Christa Schaffmann: Können Sie sich vorstellen, dass auf dem Kongress so etwas wie eine linke Vision für das digitale Zeitalter sichtbar werden wird?
Prof. Dr. Friedrich Voßkühler: Das mit der linken Vision ist so eine Sache. Die Vision, die ich habe, ist der Sozialismus. Es ist die Vision von selbstbestimmten Menschen in einer nicht mehr vom Profitprinzip dominierten Gesellschaft. Die Digitalisierung taugt nicht als Vision, die man als Sozialist hat. Sie ist eine Art und Weise, mit sich selbst umzugehen, die strategisch von den Verwertungsinteressen des Kapitals bestimmt ist.
Was mit der Digitalisierung als Technik möglich ist beziehungsweise dann möglich sein wird, wenn wir beginnen, unsere wesentlichen Probleme zu lösen, das ist ein anderes Ding. Die sozialistische Vision läuft jedoch nicht über die Digitalisierung. Diese kann nicht an die Stelle unseres eigentlichen Ziels treten.
Ist Digitalisierung unter sozialistischen Bedingungen für Sie vorstellbar? Oder müsste man sie dann abschaffen?
Das Verfahren als solches abschaffen zu wollen, das wäre albern. Es handelt sich um ein bestimmtes Verfahren zum Umgang mit numerischem Denken. Da kann keine Gesellschaft hingehen und sagen: „Das wollen wir nicht und das verbieten wir“. Das wäre Nonsens. Man kann aber das Verfahren umwerten, denn es kommt ja auf den Menschenbezug an. Technik ist immer auch ein menschliches Verhalten, eine Art des menschlichen Selbstbezugs. Eine Verhaltensänderung macht Sinn, aber nicht die Negation dieser Technik!
Worin sehen Sie die entscheidenden Unterschiede zwischen der Industriellen Revolution im 18./19. Jahrhundert, als es um den Übergang von der Agrar- in die Industriegesellschaft ging, und der Digitalisierung heute?
Der Unterschied besteht ganz wesentlich in den benutzten Maschinen. Die industrielle Revolution hat Maschinen entwickelt, die durch Dampf, Verbrennungsmotoren und so weiter angetrieben wurden. Damals wurden Werkzeugmaschinen hergestellt, die mehr oder weniger das Handwerk ablösten, sodass man die Tätigkeit der Hand auf die Maschinen übertragen konnte. Die Digitalisierung ersetzt die Werkzeugmaschinen alten Typs. Die im engeren Sinne digitale Maschine ist nicht mehr in den materiellen Prozess einbezogen. Sie ist eine Simulationsmaschine, die über Programme die materiellen Maschinen steuert. Das ist ein riesiger Unterschied. Kurz gesagt: Die Industrialisierung bestand aus materiellen Prozessen, die Digitalisierung aber ist ein Prozess der Immaterialisierung.
Ein weiterer Unterschied ist der, dass sich die Industrialisierung im Kontext der Konzentration und Zentralisierung der materiellen Produktivkräfte entwickelte. Der Ingenieur war dabei die leitende menschliche Produktivkraft. Das ist heute so nicht mehr der Fall. Heute spielt die Programmierung die entscheidende Rolle. Die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft bleibt bei alledem das zentrale ökonomische Motiv. Da hat sich nichts verändert.
Kommen wir aber noch einmal auf den von mir eben benutzten Begriff der Immaterialisierung zu sprechen. Was ist unter ihm zu verstehen? Der Versuch, sich durch die Anwendung numerischen Denkens aus der Umklammerung durch die Materie zu lösen. Ich greife damit im Übrigen auf meine Weise Vilém Flusser auf.
Gleichwohl, das darf man bei alledem nicht vergessen, gehen Industrie und Digitalisierung heute — obwohl sie sich deutlich voneinander unterscheiden — Hand in Hand. Sie arbeiten zusammen, weil die Digitalisierung dazu benutzt wird, die materiellen Umformungsprozesse effektiver zu gestalten und die Ausbeutungsrate der menschlichen Arbeitskraft systematisch zu erhöhen.
Ihr Abstract im Kongressprogramm trägt die Überschrift „Kapitalismus, Schizophrenie, Digitalisierung“. Warum bringen Sie hier die Schizophrenie ins Spiel?
Es ist im Grunde der Diskussionsstand des „Anti-Ödipus“ von Félix Guattari und Gilles Deleuze, den ich da aufgreife. Diese beiden haben auf ihre Weise den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Schizophrenie darzustellen versucht.
