisches Handeln um.
Die Neigung dazu finde man in ihrer Persönlichkeitsstruktur, sagen seriöse Psychologen. Sie liebt es zwar, begegnungsoffen die Meinung anderer anzuhören; aber sie ist weit davon entfernt, fremde Ansichten zu übernehmen. Sie lässt sich nicht gern in ihre Karten schauen und hat bereits meist einen Beschluss gefasst, während andere noch versuchen, sie zu überzeugen.
Aus der Bankenkrise wurde eine Staatsschuldenkrise, die Eurokrise. Viele europäische Länder flüchteten unter die neuen EU-Rettungsschirme, um nicht an ihren maroden Finanzen zugrunde zu gehen. Es entstanden gewagte Überlebenskonstruktionen, mit vielen Pros und vielen Contras; und wer unter den Politikern von der europäischen Idee und einem in Frieden vereinten Europa überzeugt war, kämpfte für den europäischen Zusammenhalt. So auch Kanzlerin Merkel. Im Frühjahr 2010 sprach sie vor dem deutschen Bundestag zum ersten Mal den Satz aus: „Stirbt der Euro, stirbt Europa!“ Da war es wieder, dieses unabweisbare apodiktische Statement. Eine Behauptung ohne faktische Grundlage.
Behauptungstechnik, sagen die Argumentationsanalytiker, wie Politiker sie laufend anwenden, um die Gegenseite mundtot zu machen. Doch es steckt mehr dahinter.
Dieser Satz ist Ausdruck einer subtilen Durchsetzungsstrategie „das größere Übel vorgaukeln“. Ihr Ziel ist, angesichts der vertretenen Position eine neue Perspektive in die Betrachtung einzuführen, nämlich das größere Übel, das den ursprünglichen Nachteil als relativ klein erscheinen lässt. Aufgrund dieser Manipulation gerät einer schnell in den Sog der Zustimmung.
Also wieder Manipulation der öffentlichen Meinung.
Mit dieser Vorgehensweise kann jeder Anwender, auch die Bundeskanzlerin, zwei Vorteile für sich nutzen: Erstens, mit etwas Menschenkenntnis und Vertrautheit mit den geläufigen Angst-Kategorien lässt sich mühelos in jeder Situation ein größeres Übel ausdenken. Zweitens, geschickt und verantwortungsbewusst in Szene gesetzt, wird Sie so schnell niemand verdächtigen oder Ihnen nachweisen können, unfair gewesen zu sein und vielleicht etwas grundlos übertrieben zu haben. Im Gegenteil, indem Sie betonen, selbst auch nichts gegen die Konsequenz tun zu können, wird man Ihnen sogar dankbar sein für Ihre klaren Worte.
Aus der Eurokrise wird die spezielle Griechenlandkrise. Merkel zum ersten Rettungspaket im Herbst 2010: „Die beschlossenen Hilfen sind alternativlos.“
Sie zögert keinen Moment, den von ihr als richtig erkannten Weg zur Lösung durchzusetzen. Obwohl sie nun mit mächtigen Gegenspielern zu tun hat, Wirtschaftswissenschaftlern von Format, die in Fachkreisen ein hohes Ansehen genießen. Und die sie auch spüren lassen, dass sie sich nun nicht mehr nur in einem politischen Rahmen bewegt, sondern im Bereich ökonomischer Gesetzmäßigkeiten. Die sie aber auch fair beraten und nicht im Regen stehen lassen wollen. Merkel aber hat in Deutschland die breite Bevölkerung hinter sich und kann es sich leisten, sich über wirtschaftspolitische Ratschläge hinwegzusetzen. Und sie besitzt in der Regierung die Richtlinienkompetenz. Beides schützt sie, und das nutzt sie aus.
Merkel ist zu dieser Zeit auf der Höhe ihrer Macht. Ihre Beliebtheitswerte sind die höchsten von allen bekannten Politikern. Ihre Glaubwürdigkeit ist nicht mehr zu steigern, das Vertrauen zu ihr ist grenzenlos. Ihr Wort ist nahezu Gesetz. Nur wenige Kritiker und Zweifler trauen sich noch, ihr zu widersprechen. Sie werden sowieso nicht gehört. Die Bundeskanzlerin steht im Mittelpunkt des europäischen Geschehens. Eine Lösung der Eurokrise ist nur mit ihr möglich, nicht ohne sie. Jetzt gelingt es ihr sogar, ihre Mitspieler auf den von ihr favorisierten Weg aus der Krise einzuschwören. Mit ihrem Sparkurs setzt sie sich zunächst auf ganzer Linie durch.
