Das Ergebnis war knapp. Am 16. Juli 2019 wurde Ursula von der Leyen im Europäischen Parlament (EP) mit nur 383 Stimmen der 747 Abgeordneten zur neuen Präsidentin der Europäischen Kommission „gewählt“ (1). Sie erhielt damit gerade einmal neun Stimmen mehr als für die erforderliche Mehrheit notwendig. Nur ein Teil der Sozialdemokraten (SPE) hatte sie unterstützt, aber selbst von den Konservativen der Europäischen Volkspartei (EVP), ihrer eigenen Partei, bekam sie nicht alle Stimmen. Geschlossen stimmten hingegen die Liberalen für sie. Sie wäre aber dennoch durchgefallen, hätten sie nicht auch die Abgeordneten der polnischen PiS und jene des italienischen Movimento 5 Stelle (M5S) gewählt.
Ursula von der Leyen: Eine Verlegenheitslösung
Auch in Deutschland überzeugte der Vorschlag viele nicht. In einem Leserbrief in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) hieß es:
„Ach, wie schön wäre es, könnte man sich über die neuen Personen an der Spitze wichtiger politischer Ämter in Deutschland und der EU unbeschwert freuen: Eine Deutsche als EU-Chefin, nach langer Misswirtschaft endlich eine neue Führung der Bundeswehr, (…). Und was muss man stattdessen lesen? Die Frau, die inkompetent, führungsschwach und nicht nur in der Berater-Affäre auch noch mit dem Ruch der Korruption in ihrem Ministerium belastet die Bundeswehr, die sie zwar schon in marodem Zustand übernommen hat, in ihren Ministerjahren völlig ruiniert hat, wird zum Dank für ihre Unfähigkeit in das höchste europäische Amt befördert“ (2).
Ein solcher Brief wäre wohl kaum in der FAZ veröffentlicht worden, gäbe er nicht die Stimmung zumindest von Teilen ihrer Leserschaft wider. Die Kandidatur von der Leyens war von Anfang an eine umstrittene Verlegenheitslösung. Ihr Name kam erst ins Spiel, nachdem sich die „Spitzenkandidaten“ Manfred Weber und Frans Timmermans als nicht durchsetzbar erwiesen hatten.
Die konservativ-sozialdemokratische Beutegemeinschaft
Der Vorschlag des Europäischen Rats für die vier zu verteilenden Spitzenpositionen in der EU überzeugte aber auch sonst nicht. Mit Christine Lagarde wurde eine Frau als Präsidentin der Europäischen Zentralbank vorgeschlagen, die nicht einen Tag in einer Bank gearbeitet hat. Vor einer Verurteilung wegen Begünstigung im Amt hatte sie allein der Umstand gerettet, dass sie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) vorsteht, den man nicht beschädigen wollte.
Der neue Präsident des Europäischen Parlaments, der Italiener David Sassoli, gehört der sozialdemokratischen Partido Democratico (PD) an, einer Partei, die sich in Italien in der Opposition befindet. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament hat der PD nicht weniger als 18 Prozent verloren! Zur „Belohnung“ wird nun einer der ihren Parlamentspräsident. Und da ist der Spanier Josep Borell, er soll EU-Außenbeauftragter werden. Auch er ist Sozialdemokrat. Die spanische Regierung, der er als Außenminister dient, verfügt aber über keine Mehrheit im Parlament. Dennoch wurde er von ihr für ein hohes Amt in der EU nominiert.
Vier Posten waren zu vergeben, alle gingen an die vier großen EU-Länder Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien. Großbritannien brauchte man angesichts der Kalamität um den Brexit nicht mehr zu bedienen. Und für die Befriedigung der Ansprüche der osteuropäischen Mitgliedsländer bleibt das noch zu besetzende Amt des Präsidenten des Europäischen Rats. Das hat jetzt der polnische Politiker Donald Tusk inne.
Wie üblich, teilten sich also Konservative und Sozialdemokraten die Beute. Auf Befähigung, Unbescholtenheit und politischen Erfolg kam es nicht in erster Linie an. Ausschlaggebend waren Herkunftsland und Parteibuch.
Auch auf die traditionelle Teilung der Amtszeit des Parlamentspräsidenten konnten sich EVP und SPE einigen: David Sassoli beginnt, nach zweieinhalb Jahren übernimmt dann Manfred Weber von der EVP.
