Ich möchte kein Journalist sein. Mir wäre die Verantwortung zu groß. Nun gut — Ärzte und Architekten haben auch große Verantwortung, aber eine Verantwortung von anderer Natur: Fehler zeigen sich direkt und sind als Fehler erkennbar, wenn der Patient tot oder die Brücke eingestürzt ist. Bei Journalisten ist es schwieriger: Erstens können sie sich nicht immer sicher sein, dass das, wovon sie berichten, auch wirklich stimmt. Und zweitens wissen sie nicht, was sie mit dem, was sie berichten, beim Einzelnen und in der Gesellschaft auslösen. Nicht umsonst heißt der Journalismus die vierte Gewalt.
Journalisten helfen uns anderen, uns eine Meinung zu bilden, indem sie das, was sie recherchieren, so darstellen, dass wir uns einen Überblick über die verschiedensten Themenkreise verschaffen können und durch die Gestaltung ihrer Beiträge auch für die Motivation sorgen, dass wir das tun. Andererseits gehören Journalisten auch zu uns Menschen und dürfen daher auch eine Meinung haben.
Es wäre abwegig zu fordern, dass es eine völlig objektive Berichterstattung gibt, in der die eigene Meinung nicht mehr vorkommt. Daher sollten Journalisten, die an unserer Meinungsbildung mitwirken, sehr sensibel dafür sein, wie sie ihre eigene Meinung bilden und wie sie das, was sie recherchiert haben, vermitteln.
Meinungen als solche sind irrelevant. Was zählt, sind die Begründungen. Journalisten können uns mit Begründungen helfen, denn wir sind nicht mehr in der Lage, alles selbst zu überprüfen. „Ich bin der Meinung, dass der Mond aus grünem Käse besteht“ ist eine irrelevante Meinung, weil der Mond nun einmal nicht aus grünem Käse besteht. „Alle Schwäne sind weiß“ ist eine irrelevante Meinung, da es schwarze Schwäne gibt. Dennoch galt sie eine Zeit lang als wahr — so lange, bis jemand einen schwarzen Schwan auf den Tisch stellte (1, 2).
Stellen wir uns aber vor, dass vor der Entdeckung der schwarzen Schwäne ein Journalist Folgendes geschrieben hätte: „Es gibt doch tatsächlich immer noch Leute, die behaupten, dass es auch schwarze Schwäne geben könnte. Dabei ist niemals irgendwo auf der Welt ein schwarzer Schwan gesehen worden. Diese Leute verschließen sich den Erkenntnissen der Wissenschaft. Genauso könnten sie behaupten, dass der Mond aus grünem Käse besteht.“
Wir wissen, dass es schwarze Schwäne gibt. Wir könnten aber auch ohne dieses Wissen sagen, dass die Verknüpfung der Aussagen zwar suggestiv ist, aber nicht richtig, indem wir sicher wissen, dass der Mond nicht aus grünem Käse besteht. Das Beispiel erscheint weit hergeholt, aber es kommt bis heute im Journalismus vor, etwa in der Aussage, dass, wer an die Wirkung von Homöopathie glaube, auch daran glauben könne, dass die Erde eine Scheibe sei (3).
Es ist keinem Journalisten — keinem Menschen — möglich, solche Irrtümer wie den mit den schwarzen Schwänen vollkommen auszuschließen. Aber es gibt gute Recherche und es gibt die Möglichkeit, ausgewogen zu berichten, etwa so:
„Die Zoologen sind sich weitgehend einig, dass es auf dieser Welt keine schwarzen Schwäne gibt. Aber eine Minderheit erwägt die prinzipielle Möglichkeit, dass es irgendwo doch schwarze Schwäne geben könnte. Dass der Mond nicht aus grünem Käse besteht, wissen wir, das andere wissen wir nicht sicher.“
Journalisten sind keine Experten, außer für Journalismus, auch wenn sie sich auf das eine oder andere Fachgebiet spezialisieren mögen. Sie brauchen daher Hilfe von Experten, am besten von Wissenschaftlern. Zwar würde ich, wenn man mich fragte, nicht genau sagen können, was ein Wissenschaftler eigentlich ist, aber nehmen wir den Begriff einfach so, wie er in der Mainstream-Presse zumeist gebraucht wird: Ein Wissenschaftler verfügt über gesichertes Wissen.
