Mit der Demokratie ist es eine vertrackte Sache. Alle Staatsgewalt, sagt man, geht vom Volke aus. Aber wo geht sie hin? Was genau bedeutet „Herrschaft des Volkes“? Dass alle herrschen? Aber über wen herrschen sie dann? Wiederum über alle, lautet die Antwort, also über sich selbst – ein theoretisches Dilemma, das schon Aristoteles bewusst war. Auch praktisch türmen sich enorme Schwierigkeiten auf. Was Bertolt Brecht über den Kommunismus sagte, das gilt auch für die wörtlich verstandene Demokratie: Sie ist das Einfache, das schwer zu machen ist.
Wie ist die demokratietheoretische Diskussion der letzten hundert Jahre mit dem skizzierten Dilemma umgegangen? Vereinfacht gesagt lautete ihre Parole: Weniger Demokratie wagen! Sie neigte dazu, der politischen Weisheit des Volkes zu misstrauen. Wirkmächtige Autoren wie Gaetano Mosca, Vilfredo Pareto, Robert Michels oder Joseph Schumpeter legten die konzeptionellen Grundlagen dessen, was wir heute als „demokratische Elitenherrschaft“ bezeichnen.
Womit wir auf ein neues Dilemma stoßen. Denn inwiefern kann eine Elitenherrschaft demokratisch sein? Das Argument ihrer Befürworter ist einfach: Das Volk bestimmt in allgemeinen, freien, gleichen und geheimen Wahlen seine Repräsentanten. Und die regieren dann – oder herrschen. Doch die so ausgewählten Eliten handeln nicht völlig losgelöst vom Wahlvolk; sie sind geerdet, rückgekoppelt. Denn schon bald stehen erneut Wahlen an, und die Eliten wollen bestätigt werden. Also wäre es unklug, wenn sie die politischen Präferenzen des Volkes oder großer Bevölkerungsteile ignorierten. Was das Volk will, so die Theorie, fließt ins Regierungshandeln ein, findet zumindest Berücksichtigung. Und wenn nicht, folgt ein Strafgericht des Volkes – und neue Eliten kommen ans Ruder.
Nimmt man Abraham Lincolns berühmte Definition – er beschrieb Demokratie als „government of the people, by the people, for the people“ –, dann ist offenkundig, dass sich die Theorie demokratischer Elitenherrschaft auf den letztgenannten Aspekt konzentriert: für das Volk. Das System beruht auf der „responsiveness“, also der Ansprechbarkeit oder Empfänglichkeit der Regierenden für die Wünsche und Forderungen der Regierten. Der italienische Politikwissenschaftler Giovanni Sartori spricht in diesem Zusammenhang von „Output-Demokratie“, also von einer Demokratie, die dem Volk nützt oder es zufriedenstellt. Und er unterscheidet sie vorteilhaft von der „Input-Demokratie“, die auf immer stärkere Beteiligung beziehungsweise Partizipation des Volkes an den Entscheidungsprozessen setzt (1).
Es ist keineswegs so, dass die Verfechter der Output-Demokratie von ihren Gegnern und Kritikern nicht herausgefordert oder unter Begründungszwang gesetzt worden wären. Im Gefolge der Protestbewegungen in den 1960er Jahren etwa wurden die Begriffe „Demokratisierung“ oder „Demokratisierung aller Lebensbereiche“ zu Schlagworten.
Turnusgemäße Wahlen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass in vielen gesellschaftlichen Bereichen Reformbedarf bestand. An den Fabrik- oder Kasernentoren, so wurde geargwöhnt, ende die Demokratie. Unter Demokratisierung verstand man einen Prozess hin zu mehr Partizipation, mehr Transparenz, mehr Machtkontrolle. Der Begriff Demokratie wurde mit Diskussion, Reform oder Veränderung assoziiert. Erreicht werden sollte das über eine Stärkung der Input-Seite. In Deutschland griff Willy Brandt entsprechende Forderungen in seiner ersten Regierungserklärung auf. Er wolle „mehr Demokratie wagen“, versprach der neue Kanzler.