Merkel nutzt ihre Macht und praktiziert ungehemmt ohne ausreichende Fachkenntnis und unabhängig von der konkreten Situation ihren Stil der hegemonialen Ignoranz-Attitüde, sogar auf dem Gebiet der Volkswirtschaft, einem Fach, das ihr wenig vertraut ist. Die Hybris der Macht – wie soll das weitergehen?
Der vorübergehende Schock „Fukushima“
Im Sommer 2011 erlebt die Welt die Katastrophe „Fukushima“. Die Kanzlerin hatte gerade im März die Laufzeit von Atomkraftwerken um Jahre verlängert, im Bewusstsein, dass nur ein allmählicher Umstieg auf erneuerbare Energien kostengünstig zu schaffen ist. Jetzt reagiert sie sofort mit einer Kehrtwende um 180 Grad und proklamiert umgehend den beschleunigten Ausstieg aus der Atomkraft. Wie es dazu gekommen ist, erklärt sie in einem Interview mit der ZEIT. Sie spricht von einem „Impuls, dass wir unsere Entscheidungen vom letzten Herbst noch einmal auf den Prüfstand stellen müssen.“
Noch einmal trifft sie eine einsame Entscheidung. Von ihren politischen Weggefährten ist keiner darauf vorbereitet. Kritik kommt hoch, sie ignoriert sie. Man wirft der Kanzlerin bis heute vor, Hals-über-Kopf reagiert zu haben, ohne die Entscheidung vom Ende her überdacht zu haben. Heute wissen wir, dass eine substantielle Analyse, wie man sie eigentlich von einer Physikerin erwarten darf, nicht existierte.
Es war eine Entscheidung aus dem Bauch heraus und zunächst ohne mehrheitliche Zustimmung. So handelt einer nur aus dem Gefühl großer Macht heraus. Während sie nach wie vor auf die Argumente anderer wenig Rücksicht nimmt, lässt sie sich jetzt immerhin durch signifikante Ereignisse wie der Atomkatastrophe Fukushima beeinflussen.
Die Griechenlandkrise dauert an. Während es der Kanzlerin in Deutschland noch gelingt, alle Entscheidungen dieser Krise ziemlich problemlos durch die politischen Instanzen durchzuwinken, baut sich in Griechenland eine mächtige Front auf. Diese bekämpft nicht nur die beschlossenen Maßnahmenpakete, sondern auch die Person, die dahinter steht, Merkel selbst. Erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung gerät sie auch in Deutschland sichtbar in die Kritik. Die Kritik an ihrer Position wird schärfer, die Einschläge kommen näher.
Die ihr nach dem Gesetz zustehende Richtlinienkompetenz verhindert, dass man über sie herfällt. Sie erkennt die neue Situation, spürt, dass man ihr jetzt nicht mehr jedes Statement abnimmt, und beginnt, auch die gegnerischen Argumente in ihren Lösungsansatz aufzunehmen: Zum Sparprogramm gehört jetzt auch, wer hätte das gedacht, ein Wachstumsförderungsprogramm. Angesichts wegbrechender Machtfülle ist es jetzt nicht mehr opportun, apodiktisch und unabweisbar, ohne die Sachlage und die Argumente der politischen Weggefährten zu beachten, einfach so die eigene Position zu verkünden. Merkel nimmt sich zurück und setzt auf das Kabinettsteam.
Nach Art. 65 des Grundgesetzes gehört es zu den Aufgaben der Bundeskanzlerin, die Grundlinien der Regierungspolitik zu bestimmen. Seit längerem ist vorherrschende Meinung, dass die Richtlinienkompetenz im demokratischen Politikgefüge als Instrument einer hierarchischen Führung nicht realisierbar ist. Umso mehr gewinnt das Kollegialprinzip an Bedeutung, wonach die von einer Situation und einem Vorgang Betroffenen, Bundeskanzler und die Kabinettsmitglieder, gemeinsam entscheiden. Ein Teamplayer war Merkel nie. Jetzt aber sucht sie die Geborgenheit der Gruppe. 2012 verliert sie ihren Titel als „mächtigste Frau der Welt“, ihre Nachfolgerin wird die First Lady der USA, Michelle Obama.