Dem möchte ich nicht zustimmen. Wenn dem so wäre, gäbe es keine Entwicklung der Wissenschaft und es gäbe auch es keinen Streit mehr in der Wissenschaft. Die Wirklichkeit ist aber anders: Im Gegenteil ist der Streit zentraler Bestandteil der Wissenschaft. Wir können uns nur durch diesen Streit ein wenig mehr der Wahrheit annähern (4). Wenn nun ein Journalist meint, diesen Streit nicht in seinem Bericht abbilden zu müssen, so taugt er nicht als Übersetzer der wissenschaftlichen Ergebnisse in Äußerungen, die für uns alle verstehbar sind.
Ich halte es für eine gute Idee, dass jemand, der nicht selbst Experte für eine gewisse Fragestellung ist, möglichst viele Experten befragt und nicht nur diejenigen, die seiner bislang unbegründeten Meinung entsprechen. Das gilt nicht nur für Journalisten, sondern für alle, die wissen wollen, was los ist. Es gilt aber für Journalisten in stärkerem Maße, weil sie uns anderen sagen wollen, was los ist. Das ist immer noch kein sicheres Heilmittel gegen Irrtümer. Ein solches gibt es wahrscheinlich nicht und ich glaube sogar, dass das gut so ist, dass Irrtümer gut sind. Gäbe es ein solches Heilmittel und würden wir es alle einnehmen, so würden wir alle gleich und würden zufrieden dasitzen wie die Eloi — bis uns die Morlocks holen (5). Aber es kann vor Verirrungen und Moden, die sich replizieren, bis sie scheinbar zur Wahrheit werden, ein wenig schützen.
Sollte man nur die wissenschaftlichen Experten zu einem Thema befragen oder auch jene, die mit dem gleichen Thema gewisse persönliche Erfahrungen gemacht haben? Das ist schwierig. Die Methodik der Wissenschaftler ist wahrscheinlich allgemeingültiger; der persönlichen Erfahrung haftet der Geruch des Subjektiven an. Ich will zwei Beispiele geben: eines, in dem die wissenschaftlichen Ergebnisse mit der subjektiven Erfahrung übereinstimmen und eins, bei dem beide Seiten gegensätzlich sind:
- Es wurde wissenschaftlich festgestellt, dass die Hilfe, die Großmütter ihren Töchtern bei der Betreuung derer Kinder geben können, mit der Entfernung der beiden Wohnorte abnimmt (6). Die subjektive Erfahrung der Beteiligten wird sehr wahrscheinlich dasselbe besagen.
- Es wurde wissenschaftlich festgestellt, dass es kein prämenstruelles Syndrom gibt — oder jedenfalls sagt die „Übersetzung der entsprechenden Studie“ in der „Qualitätspresse“ eben das aus (7). Das dürfte mit den subjektiven Erfahrungen vieler Frauen nicht übereinstimmen.
Ich könnte jetzt davon reden, dass solche Studien zweifelhaften Wert haben, weil die Evidenz von vornherein dafür spricht, dass es so ist — oder eben nicht so ist. Ja, Sie lesen richtig: Ich schreibe von Evidenz. Evidenz bedeutet ursprünglich im Deutschen, dass eine Sache so klar ist, dass sie keines Beweises bedarf. Ich gebe zu, dass diese Auffassung ein paar Fallstricke hat. Aber dieser Evidenz-Begriff ist okkupiert worden vom englischsprachigen Begriff „Evidence“, der geradezu im Gegenteil den Beweis meint — und der auch ein paar Fallstricke hat. Dadurch entsteht einige Verwirrung. Aber damit müssen wir uns nicht aufhalten.
Was mir aber sehr wichtig ist, das ist die Relativität der Wissenschaft, speziell der Naturwissenschaft und ihrer Aussagen. Für all das möchte ich zwei Beispiele geben, mit denen sich wiederum weitere grundsätzliche Fragen verbinden. Ich weiß, dass diese Beispiele schlecht gewählt sind, weil das, was ich mit ihnen sagen will, so sehr dem „Common Sense“ widerspricht, dem Common Sense, wie er gerade durch den sogenannten „Qualitätsjournalismus“ erzeugt wird. Aber ich gebrauche diese Beispiele gerade deswegen. Bei dem dritten Beispiel, das nicht Teil dieses Beitrags ist — der Homöopathie —, ist es noch ein wenig anders ...