Walter Lippmann nimmt in der Kontroverse zwischen den Verfechtern von Input- und Output-Demokratie eine Position ein, die es schwer macht, ihn zweifelsfrei zuzuordnen. Auf den ersten Blick scheint die Sache eindeutig zu sein: Aus einem elitären Elternhaus stammend, in Elitenkreisen verkehrend und ihnen zugehörig, war er ein scharfsinniger Anwalt eines elitären Demokratieverständnisses. Zudem kombinierte er diese elitäre Konzeption mit technokratischen Überlegungen, die seinerzeit nicht nur in den USA en vogue waren.
Lippmann ging es nicht nur um einen möglichst vorteilhaften Output, sondern auch darum, Regierungshandeln zu rationalisieren, zu versachlichen, zu entideologisieren. Wenn man, so seine Erwartung, „unabhängige“ Experten einbeziehe, sich die „objektive“ Wissenschaft dienstbar mache, parteilich ungebundene Informationsbüros schaffe, dann könne man planen, steuern, krisenhafte Prozesse frühzeitig erkennen und gestalten.
Wie er sich das konkret vorstellte, erläuterte Lippmann anhand eines – leicht skurrilen – Beispiels:
„(…) dem Abdruck vergleichender Statistiken über die Säuglingssterblichkeit (folgt) oft ein Zurückgehen der Sterblichkeitsquote von Säuglingen. Städtische Beamte und Wähler hatten vor der Veröffentlichung in ihrem Bild von der Umwelt keinen Platz für diese Kinder. Erst die Statistiken machten sie sichtbar, so sichtbar, als ob die Säuglinge einen Ratsherrn gewählt hätten, um ihre Beschwerden an die Öffentlichkeit zu bringen“ (2).
Der Vorschlag, fachlich kompetente Einrichtungen zu kreieren, die den Regierenden Daten und Informationen präsentieren, auf deren Grundlage sie dann rationale oder, wenn man so will, „sachlich richtige“ Entscheidungen treffen können, hat erst nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere in den 1960er und 70er Jahren, breiten Widerhall gefunden. Begriffe wie Planung, Steuerung, Prognose, Kybernetik oder Verwissenschaftlichung hatten seinerzeit einen positiven Klang und fanden Eingang in politische Prozesse. Dies natürlich auch vor dem großen Hintergrund der Ost-West-Systemkonkurrenz, von der damals noch keineswegs absehbar war, welche Seite am Ende die Oberhand behalten würde.
Wie viele andere Anwälte elitärer Demokratiekonzeptionen warnte Walter Lippmann eindringlich vor den vermeintlichen Gefahren und Illusionen einer Input-Demokratie. Doch zugleich – und das ist seine große Stärke und erschwert zugleich seine eindeutige Zuordnung – blieb er sich der Fallstricke der von ihm präferierten Output-Demokratie lebhaft bewusst.
Wo verbergen sich diese Fallstricke? Letztlich in der fragwürdigen Vorstellung einer „responsiveness“ der Regierenden gegenüber den Regierten. Denn: Was sollte, was könnte Eliten, die nach Legitimation suchen oder wiedergewählt werden möchten, davon abhalten, die Wünsche und Forderungen der Bevölkerung zu manipulieren? Und zwar so zu manipulieren, dass die Bevölkerung genau das fordert und wünscht, was der Elite vorschwebt? Dass sie sogar – im Extremfall – gegen ihre ureigenen Interessen handelt?
Das probate Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, heißt Propaganda. Aus Sicht der Herrschenden mag sie „notwendig“ sein. Aus demokratietheoretischer Perspektive sieht das völlig anders aus. Auf Dauer kann Propaganda demokratische Prozesse zersetzen und pervertieren. Echte Demokratie und Propaganda sind prinzipiell unvereinbar (3). Zugegeben, so explizit formuliert Lippmann das nicht. Aber es dürfte kaum zu bezweifeln sein, dass er die demokratiegefährdende Wirkung von Propaganda frühzeitig erkannt hatte.