In der Folgezeit aber erholt sie sich, macht wieder Boden gut. In der weiter schwelenden Griechenlandkrise gelingt es ihr wieder, als visionäre Europäerin Pluspunkte zu sammeln und die politische Elite auf ihre Seite zu ziehen. Auf der deutschen Beliebtheitsskala erreicht sie erneut Höchstwerte. Ihr jungmädchenhafter Augenaufschlag und ihr sympathisches Lächeln, dazu die bescheiden wirkende Art ihres Auftretens, tragen sicher nicht unwesentlich dazu bei, dass viele Politiker sie – in der von Männern geprägten politischen Arena – wieder oder immer noch mögen.
Die Hybris der Macht: Jedes Maß geht verloren
Zurück zum August 2015. Ohne in Bedrängnis zu sein, entscheidet die Kanzlerin, Flüchtlinge ins Land zu lassen. „Das Asylrecht kennt keine Obergrenze“, das ist ihr neues Mantra. Sie wiederholt es bei jeder Gelegenheit. Und so kann niemand verhindern, dass in 5 Monaten mehr als eine Million Flüchtlinge die deutsche Grenze passieren. Angeblich oder offensichtlich hat kein Politiker mit dieser Entwicklung gerechnet. Auch Merkel nicht. So entsteht die Flüchtlingskrise.
Zum ersten Mal wird für alle unübersehbar sichtbar, was es bedeuten kann, wenn Politiker eine Situation falsch einschätzen oder sich gar nicht erst die Mühe machen, die Sachlage zu analysieren. Wenn sie sich über die Frage „Was wollen wir mit unserem politischen Handeln eigentlich erreichen?“ nicht den Kopf zerbrechen. Denn Politik lebt meist nur von Plänen, von Konzepten, von Lösungsansätzen für angebliche Fehlentwicklungen, die Handlungsbedarf signalisieren. Umso wichtiger wäre deshalb die öffentliche und offene Diskussion über die Situation und die Ziele, die sich die Gesellschaft setzen will.
Nicht einmal der unabweisbare Handlungsbedarf lag hier vor. Die Kanzlerin hat vermutlich aus einem Impuls heraus entschieden, in einer zunächst absolut harmlos wirkenden Situation. Kein Grund für ausgedehnte Konsultationen in ihrem Kabinett, in ihrer Partei. Kein Anlass für eine Debatte im Bundestag, und erst recht kein Grund für eine Stimmungsabfrage in der Bevölkerung. So konnte es passieren, dass niemand über mögliche Konsequenzen nachdachte.
Die Bundeskanzlerin hat einen klaren Akzent in die Welt gesetzt und im Rahmen ihrer Richtlinienkompetenz gehandelt. Für eine kollegiale Beratung zumindest in der Regierungskoalition sah sie vermutlich in dieser unproblematisch erscheinenden Situation keine Veranlassung. Dazu äußerte sich der verstorbene Ex-Kanzler Helmut Schmidt im September 1982 im Bundestag:
„Ich habe bisher, in über acht Jahren, von der Richtlinienkompetenz nach Art. 65 des Grundgesetzes keinen Gebrauch gemacht. Ich habe es vielmehr immer als meine Pflicht angesehen, große Anstrengungen auf das Zustandebringen von vernünftigen, praktisch brauchbaren, beiden Seiten gleichermaßen zumutbaren Kompromissen zu verwenden.“
Die Anwendung des Kollegialprinzips pur. Merkel neigt nicht dazu. Merkel kehrt zu ihren altbekannten Neigungen zurück: selbstherrlich, ignorant, apodiktisch, realitätsfremd, undemokratisch und manipulativ.
Negative Konsequenzen für Deutschland
Regierungshandeln aus dieser Haltung heraus löst nachhaltig keine Probleme, verzögert ihre Lösung oder schafft sogar neue. So lässt sich zu den vergangenen Entscheidungen nur festhalten: Die Bankenkrise schwelt weiter, nur wenig hat sich geändert. Eine persönliche Haftung für die, die die Bankgeschäfte zu verantworten haben, fehlt noch immer, für das Abtrennen des Investment Banking vom klassischen Bankgeschäft gibt es keine bindenden Vorschriften, und nach wie vor dürfen Banker immer neue Derivate erfinden.
