Der Neoliberalismus propagiert gerne Eigenverantwortung. Bei Menschen in Problemsituationen gerät dies ganz schnell zur Opferbeschuldigung. In der Psychotherapie hat Sigmund Freud diese Denkweise bereits vor über hundert Jahren fest installiert. Hierzu hat er Begriffe kreiert, die die Wirklichkeit radikal auf den Kopf stellen. Eines dieser Falschworte ist Narzissmus. Es beginnt ganz harmlos, als 1898/1899 Havelock Ellis und Paul Näcke für das konkrete Sich-selbst-Bespiegeln einen Begriff schaffen: „Narcismus“. In den Händen von Freud wird daraus ab 1914 ein Synonym für Selbstgefälligkeit, Größenwahn und Beziehungsunfähigkeit.
Der Mythos von Narziss erzählt in sieben Varianten jedoch das blanke Gegenteil: Ein schöner 16-Jähriger verzweifelt einerseits am Tod geliebter Angehöriger und andererseits an der Aufdringlichkeit ungeliebter Menschen. Freuds Wirklichkeitsverkehrung führt bis heute dazu, dass die Opfer von Gewalt mit einem wissenschaftlich attestierten Narzissmus auf sich selbst zurückverwiesen werden. So verortet ein sogenannter Experte bei einem Mann mit einem Aggressions-Problem dessen Ursprung in — unterstellter — narzisstischer Säuglingsgier anstatt in brutalster real erlebter KZ-Erfahrung im Alter von acht Jahren. Die dahinterstehende Logik: Ein radikales „Selbst schuld!“, das die Mächtigen dieser Welt vor Haftung schützt.
Wenn es nach dem Neoliberalismus geht, dann sollten alle Menschen in größtmöglicher Freiheit wirtschaftlich agieren dürfen — ungebremst durch staatliche Eingriffe. Dabei wird so getan, als ob in diesem Wettbewerb der Akteure reale Ungleichheiten, die sich über die Jahrhunderte entwickelt haben, keinen Einfluss hätten. Es stehe uns allen frei, dieselben Ziele zu erreichen.
Damit verbunden ist die radikale Zuweisung von Eigenverantwortung. Diejenigen, denen es auf dieser Welt schlecht geht, haben nur das Verkehrte getan. Die unterschiedlichsten Lebensbedingungen seien hierfür nicht ausschlaggebend.
Sigmund Freud, der Onkel des Propagandaexperten Edward Bernays, hat diese Sichtweise bereits vor über hundert Jahren in Bezug auf psychische und psychosomatische Störungen von Menschen propagiert. Seine Glaubens-Lehre lautet: Solche Symptome entwickeln sich nur bei denjenigen, die als Kinder darin versagt haben, ihre triebhaften Impulse zu „ödipalem“ oder „narzisstischem“ Begehren im Griff zu behalten.
Freuds Denken hat unter anderem mit dem Konzept vom Narzissmus seinen Siegeszug durch die Welt angetreten. Dieser Begriff soll meist eine Fülle hässlicher Verhaltensweisen umfassen wie maßlose Selbstbezogenheit, Beziehungsunfähigkeit, Dominanz, Hass, Neid und ausbeuterisches Verhalten.
Die Entdeckung des „Narcismus“ — Havelock Ellis und Paul Näcke
Der Begriff „Narcismus“ entsteht 1898/99 aus einem Missverständnis zwischen dem englischen Sexualforscher Havelock Ellis und dem deutschen Psychiater Paul Näcke. Ellis bezeichnet mit „narzissähnlicher Tendenz“ die intensive Leidenschaft, den eigenen Körper zu betrachten — und zwar ohne irgendein sexuelles Gefühl (1). Gleichzeitig versteht er dieses Phänomen als eine Spielart des „Autoerotismus“, den er wiederum als eine spezielle Form der sexuellen Erregung definiert. Paul Näcke bemüht sich, diesen Widerspruch aufzulösen und definiert: Man könne nur da „mit Fug und Recht“ von „Narcismus“ sprechen, wo „das Betrachten des eigenen Ich’s oder seiner Theile von deutlichen Zeichen des Orgasmus begleitet ist“ (2).