Auch wenn diese Aussage spekulativ ist: Es ist sehr wahrscheinlich, dass Walter Lippmann, würde er heute leben, zu dem Schluss käme, dass manche seiner Erwartungen an die Output-Demokratie getrogen haben, viele seiner Befürchtungen hingegen eingetroffen sind. Und es ist kaum anzunehmen, dass er an seiner elitär-technokratischen Demokratiekonzeption unter heutigen Bedingungen weiter festhielte.
Eine derartige Entwicklung hatte sich bereits zu Lebzeiten Lippmanns angedeutet. Trotz aller Übereinstimmung mit den Hauptlinien der US-Politik muss man festhalten: Aggressive, imperiale Außenpolitik und repressive, elitäre Innenpolitik auf Kosten der Bevölkerungsmehrheit oder diverser Minderheiten waren seine Sache nicht.
Daniel Ellsberg berichtet zum Beispiel, dass Lippmann während der Kuba-Krise frühzeitig die Möglichkeit ins Spiel brachte, den Sowjets entgegenzukommen und die US-Raketen in der Türkei abzuziehen – was dann tatsächlich geschehen ist, heute aber nur selten erwähnt wird (4). 1968 wiederum, so David Talbot, hat Lippmann den charismatischen Bobby Kennedy ermuntert, sich um die Präsidentschaft zu bewerben (5).
Noch wichtiger: Lippmann war ein früher Kritiker des Vietnam-Kriegs, wobei er seine Einwände im privaten Kreis noch schärfer artikulierte als in seinen Zeitungskolumnen. Damit zog er sich nicht nur den Zorn des damaligen Präsidenten Lyndon Johnson zu. Auch viele seiner Freunde wandten sich von ihm ab, verließen verärgert sein Haus oder kamen Einladungen zu seinen legendären Partys nicht mehr nach. Lippmann zog sich frustriert aus Washington zurück und übersiedelte nach New York (6).
Wie würde Lippmann, der an die Kraft guter Argumente glaubte, dem an Rationalität und zivilen Umgangsformen lag, den Zustand der USA heute beurteilen? Gewiss nicht so wie Bundespräsident Steinmeier, der kürzlich in einem Vortrag das hohe Lied auf die amerikanische Demokratie anstimmte und nicht anstand, „Demokratie“ und „Amerika“ in eins zu setzen (7).
Schon zu Lippmanns Lebzeiten gab es nüchterne und wenig schmeichelhafte Analysen der realen Machtstrukturen im politisch-ökonomischen System der USA, etwa durch C. Wright Mills (8). Diese Strukturen treten seither immer deutlicher zutage (9). Selbst der frühere Präsident Jimmy Carter sieht sein Land inzwischen auf dem Weg von der Demokratie zur Oligarchie (10).
Die Einschätzung Carters wird immer öfter durch wissenschaftliche Untersuchungen untermauert (11), nicht zuletzt durch die viel zitierte Studie der Politikwissenschaftler Martin Gilens und Benjamin Page (12). In einer aufwändigen statistischen Analyse kommen sie zu dem Resultat, dass ökonomische Eliten und ihre organisierten Interessengruppen die Regierungspolitik maßgeblich bestimmen, während die Durchschnittsbürger und deren Interessenvertretungen nur geringen oder gar keinen Einfluss ausüben.
Wenn eine Mehrheit der Bürger mit den Interessen der ökonomischen Eliten kollidiert, wird sie in der Regel den Kürzeren ziehen; wenn sie einen grundsätzlichen Politikwechsel erstrebt, wird sie ihn nicht erreichen. Anders gesagt: Die Mehrheit regiert nicht, von „responsiveness“ der Regierenden gegenüber den Regierten kann keine Rede sein.