1) Klima
Ich muss vorausschicken, dass ich davon überzeugt bin, dass wir Menschen durch den von uns verursachten CO2-Ausstoß einen Beitrag zur Erderwärmung leisten und dass es daher notwendig ist, diesen stark zu reduzieren. Ich frage mich aber auch, woher diese Überzeugung kommt. Eins ist klar: CO2 ist ein Treibhausgas. Das kann man experimentell nachweisen. Daran habe ich keinen Zweifel.
Die erste Frage ist, welche Bedeutung dieser menschengemachte Einfluss gegenüber anderen Faktoren hat. Das kann ich nicht beurteilen, sondern ich kann nur den mathematischen Modellen trauen, die ersonnen wurden, um solches nachzuweisen. Gut, ich traue diesen Modellen beziehungsweise diesen Wissenschaftlern — mit einem kleinen Hintergedanken, dass bei solchen Modellen auch hinten das rauskommen könnte, was man will, wenn man es entsprechend gestaltet. Das heißt, ich glaube an die Wissenschaft und habe das Vertrauen, dass das schon alles stimmen wird — mit einer gewissen Skepsis im Hinterkopf, die daherkommt, dass ich schon ein wenig weiß, wie es in der Naturwissenschaft so läuft. Ich habe ein paar Jahre naturwissenschaftlich gearbeitet.
Es wird in der „Qualitätspresse“ immer wieder betont, dass 95 Prozent der Wissenschaftler — manchmal ist auch von 97 Prozent die Rede, und ich glaube, sogar von 99 Prozent gelesen zu haben — sich einig sind, dass der Klimawandel menschengemacht ist. Das ist dann das schlagende, wirklich schlagende, totschlagende Argument, dass dem tatsächlich so ist.
Mir ist allerding nicht bekannt, dass Wissenschaft eine demokratische Angelegenheit ist und schon gar nicht, dass die Wahrheit durch einen demokratischen Mehrheitsentscheid ermittelt werden kann.
Die Anwendungen und Auswirkungen wissenschaftlicher Temporärwahrheiten und Techniken sind hingegen durchaus dem demokratischen Mehrheitsbeschluss zugänglich. Es ist zum Beispiel die eine Sache, Genmanipulationen vornehmen zu können, aber eine andere Sache, ob wir, die wir nicht zu den Leuten gehören, die das können, auch wollen, dass die Leute, die das können, das auch tun.
Nebenher ein Zitat von Friedrich Dürrenmatt:
„Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, die Auswirkung alle Menschen. Was alle angeht, können auch nur alle lösen. Jeder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern“ (8).
Aber zurück zum Klima. Ich war dabei stehengeblieben, dass die Tatsache, dass die Mehrzahl der Wissenschaftler einer Meinung ist, nicht die Wahrheit dieser Meinung begründen kann. Am Ende des 19. Jahrhunderts war es verbreitete Meinung, dass die Physik abgeschlossen sei, dass es in ihr keine neuen Erkenntnisse mehr geben könne. Tatsächlich. Dann kam Einstein, dann kam Heisenberg, dann kamen... Ich wäre nicht in der Lage, die Namen auch nur annähernd vollständig aufzuschreiben.
Ich habe nur eine sehr geringe Ahnung von Physik, aber es scheint mir doch so zu sein, dass die Physik längst nicht abgeschlossen ist. Das Mehrheitsargument ist streng genommen zu verwerfen, andererseits erzeugt es doch das wohlige Gefühl, dass es recht unwahrscheinlich ist, dass die Mehrheit irrt — was naturgemäß eben jene nicht gern anzweifeln, die der Mehrheit beziehungsweise dem Mainstream angehören. Und dieses wohlige Gefühl wird vom „Qualitätsjournalismus“ ausgenutzt.