Es würde zu weit führen, sich das Durcheinander der beiden Autoren hier im Detail anzusehen (3). Einig sind sie sich jedenfalls darin, dass es sich bei dieser Form der Selbstbetrachtung a) um ein sehr seltenes Phänomen handelt, das sie b) ausdrücklich abgrenzen von Homosexualität.
Der Narzissmus und die Psychoanalyse
1910 führt der Arzt und Psychoanalytiker Isidor Sadger den Begriff Narzissmus in die Psychoanalyse ein und definiert:
„(…) der Weg zur Homosexualität führt nämlich stets über den Narzissmus, d.h. die Liebe zum eigenen Ich. (…) Die Verliebtheit in die eigene Person, hinter welcher sich die in die eigenen Genitalien verbirgt, ist ein nie zu fehlendes Entwicklungsstadium“ (4).
Nun gilt also Narzissmus als ein allgegenwärtiges menschliches Entwicklungsstadium, dessen ungebändigte Fortentwicklung in Homosexualität mündet. Eine doppelte Abweichung vom Ursprungsgedanken der Begriffsschöpfer.
Freud selbst umreißt 1914 in seiner zentralen Abhandlung zum Thema Narzissmus ein buntes Sammelsurium von dessen typischen RepräsentantInnen: Schizophrene und Größenwahnsinnige, Kinder und Primitive, Perverse und Homosexuelle sowie Frauen und Mütter (5).
Was ist nun also Narzissmus? Besteht Narzissmus in Selbstbetrachtung ohne sexuelle Gefühle, oder sind hierbei deutliche Zeichen des Orgasmus erforderlich? Ist Narzissmus Verliebtheit in die eigenen Genitalien oder eher Ausdruck von Homosexualität? Oder besteht er im Durchschnittsverhalten der von Freud umrissenen Personengruppe?
Wer war denn eigentlich dieser Narziss?
Der über 2.000 Jahre alte griechische Mythos von Narziss erzählt von einem schönen Jüngling, welcher sich in einer Quelle spiegelt. Er nimmt sein attraktives Abbild wahr und versucht es festzuhalten. Weil ihm dies natürlich nicht gelingt, stirbt er schließlich vor Verzweiflung. Aus seinem Blut soll eine hübsche Frühlingsblume, die Narzisse, hervorgegangen sein.
Von diesem Mythos existieren verschiedene Varianten, die Friedrich Wieseler bereits 1858 zusammengestellt hat (6). Die zentralste Variante, die für mich direkt ein Verständnis des Mythos erschließt, stammt von Pausanias. Nach ihm hat Narziss eine Zwillingsschwester, die er über alles liebt. Beide kleiden sich gleich, tragen die Haare gleich, unternehmen alles Mögliche gemeinsam — bis hin zur Hirschjagd. Dann stirbt diese Schwester. Narziss ist 16 Jahre alt. Als er kurz nach diesem schweren Verlust in einer Quelle sein Spiegelbild wahrnimmt, will er es verzweifelt festhalten. Wirkt dies nicht unmittelbar anrührend und nachvollziehbar?
Nach einem anderen Autor darf man vermuten, dass Narziss beim Blick in die Quelle sich deshalb so verzweifelt bemüht, sein Spiegelbild zu ergreifen, weil er seinen geliebten Vater, den Flussgott Kephisos, darin zu erkennen glaubt. Eine andere Variante legt nahe, dass es ihm bei diesem Festhaltenwollen um seine Mutter geht, ebenfalls ein Wasserwesen: die Quellnymphe Liriope.
Und auf dem Hintergrund dieser drei Varianten bekommt die bekannteste Version, dass er sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt und dieses unbedingt ergreifen möchte, eine ganz klare Plausibilität: Er erkennt, dass er sich selbst nicht festhalten kann, genauso wenig wie seine geliebten Angehörigen. Das Leben ist vergänglich, an erster Stelle Jugend und Schönheit. Und daran leidet Narziss. Ganz und gar menschlich und nachvollziehbar.
