Von Deborah Ryszka
Multikulti ist offiziell gescheitert, viele Migranten sind nicht integriert und leben in Parallelstrukturen. Für türkische Großfamilien und arabische Familienclans, die ganze Stadtteile unter ihrer Kontrolle haben, gelten anderes Recht und Gesetz als für deutsche Bürger. Doch was für viele ein überraschender Entwicklungsprozess ist, stellt aus soziologischer Perspektive die logische Konsequenz einer seit Jahrzehnten fehlgeleiteten Politik dar.
Dieser Umstand lässt sich nicht, wie mancher vermuten möchte, auf eine falsche Integrationspolitik reduzieren, also die Entscheidung zwischen Assimilation und multikultureller Integration. Vielmehr repräsentiert dieser Sachverhalt das übergreifende Scheitern einer von oben produzierten, systematischen Ungleichheit, nämlich jener zwischen gesellschaftlichen Gruppierungen, von Personen des Niedriglohnsektors über Angestellte der Verwaltung bis hin zu den bürgerlichen Sphären. Diese sozialen Prozesse produzieren und fördern gesellschaftliche Segmentierungen und folglich Diskriminierung. Der Versuch einer politisch verordneten Sozialintegration, die bis dato stattfindet, ist qua Anordnung zum Scheitern verurteilt.
Ein aktuelles Beispiel ist die Preisexplosion auf dem Wohnungsmarkt, beschleunigt durch den Immobilienankauf von Unternehmen in Kombination mit dem staatlichen Versäumnis, für neuen — sozialen — Wohnungsbau zu sorgen. Politische Versuche, diesem Anstieg der Mietpreise durch eine Mietpreisbremse entgegenzuwirken, blieben erfolglos, ja verschärften sogar durch gesetzlich geregelte Mieterhöhungen die Situation für Geringverdiener, da sie nur in Gebieten mit angespanntem Wohnungsmarkt gelten. Zudem stellen 15 Prozent Mieterhöhung eine verhältnismäßig deutlich höhere Belastung bei einer 500-Euro-Monatsmiete dar als bei 2.000 Euro.
Letztendlich führt diese Art von Politik zu einer Homogenisierung bestimmter Stadteile aufgrund des Selektionsmerkmals „Geld“ und fördert eine noch schärfere Segmentierung der Gesellschaft, in der noch weniger Berührungspunkte zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppierungen bestehen. Durch diese räumliche und geistige Isolierung wird der innere Zusammenhalt der unterschiedlichen Gruppierungen unterstützt, eine Durchlässigkeit zwischen ihnen zunehmend erschwert, Intoleranz gegenüber Andersdenkenden, -meinenden, -lebenden nimmt zu.
Soziale Undurchlässigkeit unterstützt soziale Ungleichheit und führt zu einer sozialen Refeudalisierung
Wie lässt sich dieses Dilemma der sozialen Ungleichheit erklären? Politisch fehlgeleitete Integration lautet hier die Antwort, wobei soziologische Theorien Auskunft geben. Soziologen differenzieren zwischen der System- und der Sozialintegration; erstere meint das Funktionieren des Gesamtsystems, der Gesellschaft, letztere den Einbezug der Akteure in dieses System.
Beide Arten der Integration können bis zu einem gewissen Grad unabhängig voneinander agieren, das heißt ein System kann trotz mangelnder Sozialintegration einzelner Akteure funktionieren. „Wenn (jedoch) die Interessen der Menschen nicht mehr bedient werden, wenn dadurch die Plausibilität der unterstützenden Orientierungen leidet und wenn dann schließlich die Herrschaft immer ‚repressiver‘ werden muß, damit das Ganze noch zu organisieren ist“, so äußert sich in den Worten des Soziologen Hartmut Esser hierin ein Symptom für den Zerfall des Systems (1).
Solch mangelnde Sozialintegration, von der es vier Varianten gibt, spielt gegenwärtig eine entscheidende Rolle und beinhaltet
- die Kulturation, das Wissen über Normen und soziale Drehbücher,
- die Plazierung, die gesellschaftliche Position eines Akteurs,
- die Interaktion, soziale Netzwerke und
- die Identifikation mit der jeweiligen Gruppierung (Wir-Gefühl).