Als zweites zum Klima-Thema möchte ich die Ungleichbehandlung der Argumente im Mainstream-Journalismus kritisieren. Wenn ich behaupte, dass die Jahresdurchschnittstemperatur an dem Ort, an dem ich lebe, im letzten Jahr stark unterdurchschnittlich war, dann stimmt das — oder auch nicht. Man kann das durch Messungen nachweisen. Würde ich von dieser Beobachtung ausgehend behaupten, dass es keinen globalen Temperaturanstieg gibt, könnte man mich zu Recht der Verwechslung von lokal und zeitlich begrenztem Wetter mit dem Klima bezichtigen. Das ist auch völlig richtig.
Andersherum ist das nicht so. Es ist in der Mainstream-Presse — leider — durchaus legitim, einzelne lokale und zeitlich begrenzte Wetterphänomene auf den globalen Klimawandel zurückzuführen. Als es im Sommer des Jahres 2017 Starkregenfälle gab, erschien ein Online-Artikel mit dem Titel: „Ja, das ist der Klimawandel“ (9). Dem Artikel war ein Diagramm beigegeben, aus dem hervorging, dass diese Starkregenfälle über die Jahre gesehen gar nicht außergewöhnlich waren.
Bild 1: Niederschlagsmengen.
Dennoch sind die interviewten Wissenschaftler der Meinung, dass diese Starkregenfälle auf den Klimawandel zurückzuführen seien. Es stellt sich die Frage, woher sie dieses Wissen haben. Aus der Statistik sicher nicht. Aber es passt „intuitiv“ einfach gut. Und es passt auch den Reportern gut. Sie schwimmen im Mainstream.
Als Drittes möchte ich über das Treibhausgas Kohlendioxid schreiben. Es ist für mich ohne jeden Zweifel richtig, wenn wir den Ausstoß an CO2 so weit wie möglich verringern. Was mich nervt, sind die sehr, sehr unterschiedlichen Modellrechnungen. Ich las einmal, ein Flug von Frankfurt nach Madrid würde pro Passagier mit 600 Kilogramm CO2 zu Buche schlagen. Letztens las ich, dass auf einem Flug von Berlin nach Barcelona 1250 Kilogramm freigesetzt würden (10). Was ist nun richtig?
Man kann das mit Hauptschulwissen und Wikipedia ausrechnen: Wenn man eine Boeing 737 annimmt, die Reichweite und die Tankkapazität in Betracht zieht sowie die bei Wikipedia angegebenen Werte der CO2-Freisetzung von Kerosin, und wenn man weiter annimmt, dass in der 737 nur 100 von circa 180 Plätzen besetzt sind, kommt man auf einen tatsächlichen Wert von circa 200 Kilogramm pro Passagier.
Das Geheimnis liegt darin, dass der CO2-Ausstoß von Flugzeugen generell verdreifacht wird; man sollte also eher von CO2-Äquivalenten reden. Dafür gibt es Gründe, denn in Form von Stickoxiden und Wasserdampf werden auch noch andere Treibhausgase frei, die diese Verdreifachung möglicherweise rechtfertigen — ich kann es wiederum nicht beurteilen, sondern nur vertrauen. An dieser Stelle wären weitere Fragen angebracht, etwa die Frage, ob Wasserdampf in Form von Wolken eher für Erwärmung oder Abkühlung der Erdoberfläche sorgt, und wenn es mehr zur Erwärmung tendiert, ob die immer wieder geäußerte Forderung, es sollten endlich Flugzeuge mit Wasserstoff als Treibstoff entwickelt werden, so aufrecht zu erhalten ist.
Um diese Zusammenhänge zu erfahren, muss man ordentlich recherchieren. Die Informationen, die wir von der „Qualitätspresse“ erhalten, müssen in diesem Beispiel als teilweise falsch bezeichnet werden. Und es entsteht notwendig die Frage, warum denn denjenigen, die diese Klima-Fragen anders sehen und Argumente dafür haben, in der „Qualitätspresse“ kein Raum gegeben wird. Beantworten kann ich diese Frage nicht, weil ich von diesem Thema zu wenig verstehe.
2) Impfung
Von Impfungen verstehe ich ein wenig mehr als von Klimamodellen, denn ich habe irgendwann eine Facharztausbildung für Immunologie erfolgreich abgeschlossen und 12 Jahre auf diesem Gebiet gearbeitet. Wie gerade eben bei dem Klima-Thema zunächst mein Statement: Ich bin überzeugt davon, dass der gesundheitliche Nutzen von Impfungen den möglichen Schaden deutlich überwiegt. Ich bin hingegen nicht überzeugt, dass es ein Gremium gibt — ich meine die STIKO — die Ständige Impfkommission —, welches diesbezüglich im Besitz der Wahrheit ist und daher bestimmen kann (oder will), was richtig ist.
