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Die Friedens-Verhinderer

Die Friedens-Verhinderer

Eine Befriedung der Ost-Ukraine liegt in weiter Ferne — vor allem, weil dem Westen ein schwelender Konflikt besser in die geostrategische Agenda passt.

Die deutsche Wirtschaft hofft auf den Abbau der Russland-Sanktionen. Aus diesem Grund legte der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft beim Normandie-Gipfel (N4-Treffen) einen milliardenschweren Wiederaufbauplan für die Konfliktregion vor. Die Aussicht auf das Geld sollte aus der Sicht der deutschen Wirtschaftsgrößen vor allem die ukrainische Seite zur Umsetzung des Minsker Abkommens motivieren.

Dieser Plan ist eine schöne, aber realitätsferne Vision. Man hält sich zwar an die Bestimmungen der Minsker Vereinbarungen auch nach dem N4-Gipfel unter der Teilnahme von Angela Merkel, Emmanuel Macron, Wladimir Selenskij und Wladimir Putin in Paris. Dies wird auch bei den weiteren Verhandlungen so bleiben, zumindest so lange, wie noch zwei Unterzeichner des Minsker Abkommens von 2015 an der Macht sind, nämlich Angela Merkel und Wladimir Putin. Eine offene Abkehr vom Minsker Abkommen würde für die beiden, mit Abstand erfahrensten Staatenlenker weltweit sowohl innenpolitisch als auch international einen Gesichtsverlust bedeuten.

Die beschlossene Waffenentflechtung an drei weiteren Orten und eine Waffenruhe bis zum Ende des Jahres (hoffentlich) wird dem Töten ein Ende setzen und der leidenden Bevölkerung im Kriegsgebiet ein Gefühl der Sicherheit geben. Ein dauerhafter Frieden ist es jedoch nicht, und nicht nur, weil die Waffenruhe nur bis zum Ende des Jahres vereinbart wurde.

Unter Frieden versteht man in Kiew, Berlin, Paris einerseits und in Moskau, Donezk und Lugansk andererseits offenbar unterschiedliche Dinge.

Deshalb demonstrieren die Ultra-Nationalisten vom Nationalen Korps und die ihnen ideologisch nahestehenden Rada-Parteien „Europäische Solidarität“, „Vaterland“ und „Stimme“ auf dem Unabhängigkeitsplatz und vor dem Präsidentenamt in Kiew gegen die „Kapitulation vor Russland“. Unter Kapitulation verstehen sie politische Schritte, die in irgendeiner Form eine Anerkennung der Rebellen bedeuten würden. Diese „roten Linien“ waren noch vor einigen Monaten von einer Reihe von westlich mitfinanzierten einflussreichen ukrainischen NGOs formuliert und öffentlichkeitswirksam platziert worden.

„Traut Russland nicht“

Die „roten Linien“ gibt es auch international. In EU- und NATO-Kreisen machte sich in den letzten Wochen die Befürchtung breit, dass der französische Präsident Emmanuel Macron mit seiner Initiative zu einem offenen Dialog mit Russland und seiner Kritik an der NATO ukrainische Interessen „vernachlässigen“ würde.

Das Hofieren des derzeit prominentesten antirussischen Aktivisten aus der Ukraine, Oleg Senzow, in Brüssel, Berlin und Paris ist ein Zeichen davon. Senzow, der wegen seiner Beteiligung an der Planung von Anschlägen auf der Krim im Frühjahr 2014 wegen Terrorismusvorwürfen in Russland verurteilt wurde, kam im September im Zuge des Häftlingsaustausches zwischen Russland und der Ukraine frei. Seitdem ist Senzow in den EU-Städten ein gern gesehener Gast.

Er wurde zunächst auf der Leipziger Messe und dann auf der hohen Tribüne des EU-Parlaments als Freiheitskämpfer von der Größe eines Nelson Mandelas gefeiert.

Ich glaube Putin nicht und rufe auch Sie auf, ihm nicht zu glauben. Russland ist der Aggressor. Sollte jemand auf die Idee kommen, Putin die Hand der Freundschaft auszustrecken, denken Sie an die 13.000 Toten in der Ukraine! (…) Unsere Jungs riskieren ihr Leben für unsere und Ihre Freiheit. Ruhm der Ukraine!“, sagte er und erntete stehenden Applaus.