Das Verhalten des Narziss hat also in diesen vier Varianten mit maßloser Selbstverliebtheit, übertriebener Selbstbezogenheit, Beziehungsunfähigkeit, Dominanz, Neid, Hass oder ausbeuterischem Verhalten nichts zu tun. Im Gegenteil: Seine ausgeprägte Verbundenheit mit geliebten Angehörigen über den Tod hinaus qualifiziert ihn als emotional kompetent und ausgesprochen beziehungsfähig.
Es gibt noch drei weitere Varianten. Sie erzählen, dass der schöne Narziss von verschiedenen Menschen begehrt und verfolgt wird. Da ist die geistlose Nymphe Echo, die — wie ihr Name schon verrät — immer nur die letzten Worte ihres jeweiligen Gegenübers nachplappern kann. Nach einem kurzen Pseudogespräch mit Echo ist für Narziss klar, dass er mit dieser hohlen Tussi nichts anfangen möchte, noch nicht mal eine kleine Affäre. Und da sind zwei Männer, die Narziss bedrängen. Ob Narziss nun prinzipiell keine Lust auf Sex mit Männern hat oder ob ihm nur speziell diese zwei Kerle nicht zusagen — wie auch immer: Auf jeden Fall steht er nun mal nicht auf diese zwei Bewerber und erteilt ihnen eine Abfuhr.
Die Reaktion aller Drei ist gleich: Sie üben psychische und physische Gewalt auf Narziss aus. Echo siecht vor lauter Liebeskummer demonstrativ vor sich hin, sodass sie Mitleid erregt und Außenstehende gegen Narziss aufbringt. Ameinias entleibt sich auf der Türschwelle des Narziss und bittet im Sterben — erfolgreich — die Götter, ihn zu rächen. Ellops, der dritte Bewerber, den Narziss abweist, nimmt die Bestrafung in die eigene Hand und tötet Narziss, weil er ihm nicht willfährig ist. Narziss verliert also sein Leben, weil er sich der Zudringlichkeit anderer verweigert. Für mich ist das ein klarer Beleg für seine selbstbewusste Beziehungs*fähigkeit*.
Und die Moral von der Geschichtʼ …
Die sieben Versionen des Mythos lassen sich lesen wie die zwei Seiten von ein und derselben Medaille: Die gesamte Medaille beschreibt, wie man an sozialen Beziehungen leiden kann. Seite A: Man kann leiden, weil man geliebte Angehörige verloren hat und selbst vergänglich ist. Und Seite B: Man kann leiden, weil ungeliebte Menschen zudringlich werden und nach einer Abfuhr Schuldgefühle hervorzurufen versuchen beziehungsweise sogar mörderische Gewalt ausüben.
Narziss zeigt sich also als ein Opfer von Schicksal und Gewalt. Diese Formen des Leidens stellen Grunderfahrungen des Menschen dar. Sie sind bis heute ein häufiger Anlass, dass ich in meiner psychotherapeutischen Praxis aufgesucht werde.
Der Mythos von Narziss hat damit verdient, als menschliches Kulturgut heilig gehalten zu werden. In dieser Geschichte liegt Heil. Denn wer Ähnliches erfahren hat, kann sich mit der Hauptfigur der Geschichte identifizieren und so deren Schicksal — das eventuell die eigenen Erfahrungen spiegelt — einmal von außen betrachten. Dadurch lassen sich diese Erfahrungen leichter in Worte fassen und aussprechen. Auf heilsame Weise kann dies die Befreiung von Beklommenheit ermöglichen.
Opferbeschuldigung in der modernen Praxis
Wie aber wird heute in der psychotherapeutischen Theorie und Praxis mit dem Begriff Narzissmus hantiert? Ist das Ergebnis stets heilsam?
Einer meiner Patienten hatte durch Mobbing auf seiner Arbeitsstelle Bluthochdruck und andere psychosomatische Symptome entwickelt. Die psychoanalytische Deutung: Er leide an einer „narzisstischen Persönlichkeitsstruktur“ und projiziere seine eigenen Aggressionen nach außen, um sie dort bekämpfen zu können. Im Verlauf der sogenannten Therapie ging es ihm kontinuierlich schlechter (3).