Die Energiewende ist noch längst nicht erreicht, durch planloses unabgestimmtes Agieren der Parteien ist viel Zeit verloren gegangen, die Kosten steigen, und letztlich wird der Steuerzahler, den keine Lobby unterstützt, den Löwenanteil aller Aufwendungen tragen müssen.
In der Griechenlandkrise ist kein Ende abzusehen, im Gegenteil, die Situation hat sich verschlimmert. Hans-Werner Sinn, ehemaliger Chef des Ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, empfahl im Juni 2015 den Ausstieg Griechenlands aus dem Euro, angesichts der Tatsache, dass die Schulden Griechenlands in den zurückliegenden fünf Jahren von 48 Milliarden auf 330 Milliarden Euro angestiegen seien und sich die Arbeitslosigkeit im selben Zeitraum mit einem Zuwachs von 11 auf 26 Prozent mehr als verdoppelt habe. „Man findet keine besonderen Gründe, um das fortzusetzen.“ Angefangene Projekte, wohin man schaut, keines auf Dauer gelöst; und jedes für sich eine mögliche Zeitbombe für Deutschland.
Der Anfang vom Ende
In den letzten Monaten des Jahres 2015 schwillt der Zustrom an Flüchtlingen an. Er trifft Deutschland völlig unvorbereitet. Es fehlt an allem: Polizei für die Registrierung der Ankommenden, Beamte im öffentlichen Dienst für das Bearbeiten der Asylanträge, Unterbringungskapazitäten, Versorgungs- und Betreuungspersonal.
Nur eines überstrahlt alle Schwierigkeiten: die große Hilfsbereitschaft aller einbezogenen Beteiligten, vom einzelnen Polizisten über die Gemeinden und Behörden bis hin zu den vielen freiwilligen Helfern. Sie alle hängen sich rein, machen Überstunden und arbeiten bis zur seelischen und physischen Erschöpfung. Sie alle organisieren und improvisieren Tag und Nacht, um die sich in dieser Situation auftürmenden Aufgaben zu meistern. Sie alle fühlen sich der von der Bundeskanzlerin ausgerufenen Willkommenskultur verpflichtet. „Wir schaffen das!“
Ein letztlich unbedachter Satz, nicht gerade von Verantwortungsbewusstsein und Weitsicht geprägt. Die Kanzlerin fühlt sich geehrt und bestätigt, dass ihrer Aufforderung so viele Bürger folgen. ‚Ich habs doch gewusst, dass wir das schaffen‘, denkt sie vielleicht und wiederholt in der Öffentlichkeit immer wieder ihr Mantra „Asylrecht kennt keine Obergrenze“.
Die Wochen gehen ins Land und die Schwierigkeiten nehmen zu. Die Belastungen steigen dramatisch. Viele Akteure arbeiten am Anschlag. Und die Kritik an dieser Politik der „offenen Tür“ wird immer lauter. Sie kommt aus der Bevölkerung, die nie gefragt wurde, aus der Opposition, die übergangen wurde, aus der CDU, also der eigenen Partei, die nicht einbezogen wurde, aus dem Kabinett, das von Anfang an außen vorgelassen wurde.
Die Stimmung schlägt um. Eingehüllt in die Vorstellung von der eigenen Unfehlbarkeit, braucht Merkel noch eine gewisse Zeit, um die neue Situation zu realisieren. Und sie macht zunächst das, was in der Politik weit verbreitet zu sein scheint, wenn die Kritik zunimmt: Sie versucht, mit immer neuen Argumenten, ihre Position, ihre Sicht der Dinge zu retten. Sogar das „C“ im Namen ihrer Partei bemüht sie, um die Kritiker von der Notwendigkeit und moralischen Legitimität ihres Handelns zu überzeugen. Sie kämpft um die Anerkennung ihrer Position und verkrampft sich dabei, Starr- und Eigensinn nehmen rapide zu.
Da sich die Situation immer weiter verschlechtert, bleibt ihr nur übrig, sich die Realität wieder einmal zurecht zu konstruieren. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Wohlwollend könnte man von einer Vision sprechen, der sie folgt, in Wahrheit geht es wieder um einen gravierenden Realitätsverlust.