Im Besonderen scheitert Integration am Aspekt der Plazierung. Hartmut Esser weiß: „Die soziale Integration über die Plazierung ist die wohl wichtigste Bedingung zur Erlangung von gesellschaftlich generell verwendbaren Kapitalien, insbesondere in der Form des ökonomischen Kapitals und des sogenannten Humankapitals (…).“ Die oben genannte Verfestigung sozialer Ungleichheiten und die hieraus resultierende Segmentierung der Gesellschaft, die Folgen der Nichtbeachtung bürgerlicher Interessen darstellen, unterminieren eine individuelle Plazierung einzelner Bürger und destabilisieren somit die Gesellschaft als Ganzes.
Erst eine ausgewogene Verteilung der Ressourcen nivelliert soziale Ungleichheiten und kräftigt die Sozial- und Systemintegration
Sich systematisch anhäufende misslungene Plazierungen bestimmter sozialer Gruppierungen in den gesellschaftlichen Randbereich, wie es gegenwärtig gehäuft zu sehen ist, fordern die systemische Integration heraus. Ähnlich wie bei der Integration von Migranten gilt auch hier nach Hartmut Esser, dass „(…) vor allem Beziehungen über die verschiedenen Märkte, die Waren- und die Arbeitsmärkte vor allem, die Orientierung an symbolisch generalisierten Medien, insbesondere die Systemintegration über das Medium des Geldes oder über die Ausübung staatlicher Herrschaft, etwa über die Gewährung von einigen Mindestrechten (und -pflichten), wie das Recht zum Aufenthalt und die Pflicht, Steuern zu zahlen“, den Zusammenhalt der Gesellschaft bewerkstelligen und das Fundament einer gelingenden Integration darstellen.
Diese Integration über den Mechanismus der verschiedenen Märkte wird auch als horizontale Integration bezeichnet, wie Hartmut Esser zeigt: „Die Akteure beziehungsweise die ‚Teile‘ des Systems haben übereinander keinerlei Weisungsbefugnis und sind nur über ihre Interessen und die Kontrolle der Ressourcen miteinander verbunden“. Mehr oder minder herrscht eine egalitäre Beziehung aufgrund einer materiell-sicheren Basis zwischen den Bürgern, ihre soziale Herkunft spielt keine Rolle, soziale Dominanzbeziehungen sind marginalisiert.
Eine primär von oben verordnete Umverteilung der Ressourcen kann das Problem der gescheiterten Sozial- und Systemintegration nicht lösen
Eine Steigerung der Sozialausgaben, von Hartz-IV über das Kinderbaugeld und der „Respekt“-Rente, wie sie gegenwärtig angestrebt und teilweise umgesetzt wird, stellt keine Lösung für eine gelingende Integration einzelner Bürger und einer Systemstabilisierung dar, sondern spitzt das Problem durch solch ein „Armutsmanagement“ zu, das einer systematischen Produktion menschlichen Elends gleicht. Gleiches gilt für die unzähligen Hilfsorganisationen. Obschon Obdachlosenunterkünfte, Bahnhofsmissionen oder Tafeln Millionen von Menschen helfen, unterstützen und verfestigen sie durch ihre Arbeit diese Unheilsmaschine der Antimenschlichkeit und befeuern eine Systemdestabilisierung.
Diese Art der vertikalen Integration nach Hartmut Esser, also „(…) wenn das Handeln der Akteure (beziehungsweise der Teile) über eine formale Organisation koordiniert ist“, ist folglich irreführend. Denn „(hier) gibt es Weisungsbefugnisse, und die Interessen der Akteure sind von normativen und gegebenenfalls sanktionierten Erwartungen überlagert, die meist an bestimmte Positionen als ‚Rollen‘-Erwartungen geknüpft sind (…).“ Diese verfestigten systematisch die vertikal-sozialen Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Gruppen.
Neben dem Einkommen und der Wohnlage betrifft dies auch politische Partizipation und mediale Repräsentation. So wird Schwulen, Lesben und Klimarettern mehr öffentliches und politisches Gehör geschenkt als den am Existenzminimum lebenden Kassiererinnen, den jungen männlichen Obdachlosen oder den Flaschen sammelnden Rentnern. Andererseits hilft es aus sozial- und systemintegrativer Perspektive nicht, wiederum diesen Gruppierungen ein Sprachrohr zu bieten. Da nicht alle Gruppierungen gehört werden können, werden somit die Positionen vertauscht, aber das Elend der sozialen Brandmarkung und der Ungleichheit bleiben weiterhin bestehen.
