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Die Herrschafts-Moral

Die Herrschafts-Moral

„Sünde“ ist ein erfundenes religiöses Marketingkonzept, das viele unterwirft und wenige schützt.

von Caitlin Johnstone

Der Begriff „Halitosis“ ist im US-amerikanischen Sprachgebrauch heutzutage sehr gebräuchlich. Es ist allgemein bekannt, dass das Wort einen unangenehm riechenden Atem bezeichnet. Aber wussten Sie auch, dass es seit nicht einmal hundert Jahren im Umlauf ist und nicht etwa im medizinischen Bereich, sondern von Werbetreibenden erfunden wurde?

In den 1920er Jahren machten sich die Menschen nicht so viele Gedanken über ihren Körpergeruch wie heute. Sie duschten bei weitem nicht so oft, verwendeten kein Deodorant, und manche körpereigenen Gerüche wurden nicht unbedingt als gesellschaftliche Katastrophe gesehen. Listerine, ein Familienunternehmen, das antiseptische Produkte herstellte, sorgte dafür, dass sich das änderte — und konnte so seinen Umsatz im Laufe von nur sieben Jahren von 115.000 auf acht Millionen Dollar steigern.

Die Anfänge der Marke Listerine gehen auf die 1880er Jahre zurück: Neben vielen anderen Anwendungen wurde es damals als Haushaltsreiniger, medizinisches Antiseptikum und zur Bekämpfung von Gonorrhoe verkauft. 40 Jahre später hatten der Firmeninhaber und sein Sohn die brillante Idee, einen hochtrabenden, nach einem medizinischen Problem klingenden lateinischen Begriff für „Mundgeruch“ zu suchen und ihn dann so zu vermarkten, als ob es sich tatsächlich um eine diagnostizierbare Krankheit handle, die das Sozialleben aller Menschen beeinträchtigt.

Sie entwarfen Werbeanzeigen, in denen Ehefrauen gesagt wurde, dass ihre Halitosis sie für ihre Ehemänner unattraktiv machen würde. Ehemännern wurde verkündet, ihre Halitosis sorge dafür, dass die Ehefrauen sie nicht küssen wollten. Jungen Frauen wurde gesagt, sie würden für immer unverheiratet und nicht begehrenswert bleiben, wenn sie ihren „unentschuldbaren“ Zustand nicht mit Listerine behandelten. Die Werbetreibenden gingen sogar so weit, Müttern einzubläuen, dass sich sogar die eigenen Kinder vor ihrem Atem ekeln könnten.

Und es funktionierte. Die Leute fingen in ihrer plötzlichen Verzweiflung an, viel Geld für das Produkt auszugeben, das sie von dieser schrecklichen Krankheit heilen sollte — eine Krankheit, von deren Existenz sie erst vor kurzem erfahren hatten. Das Unternehmen nahm ein Vermögen ein, indem es mithilfe von künstlich erzeugter Scham und Angst die Nachfrage nach seinem Produkt erschuf.

Diese Art der Werbung ist heute ganz normal — weil sie funktioniert. Müttern wird gesagt, dass sie ihre Kinder möglicherweise einer unnötigen Gefahr aussetzen, wenn sie nicht das Reinigungsmittel X verwenden. Vätern wird eingeredet, dass sie ihre Beschützerfunktion vernachlässigen, wenn sie nicht das Sicherheitssystem Y im Haus installieren. Ehefrauen und Freundinnen sollen wissen, dass ihre Geschlechtsteile unangenehm riechen könnten, wenn sie nicht das Damenhygieneprodukt Z kaufen. Bildschirme, Plakate und Zeitschriftenanzeigen erklären uns in einem fort: „Wussten Sie, dass Sie völlig mangelhaft sind? Ja, es stimmt! Aber keine Sorge: Mit dem Wunderheilmittel XY bekommen Sie das in den Griff!“ In den USA darf in Werbungen geradeheraus gesagt werden:

„Hey, hast du dich schon mal emotional nicht ganz ok gefühlt? Dafür gibt es eine Erklärung! Frag deinen Arzt, ob Medikament XY das Richtige für dich ist.“

Die Verbraucher werden dahingehend manipuliert, sich Sorgen wegen eines Problems zu machen, von dessen Existenz sie bis vor zwei Sekunden nicht einmal wussten, und dann die Lösung dafür zu kaufen.

Das Konzept „Sünde“ weist viele Ähnlichkeiten mit Listerines Marketingtrick auf — mit dem Unterschied, dass es so etwas wie Sünde im Gegensatz zu schlechtem Atem nicht wirklich gibt und dass die Lukrativität dieses Konzepts für diejenigen, die von seiner Erfindung und Verbreitung profitiert haben, natürlich exponentiell höher ist.