Wenn man die USA nicht länger als „Demokratie“ ansprechen kann – wie dann? Sheldon Wolin hat dazu einen erhellenden Vorschlag unterbreitet. Der 2015 verstorbene Princeton-Professor, neben Hannah Arendt der bedeutendste Politiktheoretiker der vergangenen Jahrzehnte (13), sah in den USA ein neuartiges politisches und gesellschaftliches System heraufziehen. Er nannte es „inverted totalitarianism“, also „umgekehrter Totalitarismus“ (14).
Anders als im klassischen Totalitarismus (Nationalsozialismus und Stalinismus) bleibt das Institutionengefüge im „umgekehrten Totalitarismus“ scheinbar intakt. Niemand stellt die Verfassung infrage, regelmäßig finden Wahlen statt, die Medien sind frei, die Rechtsprechung unabhängig. Aber jede dieser Institutionen, jedes dieser Verfahren ist ausgehöhlt, bis zur Unkenntlichkeit verändert — nur die Fassaden bleiben stehen. Die tatsächliche Macht liegt beim „corporate state“, und sie wird ständig weiter nach oben verlagert. Die Bevölkerung verharrt in Unsicherheit, wird in Resignation und Apathie, in Passivität und Entpolitisierung getrieben.
Auch wenn die Propagandisten des Mainstreams weiterhin von „our democracy“ schwadronieren – die Wirklichkeit sieht anders aus. Schon seit Jahren sind Begriffe wie „unsichtbare Regierung“, „permanente Regierung“, „Infragovernment“ oder „Deep State“ in Umlauf. Gerne als „verschwörungstheoretisch“ abgetan, haben auch sie ihren Weg längst in seriöse wissenschaftliche Studien gefunden. Und sie werden offenbar auch von einer Mehrheit der Bevölkerung für plausibel gehalten.
Erst kürzlich ermittelte die Monmouth University in einer repräsentativen Umfrage, dass 74 Prozent der US-Amerikaner sicher sind oder mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, dass auf nationaler Ebene ein Apparat existiert, der die Bezeichnung „Deep State“ verdient (15).
Für die — sichtbar oder unsichtbar — Herrschenden sind das zweifellos alarmierende Nachrichten, zumal sie zeitgleich feststellen müssen, dass ihre Kraft zur ideologischen und propagandistischen Durchdringung der Gesellschaft im Schwinden begriffen ist.
Nehmen wir beispielhaft das Helsinki-Treffen zwischen Trump und Putin: Obwohl maßgebliche politische Kräfte der USA, allen voran die etablierten Medien, über die Begegnung der beiden Präsidenten in bislang ungekannter Heftigkeit hergefallen sind, zeigen Umfragen, dass große Teile der US-Bevölkerung die Sache anders beurteilen. Und trotz einer nun schon zwei Jahre währenden „Russia Russia Russia“-Kampagne des US-Mainstreams ergibt eine neue Gallup-Umfrage, dass nur ein kaum messbarer Teil — weniger als ein Prozent! — der Bevölkerung in der Russland-Frage ein drängendes Problem sieht (16). Die Menschen haben offenbar ganz andere Sorgen.
Walter Lippmann hat sein Buch „Die öffentliche Meinung“ zu einer Zeit geschrieben, als die moderne, massive, flächendeckende Propaganda noch in ihren Anfängen steckte und ihr furchterregendes Potenzial allenfalls zu erahnen war. Dass die Wirksamkeit von Propaganda auch an unverrückbare Grenzen stoßen könnte, schien vor diesem Hintergrund eine eher abwegige Überlegung zu sein.
Und doch ist es so. Man sollte die Möglichkeiten der Propaganda nicht unterschätzen, aber auch nicht überschätzen. Sie ist nicht allmächtig. Dem schon zitierten Abraham Lincoln wird — allerdings unverbürgt — der Satz zugeschrieben: Man kann alle Leute einige Zeit und einige Leute allezeit zum Narren halten, aber nicht alle Leute allezeit.