Ich sehe davon ab, die Verschränkungen der 18 Mitglieder der STIKO mit den Herstellern von Impfstoffen zu thematisieren, weil das meine investigativen Fähigkeiten überschreitet. Ich bin ja auch kein Journalist. Ich gehe dennoch im Großen und Ganzen davon aus, dass die Empfehlungen der STIKO nicht grob falsch sind. Es geht hier auch nicht um eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung des Für und Wider von Impfungen, sondern es geht mir darum, wie sich diese Problematik innerhalb der „Qualitätsmedien“ widerspiegelt. Und das ist traurig.
An der Spitze steht meines Erachtens die von einem Qualitätsmedium veröffentlichte Äußerung des Herrn von Hirschhausen, Impfskeptiker seien „asoziale Trittbrettfahrer“ (11). Dies ist menschenverachtend, weil es nicht berücksichtigt, dass viele der Impfskeptiker einfach nur skeptisch sind, aber das Beste wollen. Da gibt es den äußerst fragwürdigen Begriff der „Herdenimmunität“.
Fragwürdig finde ich diesen Begriff deshalb, weil ich mich nicht als Teil einer Herde fühle, sondern als Individuum, das sich gleichwohl als Teil einer sozialen Gemeinschaft empfindet. In einer Herde hingegen hat der Einzelne kein Mitspracherecht, sondern muss tun, was der Pastor (Hirte) bestimmt — beziehungsweise sein Erfüllungsgehilfe, der Schäferhund — auf Spanisch „Pastor alemán“. Dennoch ist es im Falle der Pocken gelungen, diese Herdenimmunität herzustellen, mehr noch: die Pocken auszurotten, sodass weltweit keine Pockenimpfung mehr vorgenommen werden muss. Bei Polio sind wir immerhin in der Nähe.
Impfskeptiker werden in der „Qualitätspresse“ ständig als Vollpfosten in der Nähe zur Kriminalität dargestellt. Und immer wieder wird das gleiche Argument gebraucht: Diese Vollpfosten glauben doch tatsächlich daran, dass Impfungen Autismus auslösen, was längst widerlegt ist. Okay. Ich glaube daran, dass die Widerlegung der Autismus-Hypothese stichhaltig ist. Aber vielleicht ist es nicht ganz richtig, die Impfskepsis mit nur zwei Argumenten anzugreifen: der Herdenimmunität und der Unrichtigkeit der Autismus-Hypothese. Aber genau so geschieht es regelmäßig in der „Qualitätspresse“. Was nicht geschieht, ist die Darstellung anderer Argumente. Wieder gilt, dass „die Wissenschaft“ festgestellt hat, dass ... und so weiter. Auf einer — wie ich meine, nicht sehr glaubwürdigen — Website (12) gibt es eine merkwürdige Grafik, die vom statistischen Bundesamt stammen soll:
Bild 2: Sterbefälle Masern Deutschland 1961-2011.
Ich glaube dem nicht so recht. Aber wenn die Daten stimmen, spricht das sehr dafür, dass die Masernimpfung kaum einen Einfluss auf die Todesfälle an Masern hat. Eine ähnliche Grafik kenne ich auch für die Diphtherie. Nun ja, die Grafik könnte auch gefälscht sein. Aber wenn sie doch stimmt? Daran schlössen sich verschiedene Fragen an, vor allem die Frage, wieso in den „Qualitätsmedien“ eine solche Grafik nicht auftaucht. Ist es einfach nur schlechte Recherche oder gibt es andere Gründe? Über die Natur dieser anderen Gründe mag ich nicht spekulieren, denn ich möchte keine Behauptungen aufstellen, für die ich keine Belege habe. Nebenher bemerkt, wäre es eine äußerst interessante Frage, wodurch, wenn nicht durch die Impfung, dieser enorme Rückgang der Masern-Sterblichkeit denn entstanden ist.