Wenn Digitalisierung und Kapitalismus in dem Bestreben vereinigt sind, die Menschen zu entgegenständlichen und zu entwirklichen, sie also so weit als möglich von der Wirklichkeit loszubringen und sie im Sinne des Kapitals als „automatisches Subjekt“ beherrschbar zu machen, dann werden die Menschen von sich und der Welt, in der sie leben, abgespalten.
Diesen Abspaltungsprozess, der auch große Teile der Intellektuellen betrifft, versuche ich mit dem Begriff des Schizo zu fassen. Für mich ist das kein primär psychoanalytischer Begriff. Ich bin ein sich mit der marxistischen Politökonomie beschäftigender Philosoph. Mich interessiert unter anderem, was sich hinter psychologischen Begriffen an gesellschaftlicher Realproblematik verbirgt. Und wenn psychologische Begriffe dazu taugen, die gesellschaftliche Realproblematik zu beschreiben, dann benutze ich sie selbstverständlich.
Ich finde, dass der Schizo-Begriff sich ganz ausgezeichnet dafür eignet zu beschreiben, wie heute vermehrt die Virtualität an die Stelle der Wirklichkeit tritt. Im Alltag erleben Sie das zum Beispiel, wenn sie in Berlin mit der S-Bahn fahren. Da sitzen sich die Menschen gegenüber, starren auf ihr Smartphone, sprechen nicht miteinander und kümmern sich einen Dreck darum, woher das Brot für ihre Stulle, die Butter und die Wurst darauf kommen; abgesehen davon, dass viele von ihnen nicht mehr wissen, wie Rotkohl aussieht und wie man ihn zubereitet. Das ist die Entwirklichung, die ich meine. Die dort in der S-Bahn sitzen, fallen einem Entwirklichungsprozess anheim. Diesen Sachverhalt will ich mit dem Schizo-Begriff analytisch ansteuern.
Dieser Entwirklichungsprozess, der gleichzeitig ein Schizoidiesierungsprozess (Spaltungsprozess) ist, ist ein biopolitischer Akt. Was die revolutionäre Arbeiterbewegung einmal versuchte, nämlich die Menschen zu Herren ihrer eigenen Angelegenheiten zu machen, das können wir im Nachhinein als den frühen Versuch lesen, diesem verrückten — diesem verrückt machenden! — Prozess, schon im Ansatz entgegenzutreten. Und jetzt, da die revolutionäre Arbeiterbewegung eine Niederlage erfahren hat, ist der Kapitalismus dabei, diesen verrückt machenden Prozess auf breiter Front durchzusetzen. Dazu dient ihm unter anderem die Digitalisierung.
Aber, um dies noch einmal hervorzuheben: Ich argumentiere nicht per se gegen die Digitalisierung, sondern gegen die gesellschaftliche Form der Digitalisierung; gegen die Digitalisierung als biopolitische Maßnahme, um sich die arbeitende Bevölkerung gefügig zu machen.
Sie beziehen sich auf den französischen Philosophen Deleuze und den Psychoanalytiker Guattari und versprechen eine kritische Auseinandersetzung mit ihnen. Worauf dürfen die Kongressteilnehmer da gespannt sein?
Die beiden beschreiben den Kapitalismus als sich selbst produzierende und reproduzierende Maschine. Unter Aufbietung aller Kräfte versuche der Kapitalismus, den Schizo als Subjekt zu erzeugen. Darauf beziehe ich mich.
Deleuze und Guattari sind — mit meinen Worten formuliert — folgender Auffassung: Wenn das Kapital als objektiver Prozess nur noch eine Axiomatik kennt, die Axiomatik des Geldes, dann kennt es nur noch eine Axiomatik der reinen Quantifizierung. Und wenn sich diese Axiomatik in der Herrschaft des Kapitals als dem „automatischen Subjekt“ aller realen gesellschaftlichen Verhältnisse niederschlägt, dann erzeugt das Kapital eine Gesellschaftsform, in der alle qualitativen Ressourcen ihrer quantitativen Berechenbarkeit unterworfen werden beziehungsweise ihre Qualität verlieren.
Das erzeugt, wie Deleuze und Guattari sagen, eine ungeheure „schizophrene Ladung“, die Ausbreitung eines hegemonial werdenden Spaltungsirreseins. Deleuze und Guattari sehen darin den Grund für die Freisetzung des Unbewussten in einem bisher unbekannten Ausmaß. Losgelöst von allen qualitativen, materiellen Grenzen kann sich nun das Unbewusste als sich selbst produzierende und reproduzierende Maschine äußern, als ein einziger Prozess sich miteinander verkoppelnder Wunschproduktion.