Grüne und Liberale als Gewinner der Wahl
Also wie gehabt? Erleben wir alle die Fortsetzung der im Parlament seit Jahrzehnten amtierenden „ewigen“ großen Koalition von Konservativen und Sozialdemokraten? Auf den ersten Blick scheint es so zu sein. Doch die Wahlen vom Mai haben die Machtverhältnisse im Europäischen Parlament verändert. Erstmals seit Einführung der Direktwahlen 1979 stellen EVP und SPE zusammen nicht mehr die Mehrheit. Die Europäische Volkspartei verlor 34 Sitze und hat jetzt nur noch 182 Abgeordnete, die Mandate der Sozialdemokraten gingen um 30 auf 154 zurück. Zusammen kommen sie nur noch auf 334 Sitze. Zur Mehrheit von 375 fehlen 41.
Zu den Gewinnern der Wahlen gehören die Grünen. Sie erhielten 23 Mandate mehr und haben jetzt 75. Noch stärker gewannen aber die Liberalen. Unter dem neuen Namen Renew Europe wuchs diese Fraktion um 39 Sitze — das ist mehr als die Rechtsaußenfraktion Identität und Demokratie (ID) insgesamt zählt. Allein 22 neue Mandate kamen von der französischen Präsidentenpartei La République en Marche hinzu. Insgesamt gehören jetzt 108 Abgeordnete zu Renew Europe.
Und so sind es insbesondere die deutlich gestärkten Liberalen, die das Machtkartell von Konservativen und Sozialdemokraten angreifen. Es waren sie, die dafür sorgten, dass das Spitzenkandidatenprinzip bei der Auswahl des Kommissionspräsidenten nicht zum Zuge kam. Ihrem aus Paris agierenden Anführer Emmanuel Macron brachte das von deutscher Seite den Vorwurf ein, er tue alles dafür, „das europäische Parteiensystem zu zerstören“ (3). Aber warum sollte auch ein französischer Liberaler ein Interesse haben, das traditionelle Machtkartell von Konservativen und Sozialdemokraten im Europäischen Parlament aufrechtzuerhalten?
Der Flop mit den Spitzenkandidaten
Bereits vor den Wahlen zum Europäischen Parlament 2014 hatten sich EVP und SPE darauf verständigt, dass nur jemand Kommissionspräsident werden solle, der im Wahlkampf als Spitzenkandidat einer der europäischen Parteienfamilien antrat. Der Europäische Rat müsse sich verpflichten — so wurde verlangt — nur jemanden aus dieser Gruppe vorzuschlagen (4). Damit sollte der Eindruck erzeugt werden, dass die Wähler, zumindest indirekt, die Auswahl des Kommissionspräsidenten mitbestimmen könnten.
Verschwiegen wurde, dass damit vor allem aber garantiert war, dass so quasi automatisch die Wahl auf einen Konservativen oder einen Sozialdemokraten fallen würde, denn sie stellen nun einmal die größten Fraktionen im Parlament. 2014 standen sich der EVP-Kandidat Jean-Claude Juncker und Martin Schulz von der SPE gegenüber. Doch die Personalisierung des Wahlkampfes verfing nicht. Die Beteiligung an den Wahlen sank in der gesamten EU weiter.
Noch weniger Eindruck auf die Wähler machte der im Frühjahr 2019 ausgetragene Wahlkampf zwischen dem EVP-Kandidaten Manfred Weber und dem niederländischen Sozialdemokraten Frans Timmermans. Selbst in ihren Heimatländern nahm kaum jemand Notiz von ihnen. In den übrigen 26 Mitgliedsländern blieben die beiden nahezu unbekannt, standen ihre Namen doch nur in den Niederlanden beziehungsweise im Bundesland Bayern auf den Stimmzetteln.
Konfrontiert mit dem Machtanspruch eines weitgehend unbekannten und politisch bisher nur im Europäischen Parlament aktiven „Wahlsiegers“ Manfred Weber, ließen es sich die Regierungschefs diesmal nicht nehmen, die Auswahl selbst in die Hand zu nehmen.
Vor allem auf Betreiben von Emmanuel Macron wurde Weber abgelehnt.