Der Bruch steht dann zu erwarten, wenn die Alltagsrealität der Menschen und die von der Propaganda geschaffene fiktive Welt immer weiter auseinanderklaffen. Diese Bruchstelle hat das politische System der USA offenkundig erreicht. Die existenzielle Krise des Systems ist manifest. Und es handelt sich dabei nicht zuletzt um eine Krise der herrschenden Elite.
Selbstverständlich ist „die Elite“ kein monolithischer Block. Sie hat ihre Meinungsverschiedenheiten, ihre Konflikte, ihre Rivalitäten. Solange solche Auseinandersetzungen nach fairen Regeln und mit sachlichen Argumenten ausgetragen werden, solange man gegenüber der Öffentlichkeit den Schein des wechselseitigen Respekts wahrt und dem Rivalen keine finsteren Absichten unterstellt, ihm also nicht, wie es in den USA gerne heißt, seine patriotische Gesinnung abspricht, ist anzunehmen, dass die Bevölkerung das Spiel mitspielt und die Autorität der Herrschenden nicht infrage stellt.
Wenn es jedoch innerhalb der Elite zu einem Kampf bis aufs Messer kommt, wenn die eine Seite der anderen die schlimmsten Dinge nachsagt, wenn jeglicher Kompromiss ausgeschlossen ist, dann ist Gefahr im Verzug. Die Stabilität des Systems erodiert.
Wenn also — um wieder am Beispiel zu argumentieren — die Gegner des Präsidenten Trump dessen Russland-Diplomatie offen als „Verrat“ brandmarken und sich in eine hysterische Kampagne hineinsteigern, wenn sie den Konflikt auf offener Bühne und in aller Rücksichtslosigkeit austragen, dann zertrümmern sie die Geschäftsgrundlage des ganzen Regierungsmodells. Sie setzen jegliche Glaubwürdigkeit, jegliches Vertrauen aufs Spiel. Derart zerschlagenes Porzellan lässt sich kaum wieder kitten. Der Erosionsprozess ist unumkehrbar.
Was sich derzeit im politischen System der USA abspielt, hätte einem nüchternen und um politische Rationalität bemühten Analytiker wie Walter Lippmann einiges abverlangt.
- Was hätte er wohl zu „Russiagate“ gesagt, jenem ebenso unbegreiflichen wie unerträglichen politischen Trommelfeuer, jener schrillen eliten-internen Hysterie, die in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zur Fakten- und Beweislage steht?
- Wie hätte er die Machenschaften der Geheimdienste, allen voran der Intelligence-Abteilung des FBI, im Hinblick auf den offenkundig unerwünschten Donald Trump kommentiert?
- Ist ernstlich vorstellbar, dass er sich auf die Seite der „CIA-Demokraten“ (17) geschlagen und ein missliebiges Wahlergebnis mit der „Kriegshandlung“ einer feindlichen Macht erklärt hätte?
Einen abermaligen, aber sicher nicht seinen letzten Höhepunkt erreichte das wilde Um-sich-Beißen der Elite nach dem Trump/Putin-Gipfel. Thomas Friedman beispielsweise, der ebenso einflussreiche wie berüchtigte „New York Times“-Kolumnist, glaubte allen Ernstes, jeden einzelnen republikanischen Abgeordneten — und mit ihnen jeden einzelnen Bürger seines Landes — vor folgende Wahl stellen zu dürfen: „Bist du auf der Seite von Trump und Putin oder auf der Seite der CIA, des FBI und der NSA?“
Die Ungeheuerlichkeit dieses Ansinnens ist bislang kaum angemessen gewürdigt worden. Es handelt sich um den völlig unkaschierten Versuch, den Deep State gegen die immerhin legitime, weil gewählte Regierung in Stellung zu bringen.