Eine beliebte Lehrerin geriet an einen Partner, den sie bald heiratete und von dem sie schwanger wurde. Nach anderthalb Jahren trennte sie sich. Er war ihr gegenüber — selbst in der Schwangerschaft — gewalttätig gewesen, hatte ihr Knochen gebrochen, war hierfür rechtskräftig verurteilt worden. Als das Kind, das die Frau weitgehend allein großgezogen hatte, acht Jahre alt war, kam es zu einem Sorgerechtsstreit. Eine sogenannte Gutachterin zeigte sich über etliche Selbstverständlichkeiten im Verhalten der Mutter „irritiert“. Und sie glaubte, ausdrücklich den Ex-Partner und dessen Aussagen über die Betroffene in ihre Analysen mit einbeziehen zu müssen. Ihre Diagnose: „Narzisstische Störung“. Das Kind wurde zwei Jahre lang in Einrichtungen untergebracht. Aktuell ist es der Obhut des Vaters überstellt (3).
Eine Frau mit „narzisstischer Pathologie“ hatte als Kind sexualisierte Gewalt erlitten. In einer sogenannten Therapie wurde sie von einem verheirateten Therapeuten verführt und nach einer kurzen Affäre fallengelassen. Er brach jeglichen Kontakt ab. Daraufhin nahm sich die Patientin das Leben. Aufgrund ihres Suizids kam es zu einer Anklage gegen den Therapeuten. Abgehandelt wird diese skandalöse Fallgeschichte in einer sogenannten Fachzeitschrift im Kapitel: „Störungen und Gefährdungen der therapeutischen Beziehung durch typische Syndrome“. Wohlgemerkt: Die therapiegefährdenden Syndrome werden auf Seiten der Opfer verortet. Und die Zwischenüberschrift für speziell diesen Fall: „Transformation eines Opfers in einen Täter“ (7). Ein Therapeut hatte diese Patientin in der Therapie erst sexuell missbraucht, dann fallengelassen; daraufhin hatte sie sich das Leben genommen. Dieses Opfer wird nun zum Täter erklärt, weil es zu einer Anklage des Therapeuten gekommen war. Der Referent bringt bei diesem Fallbeispiel mehr als eintausend Fachleute auf einer der größten Therapiefortbildungen im deutschsprachigen Raum zweimal zu schallendem Gelächter — der Audio-Mitschnitt (8) ist bis heute käuflich zu erwerben. Noch im selben Jahr wurde er zum Präsidenten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPA) gewählt.
Ein von mir hierauf angeschriebener Verein „Ethik in der Psychotherapie“ reagierte im Jahr 2016 mit plumpen Vorwürfen gegen meine Person: Ich würde bloß „wilde“ und „undifferenzierte“ Kritik üben. Keine einzige Silbe zur Fallgeschichte. Ein Kreis von circa zwanzig VertreterInnen psychotherapeutischer Fachgesellschaften, der sich angeblich dem Engagement „gegen sexuellen Missbrauch in Therapie und psychosozialer Beratung“ verschrieben hat, winkte ebenfalls ab. Zwei FunktionärInnen des zuerst genannten Vereins hatten dort Sitz und Stimme.
Am 27. Dezember 2017 wurde die 15-jährige Mia aus Kandel von einem zurückgewiesenen Bewerber ermordet. Tags darauf stellte der Sozialpädagoge Dr. Alexander Dexheimer in einem Beitrag für FOCUS-online fest, dass die Zurückweisung für den Mörder eine „narzisstische Kränkung“ bedeutet habe (9). Man bedenke: Dem — fiktiven — 16-jährigen Narziss passiert durch Ellops genau dasselbe wie der — realen — Mia durch ihren „Verehrer“. Der Name des antiken Opfers dient heute jedoch dazu, den Täter zu charakterisieren. „Der Täter ist ein Narzisst!“ Oder: „Er ist narzisstisch gekränkt!“ Und Mia selbst hatte ihm diese „Kränkung“ zugefügt, ihn also krank gemacht. Damit ist sie indirekt zur Täterin geworden.