Bundeskanzlerin Angela Merkel versuchte anschließend das Spitzenkandidatenprinzip zumindest formal zu retten, indem sie an Stelle von Weber Frans Timmermans vorschlug. Gegen ihn sprachen sich aber die Regierungschefs Polens, der Slowakei, Tschechiens und Ungarns aus, hatte er sich doch als stellvertretender Kommissionspräsident den Ruf eines Scharfmachers bei der Verfolgung dieser Länder wegen behaupteter Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip der EU erworben. Auch die italienische Regierung hatte keine guten Erfahrungen mit ihm gemacht. Im Streit mit der Kommission über die Staatsschuld des Landes hatte sich Timmermans besonders unnachgiebig gezeigt. Und so wurde seine Kandidatur Opfer der Spaltungslinien, die in der EU zwischen dem Kern und Ost- und Südeuropa bestehen.
Es war schließlich Macron, der den Königsmacher spielte und für den Posten die deutsche Verteidigungsministerin vorschlug. Dass es sich dabei um eine deutsche Konservative handelte, ließ seine Geste umso großzügiger erscheinen. Der Sieg über das Spitzenkandidatenprinzip reichte ihm.
Im Hintergrund: Ein alter deutsch-französischer Streit
Mit dem Spitzenkandidatenprinzip sollte das Europäische Parlament gestärkt werden. Daran lag vor allem den deutschen Parteien viel, schließlich stellt Deutschland mit 96 Abgeordneten die größte Ländergruppe. Aus Frankreich kommen hingegen nur 74 und aus Italien 73 Abgeordnete.
Es ist aber nicht allein das zahlenmäßige Übergewicht, weshalb man in Berlin auf eine Aufwertung des Parlaments setzt. Wolfgang Streeck hat einen weiteren Grund benannt:
„Wie andere imperiale Länder, zum Beispiel die Vereinigten Staaten, versteht sich Deutschland als wohlwollender Hegemon — und möchte, dass auch andere das so sehen — der nichts anderes tut, als seinen Nachbarn gegenüber universellen und gesunden Menschenverstand und moralische Tugenden zu verbreiten“ (5).
Die Aufwertung des Parlaments, das man hierzulande gern als einzig direkt gewählte europäische Institution bezeichnet, passt da ins Bild. Schließlich weiß man in Berlin nur zu gut, dass Deutschlands ökonomische und politische Machtmittel groß genug sind, um die nationalen Interessen auch in unübersichtlichen parlamentarischen Verfahren durchsetzen zu können.
Ganz anders die französische Position: Aufgrund seiner gegenüber Deutschland deutlich schwächeren Stellung in der Europäischen Union setzt Paris in erster Linie auf die Bewahrung seiner nationalstaatlichen Macht. Die Union wird traditionell als ein Europa der Vaterländer beziehungsweise der Nationen gesehen. Der von Deutschland vorangetriebenen Übertragung von Entscheidungskompetenzen auf das Europäische Parlament steht man skeptisch gegenüber. Und so akzeptierte Frankreich die von deutscher Seite verlangte Stärkung des Europäischen Parlaments im Lissabonner Vertrag erst, als Berlin der im Gegenzug erhobenen französischen Forderung nachkam, auch den Europäischen Rat mit der Schaffung des Postens eines Ratspräsidenten aufzuwerten (6).
Eine Demokratisierung der EU mit Hilfe des Europäischen Parlaments?
Die in Deutschland verfolgte Demokratisierung der Union über eine Aufwertung des Europäischen Parlament hat aber in der Realität keine Grundlage, denn auch 40 Jahre nach seiner ersten Direktwahl ist es weiterhin ein Scheinparlament. Es besitzt nicht das exklusive Budgetrecht, und es kann keine Gesetzesinitiativen einbringen. Allein im Gesetzgebungsverfahren kann das Parlament versuchen, die zu erlassenden Richtlinien und Verordnungen zu verändern. Vor allem aber: Es fehlt an dem urdemokratischen Prinzip „One man — one vote“! Eine in einem kleinen Land abgegebene Stimme zählt ungleich mehr als in einem großen.
Bereits 2011 hatte das Bundesverfassungsgericht aus Anlass der Entscheidung über Sperrklauseln zu den Wahlen zum Europäischen Parlament erklärt, dass das EP nicht mit dem Deutschen Bundestag vergleichbar ist:
„Das Europäische Parlament wählt keine Unionsregierung, die auf seine fortlaufende Unterstützung angewiesen ist“ (7).