Damit wird die US-Verfassung von den Füßen auf den Kopf gestellt. Denn: Nicht der Präsident muss den „Diensten“ berichten, sondern sie ihm. Nicht der Präsident muss den „Diensten“ Rechenschaft ablegen, sondern sie ihm. Nicht der Präsident ist den „Diensten“ zur Loyalität verpflichtet, sondern sie ihm. Wenn Trump dekretiert, dass Russland nicht „unser Feind“ ist, dann haben die „Dienste“ sich dem zu fügen. Alles andere wäre der erste Schritt zum Coup d’État (18).
Wie jede Krise, so hält auch diese mindestens zwei Möglichkeiten bereit. Sie kann Neues und Besseres hervorbringen, oder sie kann im Desaster enden. Beginnen wir mit dem Positiven!
Ich hatte es schon kurz angesprochen:
Was von den verfeindeten Kräften in ihrem erbitterten Machtkampf derzeit an Propaganda geboten wird, verfängt immer weniger. Es läuft immer öfter ins Leere. Wenn Propaganda ohne weiteres als Propaganda zu durchschauen ist, verpufft ihre Wirkung. Das Publikum wendet sich gelangweilt oder angewidert ab.
Für uns, die wir die unappetitliche Schlacht von diesseits des Atlantiks verfolgen, bietet sie – abgesehen von einem gewissen Unterhaltungswert und steigendem Popcorn-Konsum – keinerlei intellektuelle Herausforderung.
Egal, ob „Russiagate“ in den Trump-geschüttelten USA oder „Nowitschok“ im Brexit-geschüttelten United Kingdom (weitere Beispiele ließen sich anfügen) — ungeachtet ihrer Allgegenwart und ohrenbetäubenden Lautstärke ist diese Art der Propaganda derart überdreht, maßlos, inkohärent, kurzum: von solch idiotischer Besessenheit, dass sie kaum noch jemanden hinter dem Ofen hervorlockt. Die Performance ist von so bestürzend miserabler Qualität, dass man beinahe Mitgefühl für die subalternen Stoßtrupps entwickeln möchte, die sich diesen Irrsinn Tag für Tag ausdenken müssen.
Es ist pure Zeitverschwendung, wenn rationale Kritiker dieses politischen Schmierentheaters jeder neuen propagandistischen Umdrehung, jeder neuen Tatarenmeldung, jedem neuen Täuschungsmanöver gewissenhaft nachspüren und mit sachlichen Argumenten beizukommen versuchen. Die Auseinandersetzung damit lohnt sich nicht. Gäbe es im Westen noch so etwas wie einen gesellschaftlichen Diskurs — ja, dann vielleicht. Aber so?
Die Lächerlichkeit des Schauspiels, der Panikmodus der Akteure, ihre offenkundige Unfähigkeit, tatsächliche Krisen zu bewältigen, dazu ihre obsessive Beschäftigung mit Pseudo-Krisen, bieten der System-Opposition, zumal in den USA, ungeahnte Chancen. Die großen politischen Alternativen, also die grundlegende Veränderung des Systems und die nachhaltige Stärkung der Input-Demokratie, sind vielleicht näher, als manche glauben möchten.
Es besteht kein Grund, vor den gegenwärtig noch dominanten Kräften in Ehrfurcht zu erstarren. Sie sind ratlos, sie sind angeschlagen, sie agieren nicht wie erwachsene, verantwortungsbewusste Menschen, sondern wie Halbwüchsige auf dem Schulhof. Man kann sie intellektuell, argumentativ oder ideologisch nicht mehr ernstnehmen. Insofern braucht auch niemand Angst vor ihnen zu haben.