Die Sünde ist völlig frei erfunden, denn wir sind eigentlich ein Haufen Primaten mit verhältnismäßig großem Gehirn, die sich auf der Erde umherbewegen und die Folgen dieser Bewegungen erleben, nicht mehr und nicht weniger. Mir wurde während meiner katholisch geprägten Erziehung erzählt, dass alle Babys als Sünder geboren werden und dass ihre kleinen dunklen Seelen direkt in der Hölle landen würden, wenn der Priester dem nicht zuvorkommen und ihre trügerisch süßen kleinen Dämonenköpfe so schnell wie möglich in magisches Wasser tauchen würde.

Und das war bei weitem noch nicht genug: Man musste außerdem einen uralten Zombie aus Nazareth feiern, der von den Toten zurückgekehrt war, weil das unsere Sünden irgendwie für eine kleine Weile verschwinden ließ — natürlich nur, solange man jede Woche auftauchte, um in einer Art vorgetäuschtem Kannibalenritual das Blut des Zombies zu trinken und seinen Leib zu essen. Das Seltsamste daran war, dass ich das für völlig normal hielt. Schließlich war es die einzige Möglichkeit, kein Dasein als Sünder zu führen.

Wenn man diese Geschichten von der Macht des Glaubens entwirrt, dann wird das schon fast lächerlich transparente Marketingkonzept dahinter sichtbar.

„Sollen wir dir etwas verraten? Kennst du das, wenn du dich eigentlich so fühlst, als ob es dir im Grunde genommen gut geht? Nein, das tut es nicht! Denn du bist mit Sünde infiziert und nur die Eine Wahre ReligionTM kann dich davor retten! Es stimmt! Du kannst damit schneiden und schnippeln — und deine Seele vor dem ewigen Höllenfeuer bewahren! Ja, das ist die Eine Wahre ReligionTM! Befolge die Eine Wahre ReligionTM und du wirst von der Last der Sünde befreit. Außerdem wirst du an den besten Ort gelangen, den du dir vorstellen kannst — hüsteln —, wenn du tot bist. Weigere dich, die Eine Wahre ReligionTM zu befolgen, und all diese Sünde wird das Schlimmste verursachen, das du dir vorstellen kannst — also erst nachdem du tot bist, nicht jetzt sofort. Handle jetzt, die Vorräte gehen zur Neige! Das Körbchen für den Zehnten macht jetzt die Runde, kaufe dich noch heute ein in die Eine Wahre ReligionTM!“

Lächerlicher manipulativer Schwachsinn.

Natürlich wird der Glauben der Menschen an die Sünde nicht nur durch Angst genährt. Es kann auch befriedigend für das Ego sein zu glauben, dass die wahren Arschlöcher unserer Welt die Ewigkeit für ihre Verfehlungen in einem Zustand der immerwährenden Folter verbringen werden. Außerdem kann es sich in einer Welt, die ansonsten eine völlig grenzenlose und offene Improvisationsübung ohne ultimative Regeln oder Richtlinien ist, sehr beruhigend anfühlen, gesagt zu bekommen, was man zu tun oder zu lassen hat. Es ist angenehmer, nach einer Reihe von Richtlinien zu leben, für die man selbst keine Verantwortung trägt, sondern die einem von weit oben von einer unfehlbaren, allwissenden und allmächtigen Gottheit übergeben wurden, die dem Fundament unserer Realität zugrunde liegt.

Aber genau das ist es: Du bist verantwortlich. Du bist absolut verantwortlich dafür herauszufinden, wie du dich in diesem unendlich weiten Universum am besten zurechtfindest. Du kannst diese Verantwortung nicht auf irgendeinen Idioten mit einem lustigen Hut oder auf einen imaginären Schreinerzombie abwälzen. Sünde und Heiligkeit sind nichts als frei erfundene Schwachsinnkonzepte. Das heißt, dass das einzige wirklich relevante Verständnis davon, wie man sich in dieser Welt verhalten sollte, dein eigenes ist.

Diese Verantwortung kann furchteinflößend wirken. Doch sie ernst zu nehmen ist der erste Schritt, um uns zu der Art von Menschen zu entwickeln, die die großen Herausforderungen bewältigen können, die unserer Spezies bevorstehen.

Wenn man ein verantwortungsbewusstes Leben führt, kann man sich nicht auf die Regeln Anderer verlassen. Man muss sich ganz genau darüber bewusst sein, was einem wichtig ist, in welcher Art von Welt man leben will und wie man sein Leben gestalten möchte. Dann muss man Maßnahmen ergreifen, um diese Vorstellungen Realität werden zu lassen. Es gibt kein ultimatives, in den Stoff der Realität eingewebtes Recht und Unrecht — jeder muss das für sich selbst festlegen, basierend auf einem klaren Blick und dem, was man sich für seine Umgebung wünscht.

Die Leute sagen, wir wären alle nur ein Haufen hedonistischer Krimineller, wenn wir nicht daran glauben würden, dass es absolut richtige oder falsche Verhaltensweisen gibt. Das ist Unsinn. Wenn man die Möglichkeit hätte, einen Film zu drehen, in dem all das vorkommt, was man sehen möchte — er bestünde nicht aus Vergewaltigung, Mord und Zerstörung. Nein, man würde sein Bestes geben, aus dem Film ein Kunstwerk zu machen. Genau so ist es auch im echten Leben: Wir alle versuchen auf unsere Art und Weise, ein schönes Leben zu schaffen und einen Beitrag für eine lebenswerte Welt zu leisten. Wir setzen es uns nicht zum Ziel, andere Leute zu verletzen oder Dinge zu zerstören. Je klarer wir das sehen, desto geschickter werden wir darin, unser Leben so zu gestalten, wie wir es uns wünschen.