Anschließend reiste Senzow nach Paris, wo er ähnliche Auftritte im französischen Staatsfernsehen absolvierte. Er nahm eine Urkunde über die Ehrenbürgerschaft entgegen und traf sich mit der Pariser Oberbürgermeisterin. Innerhalb weniger Wochen wurde er mit zahlreichen weiteren Preisen in europäischen Hauptstädten, darunter auch in Berlin, ausgezeichnet. Nach seinem Narrativ gibt es eine große Nachfrage.

Ukraine — militärischer Partner des Westens

Ob in Washington, Ottawa, Brüssel, Berlin oder Warschau — der „kollektive Westen“ sieht auch nach sechs Jahren nach dem als „Revolution der Würde“ verklärten Staatsstreich, die Ukraine als Trumpf in einem geopolitischen Spiel auf dem eurasischen Kontinent. Der aufgeflammte Nationalismus, die kulturfeindliche Politik der Verbote und die Verdrängung des Russischen — der Muttersprache von mindestens der Hälfte der Ukrainer — aus der Bildung, der Kultur, den Medien, dem öffentlichen und politischen Raum, die Ehrung von Nazi-Kollaborateuren sowie der staatlich tolerierte und teilweise mitgetragene verbale und physische Terror gegen Andersdenkende sind in der Ukraine zum festen Bestandteil der politischen Kultur geworden. Dies wird entweder verschwiegen oder als Kindheitskränkungen einer jungen Nation klein geredet, solange die prowestliche außenpolitische Ausrichtung der Ukraine nicht gefährdet ist.

Diese Politik soll bei den rotierenden Gesetzgebern in den Parlamenten und in den Augen der eigenen Bevölkerung im Westen nicht der „Versuchung“ zum Opfer fallen, die Beziehungen zu Russland zu normalisieren und eine Interessenbalance zu finden. Dabei wird bei der EU, der NATO, auf Thinktank-Konferenzen und in den Medien stets betont, dass die Ukraine ein Opfer Russlands sei. Dadurch soll das Bedürfnis geweckt werden, der Ukraine um jeden Preis, zur Not auch um den Preis der wirtschaftlichen Interessen, zu „helfen“. Dieses Argument liegt auch im Kern der NATO-Frage. Ohne die „russische Bedrohung“ verliert das Verteidigungsbündnis einen Feind, der den Unterhalt der enormen und teuren militärischen Infrastruktur rechtfertigen würde.

Wie zynisch es auch klingen mag: Die Beendigung der blutigen Phase des Konflikts im Osten der Ukraine würde dieses Propaganda-Bild abschwächen. Seit dem vorangegangenen N4-Treffen im Oktober 2016 in Berlin sind über 200 Zivilisten ums Leben gekommen — überwiegend im Rebellengebiet. Noch mehr Tote haben in dieser Zeit die Bewaffneten auf beiden Seiten zu beklagen.

Das hat die europäische Friedensdiplomatie offenbar nicht sehr gestört. Über drei Jahre lang war sie untätig, obwohl es durchaus Druckmittel gegen die Regierung in Kiew gibt. Denn dieser Konflikt wird aus der Kiewer Perspektive betrachtet. Man kann auch von einem Stellvertreter-Konflikt sprechen. Ein symbolisches Zeichen dafür ist die Behandlung von ukrainischen Soldaten in deutschen Militärkrankenhäusern. Inzwischen liegt die Zahl der Behandelten in einem dreistelligen Bereich.

Um den Konflikt zu lösen, müssen die Konfliktparteien miteinander sprechen. Nach drei Jahren haben sich die nicht anerkannten Donezker und Lugansker Volksrepubliken zu Proto-Staaten entwickelt, mit ihren eigenen Streitkräften, Polizei, Ministerien und Behörden. Der Krieg kostete über 5.500 Milizionären und über 3.000 Zivilisten, darunter knapp 100 Kindern, das Leben.

Wegen der wirtschaftlichen Blockade und einer militärischen Eskalationsgefahr ist die Region auf russische Unterstützung angewiesen.