Es gibt tatsächlich ein paar vernünftige Gründe, aus denen man Impfungen gegenüber eine gewisse Skepsis zeigen kann. Ich will sie hier nicht aufzählen, weil es an dieser Stelle darum nicht geht. Dennoch: Warum werden die Impfskeptiker in der „Qualitätspresse“ nicht gehört, sondern als — nun ja — Vollidioten angesehen? Sind es mittlerweile wirklich die Journalisten, die so etwas entscheiden? Es gäbe noch ein drittes Beispiel, von dem ich wesentlich mehr verstehe als von den eben genannten: die Homöopathie. Aber das überschreitet das Ziel dieses Beitrags und wird vielleicht demnächst ein eigenes Thema werden.
Vorerst möchte ich zusammenfassend Folgendes formulieren: Wir alle haben das Recht auf eine eigene Meinung und deren Äußerung. Niemand hat aber das Recht, einzufordern, dass andere zuhören. Journalisten sind Leute, die anderen Leuten, die etwas zu sagen haben, dabei helfen können, gehört zu werden. Es gibt nicht viele andere Möglichkeiten — außer dem Besitz von ziemlich viel Geld.
Es ist also eine wichtige Aufgabe für Journalisten, zu entscheiden, wer gehört werden sollte und wer nicht — diese Macht ist es, die mich zu der Überzeugung bringt, dass ich auf keinen Fall Journalist sein möchte.
Wenn man dieser Macht einigermaßen — ich meine, dass mehr als „einigermaßen“ nicht geht — gerecht werden möchte, sollte man, von Abstrusitäten abgesehen, zu jedem Thema verschiedene und auch konträre Meinungen hören und auch darstellen.
Es gibt niemanden, der im Besitz der Wahrheit ist. Wahrheit entsteht vielmehr — mindestens — zu zweit (13). Das bedeutet auch, dass Wahrheit immer etwas Entstehendes ist. Wer den Dialog ablehnt, ist an der Wahrheit nicht interessiert.
Buch des Autors zum Thema: Dieter Elendt, „Sagen, was ist. Versuch eines Laien zum gegenwärtigen Journalismus“, Norderstedt 2019, ISBN 9783749434817.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Das Beispiel mit den Schwänen stammt von Karl Popper: „Logik der Forschung“ (1934), hat aber eine längere Geschichte. Meines Wissens geht es auf David Hume zurück. In jüngster Zeit ist es unter einem leicht anderen Aspekt wiederbelebt worden durch:
(2) Nassim Nicholas Taleb: „Der schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse“, 2008
(3) https://www.netzwerk-homoeopathie.eu/faq/38-frueher-dachte-man-doch-auch-die-welt-waere-eine-scheibe — Dies ist nur ein Beispiel für jenen Vergleich, der häufig auftaucht. Zu sagen ist dazu, dass entgegen der Meinung der Autorinnen auch im Altertum die Auffassung, die Erde sei eine Scheibe, nicht sehr verbreitet war.
(4) Popper, wie unter (1) zitiert
(5) Gemeint ist Herbert George Wells: „Die Zeitmaschine“, erstmals erschienen 1895
(6) https://www.welt.de/wissenschaft/article188628173/Menopause-Grossmuetter-sind-fuer-Familien-sehr-wichtig.html — Original-Artikel (englisch) unter: https://www.cell.com/current-biology/fulltext/S0960-9822(19)30029-6
(7) Leider konnte ich den Artikel aus der „Qualitätspresse“, in dem ich das zuerst las, nicht mehr auffinden. Dem interessierten Leser und der interessierten Leserin sei als Ausgangspunkt der Recherche eine andere Seite empfohlen: http://antisexismus.de/pms
(8) Friedrich Dürrenmatt: „Die Physiker“, 1961, Uraufführung 1962
(9) https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2017-07/starkregen-dauerregen-wetter-klimawandel-regen-meteorologie
(10) „Die Kosten des Reisens“ (ohne Autorenangabe): Philosophie-Magazin 04/2019, S. 11
(11) https://www.welt.de/debatte/kommentare/article175833877/Eckart-von-Hirschhausen-Wer-sich-nicht-impfen-laesst-ist-ein-asozialer-Trittbrettfahrer.html
(12) https://impfen-nein-danke.de
(13) Hannah Arendt: „Apologie der Pluralität“, 2016
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