Ausgenommen davon wären wahrscheinlich nur Soziopathen, Psychopathen und Menschen mit anderen schweren Persönlichkeitsstörungen. Doch dieser Schlag Mensch hat ohnehin nie wirklich an die Sünde geglaubt, denn sie dient allein der gesellschaftlichen Manipulation und manipulative Menschen kann man nicht täuschen. Für einen Soziopathen ist das Konzept der Sünde nur insofern von Relevanz, als dass er sich dessen bedient, um zu bekommen, was er will. Nur emotional und empathisch „normale“ Menschen lassen sich von dem Konstrukt Sünde manipulieren.

Die weite Verbreitung des Konzeptes ist eine Folge der Art und Weise, wie wir psychologisch verdrahtet sind und wie diese Verdrahtung manipuliert wird. Das ist nicht nur in religiösen Kontexten der Fall: Auch in vielen anderen Bereichen wird mit ähnlichen Mechanismen an genau diesen Verdrahtungen herumgepfuscht. So ähnelte das einschüchternde Verhalten gemäßigter Demokraten gegenüber linksorientierten Parteimitgliedern, die im Vorfeld der US-Wahlen 2016 nicht hinter Hillary Clinton standen, in vielerlei Hinsicht einer Horde Kirchenfrauen, die eine der ihren niedermachen, weil sie die Kirche verlassen oder sich von ihrem Mann trennen will.

Die Zentristen sprachen zwar nicht von einem ewigen Leben in der Hölle, wohl aber davon, dass ein Wahlsieg Donald Trumps das Ende der Welt bedeuten würde. Das Problem war nicht etwa ein sündiges Verhalten gegenüber Gott, sondern der Ungehorsam gegenüber dem Einheitsdenken des liberalen Mainstreams. Doch trotz der Tatsache, dass sich das Vokabular des politischen Kontextes von dem des religiösen unterscheidet, finden in beiden Bereichen die gleiche Art der Manipulation und des herdengeprägten Mobbings statt. Das Konzept der individuellen souveränen Verantwortung wurde von der Kirche des blauen Esels vehement abgelehnt (der Esel ist das inoffizielle Wappentier der Demokratischen Partei der USA, Anmerkung der Übersetzerin).

Das Konzept Sünde wird — genau wie Werbung oder Propaganda — als Werkzeug zur gesellschaftlichen Manipulation eingesetzt, alle drei pfuschen an denselben psychologischen Drähten herum. Seit Beginn der Geschichtsschreibung haben die Reichen und Mächtigen alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt, um das Denken und Handeln der Menschen zu kontrollieren. Als die Religion noch mehr psychologisches Gewicht hatte, nutzte die Elite sie zur Legitimierung von Buchverbrennungen, Hexenverbrennungen und der Zerstörung all dessen, was die herrschende Ordnung gefährdete. Da die Menschheit aber gerade dabei ist, sich diese Plage vom Hals zu schaffen, nehmen Propaganda und Werbung jetzt ihren Platz ein.

Doch es ist immer ein und dieselbe Form der Manipulation, die gleiche Krankheit. Auch das Gegenmittel dafür ist immer dasselbe: Aus einer Perspektive der individuellen Souveränität beginnen alle Manipulationsversuche von außen aufzufallen wie eine schwarze Fliege auf einem weißen Blatt Papier. Indem man also fest dahinter steht, was man für richtig hält, welches Leben man zu leben versucht und was für eine Welt man helfen möchte zu gestalten, schafft man sich ein klares Bild von dem Weg, auf dem man sich befindet.

Mit diesem klaren Bild vor Augen kann man alle Versuche, von seinem eigenen Weg abgelenkt zu werden, als das erkennen, was sie sind: unerwünschte Einmischungen — egal, in welcher Form sie einem entgegentreten; ob als „Du bist ein Sünder, deshalb brauchst du Jesus“, „Du bist mit Mängeln behaftet und brauchst dieses Produkt“ oder „Vertraue dem Großen Bruder, er wird das Richtige für dich tun“. Wenn man sich seiner Verantwortung und seiner Vision der Welt bewusst ist, kann man die Manipulatoren abschütteln und den großartigen Ergebnissen, die man mit seinen Taten erreichen will, vertrauensvoll entgegenschreiten.


Caitlin Johnstone bezeichnet sich selbst als Schurkenjournalistin, Bogan-Sozialistin, Anarcho-Psychonautin, Guerilla-Poetin und Utopia-Prepperin.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Sin Is a Made-Up Religious Marketing Scheme“. Er wurde von Nadine Müller aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.


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