Verteufelung statt Versöhnung

Kiew sieht in den Rebellen „Kreml-Schergen“ und weigert sich vehement, sich mit den Regierungsvertretern von Donezk und Lugansk an einen Tisch zu setzen. Präsident Selenskij bezeichnete während der Pressekonferenz in Paris mehrmals die von Kiew nicht kontrollierten Gebiete als „okkupierte Territorien“, obwohl dieser Wortlaut in dem Minsker Abkommen nicht vorkommt. Die Frage einer russischen Korrespondentin, ob er im Zuge der Konflikt-Regulierung die Vertreter der selbsternannten Republiken kontaktieren wird, negierte Selenskij. Er sagte, dass er ohnehin ständig mit den Menschen aus den „okkupierten Gebieten“ spreche. Damit meinte er jedoch jene, die mit den Behörden der „Separatisten“ nicht zusammenarbeiten.

Von Anfang an setzte Kiew seine Streitkräfte gegen dicht besiedelte Gebiete im Osten der Ukraine verfassungswidrig ein. Sollte es zu einer Aufarbeitung der Konflikt-Geschichte kommen, könnte die Frage der Verantwortung für die Tausenden Artillerietoten unter den Zivilisten in den Rebellengebieten international gestellt werden. Die Wahrheit, die ans Licht kommen kann, könnte das Opfer-Bild der Ukraine irreparabel beschädigen.

Wenn der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij von Frieden spricht, meint er Frieden unter den in Kiew formulierten Bedingungen. Wichtige Voraussetzung dafür ist die Entfernung aller „unpassenden“ Personen aus der Region — Menschen, die nicht „für die Ukraine“ sind. Ein populärer Blogger nannte diese „Separatisten“ unlängst „toxische Elemente“.

Mit diesen Bedingungen für eine „Rückkehr“ in die Ukraine wird in Donezk und Lugansk niemand einverstanden sein. Um eine mögliche Säuberung zu verhindern, ist Amnestie im Minsker Abkommen als einer der ersten Punkte festgeschrieben.

Mehrere 100.000 Soldaten der ukrainischen Streitkräfte waren durch ein Rotationsprinzip bereits an der Front. Viele haben ihre Kameraden verloren. Um sie herum hat die offizielle Propaganda einen Helden-Mythos gebaut. Sie seien Helden der Ukraine und Verteidiger der Heimat. In diesem Duktus sind die Gegner unversöhnliche Feinde — Okkupanten und Terroristen. Eine Konfliktbewältigung mit Amnestie und Versöhnung sind in diesem Diskurs nicht zu vermitteln.

Ukraine 2019: mit NATO in der Verfassung

Noch ein weiterer Aspekt macht das Minsker Abkommen faktisch nichtig, diesmal für die Vertreter der abtrünnigen Region. Seit Februar 2015, als das bis jetzt gültige Minsker Abkommen, das sogenannte Minsk II, unterzeichnet wurde, ist die Ukraine für die Unterzeichner aus Donezk und Lugansk ein anderes Land geworden.

Die Ukraine hat in diesen fünf Jahren Russisch von einer offiziellen Regionalsprache gesetzlich zu einer minderwertigen Sprache herabgestuft. Nun haben alle Sprachen der EU im weitgehend russischsprachigen Land mehr Rechte. Die Rebellion in Donezk und Lugansk richtete sich vor allem gegen die Angriffe auf die Sprache.

Auch die angestrebten Mitgliedschaften in der NATO und der EU sind bereits seit zwei Jahren Teil der ukrainischen Verfassung. Die Ereignisse um die Krim im Frühjahr 2014 haben gezeigt, dass dieser sicherheitspolitische und wirtschaftliche Aspekt enorme geopolitische Sprengkraft hat. Selbst nach Jahren der Kriegspropaganda in der Ukraine sind russisch geprägte Teile im Osten und Süden des Landes mehr an Russland als an der NATO orientiert. Dies gilt natürlich umso mehr für die Donbass-Region, die laut dem Minsker Abkommen als Gebiet mit „Sonderrechten“ in die Ukraine zurückkehren soll.