Im Fall eines Mannes wird dessen „chronische Aggression“ — klassisches Merkmal einer „narzisstischen Persönlichkeitsstörung“ — als Folge seiner unbewältigten „oralen Gier“ an der Mutterbrust verstanden (7). Die belegte Ermordung seiner ganzen Familie vor seinen Augen während eines KZ-Aufenthalts im Alter von acht Jahren soll nicht ursächlich gewesen sein. Das Kind habe seine „chronische Aggression“ in das KZ mit hineingebracht und dem KZ-Kommandanten quasi auf Augenhöhe gegenübergestanden. Hätte er als Säugling nicht darin versagt, seine narzisstische Gier zu bewältigen, dann hätte sich seine KZ-Erfahrung mit angstlösenden Medikamenten und Verhaltenstraining gut behandeln lassen. Die psychischen Folgen davon hätten etwa zwei bis drei Jahre angehalten und wären danach wieder verschwunden — ohne sich auf seine Persönlichkeitsentwicklung auszuwirken.
Der Zweck von Fehldeutungen
Für die Obrigkeit ist es seit Jahrtausenden ein Problem, wenn Untertanen selbst-bewusst sind, wenn sie sich anmaßen, ihre Beziehungen selbst aussuchen zu wollen. Wo kämen wir denn da hin, wenn Menschen sich ihre Gutsherren, Arbeitgeber, Landesherren, Kaiser, Pastoren, Bischöfe oder Päpste selbst wählen könnten, wenn sie die Beziehung zu ihnen womöglich auch ablehnen wollten? Es hat deshalb eine jahrhundertealte Tradition, das Selbstbewusstsein des Narziss zu diskreditieren und die Bestrafung wegen seiner angeblichen Überheblichkeit gutzuheißen. Die Rollen von Opfer und Täter werden hierbei zwangsläufig vertauscht.
Diese Opferbeschuldigung bekommt durch Sigmund Freud im Jahr 1914 ihren wissenschaftlichen Segen. Mühelos schiebt er dem Narziss die Eigenschaften von dessen problematischen Widersachern — Echo, Ameinias und Ellops — zu: Egozentrismus, Beziehungsunfähigkeit, Selbstgefälligkeit und so weiter. Niemandem scheint aufzufallen, dass Freuds oben zitiertes Sammelsurium typischer Narzissten das krasse Gegenteil von Narziss verkörpert: Er ist weder schizophren noch größenwahnsinnig, sondern zeigt ein gesundes Selbstbewusstsein. Mit seinen sechzehn Jahren ist er auch kein Kind mehr. Die griechische Kultur seiner Zeit ist weit davon entfernt, primitiv zu sein. Narziss weist das Ansinnen zweier homosexueller Männer ausdrücklich zurück. Sonstige Perversionen lässt er nicht erkennen. Und er ist auch nicht gerade der Prototyp einer Frau oder Mutter.
Dass sich Freuds widersinnige Wortschöpfung damals durchgesetzt hat, könnte man ja vielleicht noch als Unreife dieser Wissenschaft abtun. Aber wie kommen selbst heute noch moderne AutorInnen dazu, in Psycho-Ratgebern und Fachliteratur den moralischen Zeigefinger gegen diesen angeblich ach so beziehungsunfähigen Narziss zu erheben? Wie kommen sie dazu, all die unsympathischen Eigenschaften, die der Begriff Narzissmus umfasst — Beziehungsunfähigkeit, Empathielosigkeit, ausbeuterisches Verhalten, Hass, Kälte et cetera — ausgerechnet dem selbstbewussten, liebenswürdigen Jüngling aus dem Mythos anzudichten?
Wie können sie so blind sein für die auf der Hand liegende Lebenswirklichkeit des fiktiven 16-Jährigen, dass sie seine Trauer um geliebte Angehörige als krankhaft, depressiv oder gar inzestuös-pervers verstehen? Wie können sie Narziss allen Ernstes einen Vorwurf daraus machen, dass er sich nicht auf Echo, Ameinias und Ellops eingelassen, sondern deren „Liebeswünsche“ klipp und klar abgewiesen hat?