Ebenso wenig sei die Gesetzgebung der Union von einer gleichbleibenden Mehrheit im Parlament abhängig, die von einer stabilen Koalition bestimmter Fraktionen gebildet würde und der eine Opposition gegenüberstehe. Angesichts der Tatsache, dass mehr als 120 Parteien aus 28 Mitgliedsländern mit Abgeordneten vertreten sind, komme es — so das Gericht — auf ein paar weitere Parteien nicht an, die nach einem Absenken der Sperrklausel in Deutschland dort einziehen könnten.
Aufgrund seiner Heterogenität und daraus resultierenden Schwäche seiner Fraktionen ähnelt das Parlament heute immer noch eher einer Staatenkammer nationaler Parlamentarier als einem echten Parlament. Da es regelmäßig nur von der Hälfte der Wahlberechtigten gewählt wird, besitzt es nur eine geringe demokratische Legitimität.
Es stellt daher eine Verblendung dar, in ihm eine Institution zu sehen, die zu einer Demokratisierung der EU beitragen könnte. Leider erliegt auch die deutsche Linke dieser Verblendung. Im Streit um die Geltung des Prinzips der Spitzenkandidatur schlug sie sich ganz auf die Seite ihrer Verteidiger.
Wenn man aber überhaupt von einer gewissen demokratischen Legitimation zur Entscheidungsfindung in der EU sprechen kann, so liegt sie beim Europäischen Rat. Jeder der dort versammelten Staats- und Regierungschefs kann sich immerhin auf eine vom Parlament gewählte Regierung stützen.
Die Aufgabe des Spitzenkandidatenprinzips stellt daher nicht eine vielfach beschworene Niederlage der europäischen Demokratie dar. Das Gegenteil ist der Fall: Weiterer Demokratieabbau konnte damit verhindert worden.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Tatsächlich kann aber das Europäische Parlament den Präsidenten der Kommission nicht wirklich wählen. Es ist vielmehr nach Artikel 17 Abs.7 EU-Vertrag der Europäische Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer, das ihn auswählt. Zwar heißt es seit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags, dass das Parlament den Kommissionspräsidenten „wählt“ und nicht wie bis dahin „bestätigt“. Doch die veränderte Wortwahl hat am Verfahren nichts geändert. Es blieb dabei, dass der Europäische Rat den Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten auswählt und anschließend dem EP vorschlägt. Sollte das Parlament die Ratsnominierung zurückweisen, so ist es nach dem EU-Vertrag Aufgabe des Europäischen Rats, einen neuen Kandidaten zu präsentieren. Vgl. zum Anspruch des Parlaments, den Kommissionspräsidenten bestimmen zu wollen, auch: Andreas Wehr, Kein echtes Parlament — zur Stellung des Europäischen Parlaments im Institutionengefüge der EU, https://www.andreas-wehr.eu/kein-echtes-parlament.html
(2) Wie schön wäre unbeschwerte Freude, in: FAZ vom 23. Juli 2019
(3) So der Chef der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament, Daniel Caspary, am 24. Juni 2019 in Spiegel.online, https://www.spiegel.de/politik/ausland/europaeische-union-cdu-politiker-daniel-caspary-attackiert-emmanuel-macron-a-1274034.html
(4) Bei der Auswahl des Kandidaten für den Kommissionspräsidenten soll der Europäische Rat nach Artikel 17 Abs.7 EU-Vertrag „das Ergebnis der Wahl (des Europäischen Parlaments, A.W.) berücksichtigen“. Diese Aufforderung ist aber interpretierbar. Eine Verpflichtung, seine Auswahl auf jene zu beschränken, die bei den Wahlen als Spitzenkandidaten ihrer europäischen Parteienfamilien aufgetreten sind, kann daraus nicht herausgelesen werden.
(5) Wolfgang Streeck, Ein europäisches Imperium im Zerfall. Der Artikel erschien zuerst in Englisch im Blog der London School auf Economics, dann auch auf der Website von Briefing for Brexit unter der Überschrift „The EU is a doomed empire“, https://briefingsforbrexit.com/the-eu-is-a-doomed-empire/ . Auf Französisch erschien er in der Mai-Ausgabe der Zeitschrift Le Monde diplomatique.
(6) Vgl. zu dieser Auseinandersetzung: Andreas Wehr, Europa ohne Demokratie, 2004, Köln, S. 70
(7) Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 9. November 2011 https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2011/11/cs20111109_2bvc000410.html
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