Die Kanzlerin steht unter Dauerbeschuss, der Koalitionspartner setzt ihr mächtig zu. Und die eskalierende Situation tut ihr Übriges. Stehvermögen hat sie, das muss man ihr lassen. Aber hat sie auch die Fähigkeit, einzusehen, dass es auf Dauer ungebremst so nicht weitergehen darf? Vielleicht würde ein einziges Wort von ihr reichen, dass sie die Situation unterschätzt habe, und alle würden aufatmen und sich entspannen; und könnten ihre ganze Energie und Konzentration auf eine einvernehmliche praktikable Lösung verwenden. Aber dieses kleine Eingeständnis fällt Politikern schwer, Ehrlichkeit in diesem Sinne passt nicht zu ihrem Selbstverständnis.
Zur Jahreswende 2015/2016 rudert die Kanzlerin aber zurück, sie begradigt ihre Argumentationsfront. Um nicht der Versuchung zu erliegen, feststellen zu müssen, dass eine Obergrenze vielleicht doch sinnvoll wäre. Nicht weil wir alle inhuman geworden sind, sondern weil uns sonst die Gesamtsituation aus dem Ruder läuft, fällt der Kanzlerin rechtzeitig ein, dass die Flüchtlingskrise ja eigentlich kein deutsches, sondern ein europäisches Problem sei und die Folge einer ungeschützten EU-Außengrenze; und dass die Aufnahme der Flüchtlinge nur über eine Verteilung auf die europäischen Länder gelingen könne.
Ein rettender Ausweg, um sich als Kanzlerin aus einer misslichen Lage zu befreien? Wie sich bisher zeigt, nein. Denn allen, die in der Vergangenheit unter der missionarischen Leitung Deutschlands gegen ihren Willen immer wieder zu europäischen Lösungen „gezwungen“ wurden, steht die Schadenfreude im Gesicht. Jetzt sitzen sie am längeren Hebel und können endlich mal wieder ihre nationale Unabhängigkeit demonstrieren. Sie schließen ihre nationalen Grenzen. Auch hier steht Merkel wieder vor einer Fehleinschätzung der Situation. Somit sind bisher alle ihre verzweifelten Versuche gescheitert, ihr Bild von sich selbst als einer der mächtigsten Frauen in der Welt zu retten, ohne die in Europa nichts entschieden werden kann, und nach außen ihr Gesicht zu wahren.
Die Frage drängt sich auf: Was war ihr Beweggrund, sich für die Aufnahme der Flüchtlinge so stark einzusetzen? War es einfach Mitgefühl? Die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung hat sie doch in all den Jahren auch nicht betroffen gemacht. Warum setzte bei ihr kein Umdenken ein, als Woche für Woche immer wieder weitere Tausende ins Land strömten? Dazu gibt es nur Mutmaßungen, die richtigen Antworten kennt nur sie.
Vielleicht war es wirklich einfach spontane Hilfsbereitschaft, ohne Kalkül und weit reichende Überlegungen. Angesichts der anfangs überschaubaren Situation ein verständlicher und ehrenwerter Impuls. Jedoch, diese Erklärung wirft keinen langen Schatten. Bei vollem Bewusstsein keine Obergrenze zu akzeptieren, hat vermutlich tiefer liegende Beweggründe. Zynisch wäre es, der Kanzlerin zu unterstellen, sie hätte nur mal prüfen wollen, wie groß ihre Macht ist und wie fähig ihre Bürger, die Deutschen, sind, diese Aufgabe zu stemmen.
Politischer Ehrgeiz könnte da schon eine treffendere Erklärung sein, der Ehrgeiz, diese grandiose Aufgabe bewältigen zu lassen. Dazu würde auch ihre sichtbare Weigerung passen, sich auf die immer drängender an sie herangetragenen Sorgen und Nöte der Polizei, der Kommunen und der Flüchtlingshelfer einzulassen und sich den realen Zuständen gegenüber nicht zu verschließen.
Bei einem Erfolg wäre ihr zudem ein herausragender Platz in den Geschichtsbüchern garantiert.
Merkel, beseelt von ihrer politischen Macht und Unfehlbarkeit, berauscht vom Größenwahn, verliert sich in totaler Selbstüberschätzung, nimmt die Realität nicht mehr wahr und lässt die kompetenten Ratschläge ihrer politischen Freunde an sich abprallen. Damit läutet sie selbst das letzte Kapitel ihrer grandiosen politischen Laufbahn ein.