Und doch — und damit kommen wir zur negativen Seite: Unterschätzen darf man sie auch nicht! Wieder muss man in diesem Zusammenhang an Sheldon Wolin erinnern. Er hatte sein Buch über den „umgekehrten Totalitarismus“ noch während der Präsidentschaft George W. Bushs geschrieben. Kurz nach der Wahl Obamas, die weithin mit großen Hoffnungen verknüpft wurde, legte er eine aktualisierte Neuauflage vor, in der er eine ätzend-realistische und aus heutiger Sicht geradezu prophetische Einschätzung dieses Präsidenten präsentierte. Den Aufstieg Donald Trumps hat Wolin nicht mehr erlebt. Doch er hätte ihn nicht überrascht. Er hätte ihn zwar nicht für zwangsläufig, aber folgerichtig gehalten.
Gegen Ende seines 93 Jahre währenden Lebens hat Sheldon Wolin eine Mahnung ausgesprochen, die man als sein Vermächtnis begreifen kann: Sollte der „umgekehrte Totalitarismus“ irgendwann an Grenzen stoßen, sollte die Bevölkerung ungehalten, widerspenstig und ungehorsam werden, sollte die Systemfrage auf die Tagesordnung kommen, dann werden die Masken der Eliten fallen. Sie werden in ihrem Abwehrkampf zu genau jenen Mitteln greifen, die wir aus dem klassischen Totalitarismus kennen: Gewalt und Repression. Die Aggressivität, die das Außenverhalten des Staates schon seit langem kennzeichnet, wird sich nach Innen kehren.
Es mehren sich die Anzeichen, dass Sheldon Wolin auch mit dieser düsteren Prognose Recht behalten könnte. Und, so glaube ich: Ein redlicher und selbstkritischer Intellektueller wie Walter Lippmann hätte seiner Einschätzung mit hoher Wahrscheinlichkeit zugestimmt.
Ab sofort im Handel: Walter Lippmann: Die öffentliche Meinung, 380 Seiten, 26 Euro.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Giovanni Sartori, Demokratietheorie. Darmstadt 1992
(2) Walter Lippmann, Die öffentliche Meinung. Wie sie entsteht und manipuliert wird. Herausgegeben von Walter Otto Ötsch und Silja Graupe. Frankfurt/Main 2018, S. 319f.
(3) Das ist eine der Kernthesen von Jacques Ellul, The Political Illusion. New York 1967
(4) Daniel Ellsberg, The Doomsday Machine. Confessions of a Nuclear War Planner. London/New York 2017, S. 195
(5) David Talbot, Das Schachbrett des Teufels. Die CIA, Allen Dulles und der Aufstieg von Amerikas heimlicher Regierung. Frankfurt/Main 2016, S. 551
(6) David Halberstam, The Powers that Be. Urbana/Chicago 2000, S. 546-548
(7) https://www.rubikon.news/artikel/der-transatlantiker
(8) C. Wright Mills, Die amerikanische Elite. Gesellschaft und Macht in den Vereinigten Staaten, Hamburg 1962
(9) http://www.unz.com/article/political-sciences-theory-of-everything/
(10) https://www.rollingstone.com/politics/politics-news/jimmy-carter-u-s-is-an-oligarchy-with-unlimited-political-bribery-63262/
(11) Ron Formisano, American Oligarchy. The Permanent Political Class. Champaign, Illinois 2017
(12) https://www.cambridge.org/core/journals/perspectives-on-politics/article/testing-theories-of-american-politics-elites-interest-groups-and-average-citizens/62327F513959D0A304D4893B382B992B/core-reader
(13) https://www.truthdig.com/articles/sheldon-wolin-and-inverted-totalitarianism/
(14) Sheldon S. Wolin, Democracy Incorporated. Managed Democracy and the Specter of Inverted Totalitarianism. Princeton/Oxford 2008
(15) https://www.monmouth.edu/polling-institute/reports/monmouthpoll_us_031918/
(16) https://www.zerohedge.com/news/2018-07-19/gallup-shows-how-much-americans-really-care-about-situation-russia
(17) https://www.wsws.org/de/articles/2018/07/30/dems-j30.html
(18) https://nationalinterest.org/feature/trump-putin-summit-and-reliving-cold-war-26201?page=0%2C1
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