„Es atmet, wärmt, isst. Es scheißt, es fickt“. Es „funktioniert überall, bald rastlos, dann wieder mit Unterbrechungen“. Wer? Das „Es“. Das schreiben Deleuze und Guattari. Und wenn das so ist, wenn der Kapitalismus das bewirkt, dann ist er eine sich von allen materiellen Begrenzungen befreiende Wunschmaschine. Diese Maschine setzt das Unbewusste frei und lässt die Gesellschaft durch es durchflutet und die Menschen durch es verkoppelt sein. Mag sein, dass diese Maschine auf ihre Explosion hindrängt, aber sie wird durch keine bewusste Steuerung zu beherrschen sein.
Was ist an dem zu kritisieren, was Deleuze und Guattari da sagen?
Dass sie die objektiven Gesetzmäßigkeiten der Kapitalakkumulation in das autonome Funktionieren einer Wunschproduktionsmaschine umtaufen, dass sie dem Kapital als „automatischem Subjekt“ den Charakter des alles bestimmenden „Es“ zuordnen, welches sich unter der Bedingung des Kapitals zu sich selbst befreit und nicht mehr zu beherrschen ist. Ich kritisiere, dass sie die Marx‘sche „Kritik der politischen Ökonomie“ psychologisch unterlaufen und im Grunde die Möglichkeit einer von der Hegemonie des Kapitals befreienden politischen Praxis negieren. Sie sind Protagonisten des nach 1968 nahezu üblich gewordenen Kotaus vor der Macht des Kapitals, Protagonisten der Kapitulation der Intellektuellen auf breiter Linie. In ihnen — und beileibe nicht nur ihnen! — kommt genau das zum Ausdruck, was sie als Befreiung des „Unbewussten“ interpretieren: das durch das Kapital aus strategischen Gründen geförderte gesellschaftliche Spaltungsirresein.
Flusser, auf den ich auch eingehen werde, sagt, dass in dem Prozess „vom Subjekt zum Projekt“ „alles um uns herum, Umwelt, Gesellschaft, Bewusstsein und damit alles in uns — Werte, Bedeutung, Entscheidung“ zerfallen würde. Das sei jedoch ganz und gar nichts Schreckliches. Denn damit fange das an, was per se wünschenswert sei. Was? Das Projizieren von Alternativen.
Genau das ist die, sagen wir einmal, „digitale Ideologie“, die Ideologisierung des Digitalen. Das numerische Denken, so Flussers Überlegung, zersetze zwar die Seinsgrundlagen, aber es ermögliche das projektive Computieren alternativer Welten. Diese alternativen Welten würden in der Tat nicht mehr auf der Wirklichkeitsauffassung von Marx beruhen, nicht mehr auf jener Wirklichkeitsauffassung, wonach wir Menschen uns in der Welt, die wir durch Arbeit selbst hervorbringen, verwirklichen. Das projektive Computieren entlaste uns von dieser allzu beschwerenden Wirklichkeitsauffassung und mache uns für die Welten unserer schöpferischen Einbildungskraft frei. Es sei ein Akt der Befreiung, der Welt und der Selbstschöpfung, jenseits des ganzen alten traditionellen Plunders.
Das sind für mich sowohl bei Guattari und Deleuze als auch bei Flusser nichts als Ausweichmanöver, mit denen sich bestimmte Intellektuelle den Problemen des Kapitalismus und ihrer Bewältigung mit — ich möchte es provokativ sagen — geradezu grandioser Geste zu entziehen versuchen.
Sie schreiben weiter, die Digitalisierung bewirke das Gegenteil von dem, was Marx unter dem reichen Menschen verstand und wofür die revolutionäre Arbeiterbewegung sich eingesetzt habe. Wie geschieht das?
Ich habe eine Vorstellung vom „reichen Menschen“, wie ihn Marx beschreibt und wie es darauf fußend Agnes Heller deutlich gemacht hat.
Marx sagt: Ein „reicher Mensch“ ist nicht der, der Zaster hat, nicht derjenige, der über Produktionsmittel und Finanztitel verfügt. Ein „reicher Mensch“ ist der, der seine Verwirklichungskräfte realisiert — der ein Haus baut, die Erde um Blühen bringt, eine Wissenschaft weiterentwickelt et cetera. Er ist „reich“, weil er an Fähigkeiten und Fertigkeiten „reich“ ist. Weil er das „höchste Bedürfnis“ empfindet — den anderen Menschen.