Kein Platz für echtes Mitgefühl
In der Bewertung der Merkelschen Flüchtlingspolitik ist sich die internationale Presse nicht einig. Die Bandbreite der Kommentare reicht von „politischer Dummheit“ und „Selbstmord“ bis hin zu „menschlicher Größe“ und „großem Mitgefühl“ für die in Not Geratenen. Auch der analoge Vergleich mit Mutter Theresa fehlt nicht. Aber gerade eine solche Bewertung ihres politischen Handelns kann ernsthaft nicht überzeugen. Denn dem steht entgegen, dass sich Merkel in der Vergangenheit mehrmals auf Kosten notleidender Menschen mit unbeugsamer Härte durchzusetzen bemüht hat und das sehr erfolgreich.
Als sich im Winter 2015/2016 wieder Tausende von Flüchtlingen in Idomeni an der geschlossenen griechisch-mazedonischen Grenze. versammelten, war von einer einladenden großzügigen Geste unserer Bundeskanzlerin wie im August 2015 nichts zu sehen. Bei Temperaturen knapp über Null kämpften die Flüchtlinge um ihr Leben. Es waren mehr als 12.000, nicht zwei Drittel junge Männer, sondern zwei Drittel Familien, Frauen, Kinder, alte Menschen. Die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten und die Unterbringung durch Hilfsorganisationen und freiwillige Helfer war völlig unzureichend, viele Flüchtlinge waren krank, hatten Läuse, Fieber und Durchfall.
Trotz dieser katastrophalen Situation, trotz aller Bitten und Hilfeschreie, die Stimme der Bundeskanzlerin blieb stumm, kein Wort des Mitgefühls, keine Einladung, keine Maßnahmen, diese Menschen so schnell und unbürokratisch wie möglich nach Deutschland reisen zu lassen und damit zu retten. Merkel unterwirft zum wiederholten Mal, erst gegenüber dem Leid der Palästinenser, dann gegenüber den Flüchtlingen, jede menschliche Regung ihrem politischen Kalkül, ihrem Hang, sich selbst als machtvolle politische Persönlichkeit hochzustilisieren und im Bild der Öffentlichkeit zu verankern.
Der Offenbarungseid
Merkel versucht verzweifelt, von ihrem Nimbus zu retten, was noch zu retten ist, zuhause in der Koalition, an der europäischen Front bei ihren „Freunden“. In der Not frisst der Teufel Fliegen. Sie geht sogar als Bittstellerin zum türkischen Präsidenten. Die diskutierte Lösung ist alles andere als realistisch. Aber Merkels Realitätssinn, ihr Sinn für das auf längere Sicht sinnvoll Machbare, war noch nie ihre Stärke. Er ist ihr abhanden gekommen.
Es geht einzig und allein um ihre Person, um ihr Ansehen in der Welt. Die mächtigste Frau der Welt, das war sie mal. Alleinherrscherin, nicht angewiesen auf andere, die Zeiten sind vorbei.
Zunehmend merkt sie, dass sie allein nichts mehr bewegen kann; dass es nicht einmal mehr um ihr Ansehen geht. Jetzt geht es darum, noch ein einziges Mal Recht zu behalten, nur ein einziges Mal.
Es ist ein Schwindel erregender politischer Absturz, den sie jetzt durchlebt und den auch der Deal mit der Türkei nicht mehr kaschieren kann. Und die Chancen, diesen Absturz aufzuhalten, sind gleich null. Das ist der Anfang von einem Ende, das wohl niemand in dieser Form erwartet hat, sie selbst am allerwenigsten. Den Abgrund vor Augen, ist Merkel unfähig, ihr Verhalten zu verändern und ihrem Schicksal noch einmal eine glückliche Wende zu geben.
So wird Merkel zum Opfer ihrer eigenen Hybris, der Hybris der Macht: Unfähig, die Kompetenz anderer und die vorhandenen Realitäten anzuerkennen und zu nutzen; unfähig, ihre Selbstüberschätzung wahrzunehmen und ihre grenzenlose Ignoranz; und unfähig, in ehrlicher Demut und mit Dankbarkeit sich mit all ihren Fähigkeiten in den Dienst für andere einzusetzen.
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