Vielmehr bedarf es einer Gleichheit, die „(…) die jeweils vorliegenden vertikalen sozialen Ungleichheiten schließlich auf die Individuen (bezieht) (…).“, das heißt die Bürger nicht primär nach ihrer sozialen Herkunft, ihrem Einkommen, ihrer öffentlichen Präsenz und so weiter be- beziehungsweise verurteilt. Andernfalls werden die sich etablierenden Kastenbildungen und Refeudalisierungen innerhalb der Gesellschaft unterstützt — zu Lasten des Systems und ihrer Akteure.
Das bedingungslose Grundeinkommen für alle wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung
Wie kann diesem Entwicklungsprozess einer sozialen und systemischen Sprengung entgegengewirkt werden? Auf individueller Ebene durch eine Chancengleichheit der Plazierung, also der gleichen Möglichkeiten zur Erlangung gesellschaftlicher Positionen und somit monetären Kapitals. Denn wie oben dargelegt, können soziale Umverteilungen das ursprüngliche Problem nicht lösen, stattdessen verstärken sie es. Obwohl eine Steuerreform verlockend klingt, beruht diese dennoch auf den nicht zielführenden Grundannahmen der sozialen Umverteilung.
Das bedingungslose Grundeinkommen könnte hier Abhilfe schaffen. Obwohl es einen staatlichen Eingriff in das Leben der Bürger darstellt, ermöglicht paradoxerweise erst dieses ihm die Verwirklichung des gesellschaftlichen Imperativs einer Individualisierung der Lebensführung. Statt Menschen in eine Bildungsspirale zu drängen und sie„von oben“ oktroyierte Fortbildungsprogramme zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit besuchen zu lassen, könnte jeder seinen individuellen Lebensentwurf verwirklichen. Der Soziologe Ulrich Beck beschrieb nicht umsonst in seinem Werk „Risikogesellschaft“ (2) die universitären Promotionsschulen als Verzögerungsanstalten der Arbeitslosigkeit. Wenn diese Entwicklung so weiter geht, wird es bald Professorenschulen geben — gesetzt den Fall, dass das System noch funktioniert.
Doch solche staatlichen Programme berücksichtigen nicht die individuelle Lebenswirklichkeit und sind auch nicht im Stande dazu, ebenso wenig wie es künstlich geschaffene Hürden sind, wie etwa der Numerus Clausus (NC) an den Hochschulen. Der NC berücksichtigt zum Beispiel weder das Lernniveau des jeweiligen Bundeslandes oder der jeweiligen Schule noch individuelle Ungerechtigkeiten bei der Notengebung, sei es durch Fehleinschätzungen durch die Lehrer oder finanzielle Zuwendungen der Eltern.
Mit der Abschaffung des NCs und der Einführung einer studentischen Aussortierung während des ersten Studienjahres aufgrund von Notenleistungen wären die Startbedingungen der Studenten gerechter als mit NC. So könnten Studenten mit schlechterem Bildungsniveau zumindest Defizite durch Eigenleistung nachholen und würden nicht von vorneherein durch den NC verdrängt. Individuelle Leistung würde sich wieder lohnen, das System wäre wieder stabiler.
Der systemische Big Bang kann noch gedämpft werden
Diese Lösungsvorschläge verdeutlichen, dass die von oben produzierte systematische soziale Ungleichheit und die hierdurch induzierte Systemdestabilisierung kein unabwendbares gesellschaftliches Schicksal — und lösbar sind. Erst eine Sozialintegration im Sinne einer Gleichheit der Bürger ermöglicht eine Systemintegration. Dass diese mit Reibungen ablaufen wird, ist in Anbetracht der jahrzehntelangen Verdrängung und Verschiebung sozialer Konflikte unvermeidlich. Essers Konsequenz lautet: „Es gibt eine Integration auch im Konflikt, gelegentlich sogar durch den Konflikt“. In Anlehnung an das Neue Testament bedeutet es: „Wer unter euch mit Verstand ist, werfe den ersten Stein.“
Quellen und Anmerkungen:
Literatur:
(1) Esser, H. (2000). Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 2: Die Konstruktion der Gesellschaft. Campus: Frankfurt a.M.
(2) Beck, U. (1986). Risikogesellschaft. Suhrkamp: Frankfurt a.M.
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