Beim frühen Marx ist dann noch von vielfältigen Naturbeziehungen als Zeichen wirklichen menschlichen Reichtums die Rede. Alls das ist für mich der marxistische Begriff des wirklichen Reichtums. Und ich halte ihn für normativ.
Die Voraussetzung ist, dass der, der jetzt verarmt ist, dem man alles weggenommen und den man „entfremdet“ hat, sich das alles wieder aneignet. Das Mittel, um das zu tun, ist eine demokratische und zentrale Planung der Güterproduktion, eine rationale Planung dessen, was, wo, zu welchem Zweck und wann gemacht wird. Das ist Rationalität, während der Kapitalismus Irrationalisierung bedeutet. Und zu dieser Irrrationalisierung gehört auch die Digitalisierung, solange sie unter kapitalistischen Vorzeichen stattfindet. Nur dann, denn wie man eine Dampfmaschine oder einen Hammer zu verschiedenen Zwecken nutzen kann — um jemanden zu töten oder um einen Nagel in die Wand zu schlagen —, können auch Digitalisierung und künstliche Intelligenz so oder anders eingesetzt werden.
Verstehe ich Sie richtig: Dem Kapitalismus als gesellschaftlicher Erscheinung wohnen bestimmte Gesetzmäßigkeiten inne und die sind verantwortlich dafür, dass die Digitalisierung in eine bestimmte Richtung geht? Verantwortlich dafür sind nicht Informatiker, Ingenieure, auch nicht Kapitalisten, sondern die Gesetzmäßigkeiten dieser Gesellschaftsordnung?
Auch wenn letztlich die von Ihnen genannten Gesetzmäßigkeiten die wesentliche Geige spielen, tragen immer noch die einzelnen Menschen die Verantwortung für das, was geschieht. Sie sind aufgefordert, sich dem Missbrauch ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten zu widersetzen und am gesellschaftlichen Kampf dagegen teilzunehmen.
Ich möchte aber noch etwas anders auf ihre Frage antworten. Wenn ich an der Universität in Philosophie Menschen ausbilde, die Informatiker oder Ingenieure werden wollen oder gar schon sind, dann sind das ja nun beileibe nicht meine Feinde. Ich muss ihnen helfen zu verstehen, warum sie darum kämpfen müssen, dass ihre Fähigkeiten nicht mehr ungehindert für das Kapital eingesetzt werden können. Sie sollen erkennen, dass sie systematisch durch die kapitalistischen Gesetze korrumpiert werden und sich nicht weiter korrumpieren lassen dürfen, auch wenn sie letztlich nicht darum herum kommen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Ich habe mich um ihre Zustimmung für die Einsicht zu bemühen, dass die ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten letztlich nur dann menschlich ausbilden können, wenn sie sich an dem Kampf gegen das Kapital beteiligen und ihn nach Möglichkeit gewinnen.
Heißt das, Sie werden in Ihrem Vortrag oder in der Diskussion auch so etwas wie eine Handlungsempfehlung geben?
Die größte Handlungsempfehlung ist die, an den laufenden Klassenkämpfen teilzunehmen! Tun wir dies, dann steht am Ende unserer Bemühungen vielleicht einmal der Sozialismus. Auf dem Weg dahin gibt es eine ganze Latte aktueller Themen, denen wir uns zu widmen haben, wie zum Beispiel die ökologische Krise, die wir jetzt erleben. Politisch bedeutet das für mich, dass ich mich in einer ökosozialistischen Initiative engagiere und an ihren Aktionen teilnehme. Es bedeutet, wenn möglich, bei den Kämpfen im Hambacher Forst anwesend zu sein und vieles anderes mehr.
Die Digitalisierung beschäftigt mich zwar sehr wohl, aber ich gehe nicht, wie ich schon sagte, gegen die Digitalisierung als Digitalisierung vor, sondern zum Beispiel gegen das Eigentum an Daten und Kenntnissen der numerisch gesteuerten Produktion durch kapitalistische Organisationen. Da bietet sich ja nun die Vergesellschaftung solcher Unternehmen geradezu an! Aber dazu, wenn wir dazu kommen, mehr in der Diskussion beim NGfP-Kongress.
Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.
Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.