Auch in den grundsätzlichen geschichtspolitischen und humanitären Fragen haben sich die zwei ungleichen Teile des Landes in den letzten fünf Jahren auseinandergelebt. Das wissen auch die Mächtigen in Kiew. Sie wollen aber von ihrem prowestlich-nationalistischen Kurs um keinen Deut abweichen. Deswegen ist in der medialen Öffentlichkeit oft der Vorschlag zu hören, die Wählerstimmen den Donbass-Einwohnern zu entziehen.

Solche „undemokratischen“ Schritte sind für die Einhaltung des derzeitigen Status quo aber nicht nötig, wenn man die Lösung des Konflikts für eine absehbare Zeit, möglicherweise für Jahrzehnte, aufschiebt. Deshalb schlägt Kiew vor, dass das Einfrieren des Konflikts nach Art des Zypern- oder gar Israel-Szenarios denkbar sei. „Wir werden eine Mauer im übertragenen Sinne bauen und weiterleben, sollte sich Russland bei Friedensverhandlungen nicht einsichtig zeigen“, sagte ein ukrainischer Regierungsvertreter vor wenigen Tagen in London.

Parallele mit Transnistrien

In dieser Hinsicht ist jedoch ein anderer Vergleich interessant — der Konflikt um den nicht anerkannten Staat Transnistrien. Seit nunmehr 27 Jahren ist der Konflikt nach einem kurzen Krieg im Sommer 1992 eingefroren. Nach dem Aufflammen des moldawischen Nationalismus Ende der 1980er Jahre erklärte Transnistrien sich noch als Subjekt des UdSSR-Rechts von der sowjetischen Teilrepublik Moldawien für unabhängig.

„Wir haben aus unseren Fehlern der vergangenen 25 Jahre gelernt“, sagte der moldawische Ex-Minister für Reintegration Wassili Schowu in einem RT-Gespräch, als er von der Annäherung zwischen den Außenmächten Russland, EU und USA bei der Lösung der transnistrischen Frage sprach.

Seit vielen Jahren herrscht zwischen den beiden Landesteilen Normalität, die Betriebe in der Industrieregion Transnistrien können ihre Geschäfte mit der EU nach moldawischem Recht abwickeln, und die Einwohner Transnistriens nehmen an den Wahlen in Restmoldawien teil, wobei knapp die Hälfte von ihnen mittlerweile auch den russischen Pass besitzt.

Mit der Teilnahme an den Wahlen konnten sie vor drei Jahren dem russlandfreundlichen Präsidenten Igor Dodon zum Sieg verhelfen. Nach den Parlamentswahlen im Februar 2019 zog die Partei der Sozialisten, deren Vorsitzender Dodon bis zu seiner Wahl war, als stärkste Kraft ins Parlament ein. Russische Friedenstruppen in einer 1.000-Mann-Stärke befinden sich in Transnistrien im Einklang mit internationalem Recht.

Dieses Muster der Konfliktbewältigung, das der Nachbar der Ukraine Moldawien zeigt, ist derzeit für die Machthabenden in Kiew inakzeptabel. Der an Neonazismus angrenzende ukrainische Nationalismus hat im ukrainischen Staat zu große Wurzeln geschlagen und verhindert grundsätzlich jeden politischen Dialog mit den ideologischen Gegnern. Außerdem hat der Konflikt in und um die Ukraine, wie oben bereits erklärt, immer noch eine große geopolitische Brisanz.

Und das ist für die zwischen der militärischen Trennlinie und der russischen Grenze eingeklemmten vier Millionen Menschen im Donbass eine schlechte Nachricht. Sie müssten sich auf jahrelanges politisch-diplomatisches Hinziehen um die staatliche Zugehörigkeit ihrer Region einstellen und damit auf Jahre der internationalen Nicht-Anerkennung, Sanktionen und damit verbundener Verletzung ihrer Menschenrechte. Denn ohne eine Klärung der rechtlichen Status-Frage kann es in der kriegsgeschüttelten Region keine wirtschaftliche Entwicklung und keine Bewegungsfreiheit geben.

Doch sollte die in Paris wieder vereinbarte Waffenruhe endlich und diesmal dauerhaft einkehren, so dass nicht mehr auf zivile Gebiete geschossen wird, ist es auf jeden Fall eine gute Nachricht.


Quellen und Anmerkungen:

Dieser Text erschien zuerst auf RT Deutsch.


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