Auf diese wirklichkeitsverkehrenden Deutungen werden dann auch noch wortgewaltige Wischiwaschi-Analysen aufgesetzt, die uns vor finsteren Narzissten wie Hitler, Stalin oder Pol Pot warnen und uns gleichzeitig offenbaren, dass wir ja selbst alle irgendwie narzisstisch sind. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Phrase, dass jedes Volk die Regierung hat, die es verdient. Damit sind wir wieder beim „Selbst schuld!“, mit dem sich jede weitere Analyse von Machtprozessen erübrigt. Bewusst oder unbewusst erweisen sich also die entsprechenden AutorInnen als ProphetInnen des Neoliberalismus, als treue DienerInnen der Macht.
Die Narzissmus-Theorie, von der Wissenschaft ausgebaut und von den Medien verbreitet, sickert so nach und nach ins allgemeine Bewusstsein und entfaltet ihre giftige Wirkung. Rainer Mausfeld legt — bezogen auf den gesellschaftlich-politischen Bereich — dar, dass seit über hundert Jahren sozialwissenschaftliche Fachleute das öffentliche Bewusstsein manipulieren (10). Mittels Falschwörtern, die einen Sachverhalt glatt auf den Kopf stellen, komme es zu systematischer Mentalvergiftung. Wirklichkeitsverkehrungen finden sich in den Begriffen und Theorien der Geschichts-, Politik-, Wirtschafts- und sonstigen Wissenschaft. Der Begriff Narzissmus ist eines dieser bestens getarnten Falschworte.
Die Abschaffung des Narzissmus
Keineswegs leugne ich, dass es Phänomene wie Egozentrismus, Ausbeutung, Beziehungsunfähigkeit, Hass, Neid und ähnliches gibt. Wenn man mit solchen Verhaltensstörungen zu tun hat, dann ist es jedoch sinnvoll, sie einzeln und so exakt wie möglich zu benennen. Claas-Hinrich Lammers hat in den letzten Jahren mehrfach sehr Vernünftiges hierzu gesagt, beispielsweise:
„Ich würde mir für den Narzissmus-Begriff genau das wünschen, was mit der Hysterie passiert ist: seine Abschaffung und Zerlegung in verschiedene psychopathologische Probleme“ (11).
Durch eine möglichst konkrete Benennung problematischer Verhaltensweisen lässt sich eher sicherstellen, dass alle wissen können, was eigentlich gemeint ist.
Fazit
Mit einem so unklaren Begriff wie dem Narzissmus kann beliebig hantiert werden. Darin steckt ideologisches Potential: Es ist ein Begriff, der den Opfern von brutalster Gewalt wissenschaftlich zu attestieren vermag, sie seien die eigentlichen TäterInnen. Das ist für diejenigen, die als die Mächtigen dieser Welt geradezu zwangsläufig andere unterdrücken, enteignen, ausbeuten und quälen, äußerst praktisch. Die Klagen ihrer Gewaltopfer lassen sich mit einem „Selbst schuld!“ vorzüglich abwimmeln. Das entlastet von dem Druck, die ausgeübte Gewalt zu legitimieren.
Es liegt also im Interesse der Mächtigen, das neoliberale Konstrukt Narzissmus auf Biegen und Brechen aufrechtzuerhalten. Mit unklaren, verwirrenden Begriffen lässt sich zwar keine Wissenschaft betreiben, dafür jedoch umso besser die Wirklichkeit verschleiern.
Am Beispiel des Narziss lässt sich zeigen, wie sich aus einer gut verständlichen Geschichte das blanke Gegenteil herauslesen lässt. Ein selbstbewusster, sympathischer Jugendlicher wird über einhundert Jahre lang im Bewusstsein der Allgemeinheit zum Inbegriff des monströsen Bösewichts gestempelt. Das zeigt anschaulich, mit welcher Leichtigkeit und wie lange Propaganda, Lüge und Betrug unser Denken überschatten und verdunkeln kann. Höchste Zeit, das kritisch zu beleuchten und am Ende zu überwinden.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Havelock Ellis: Auto-Erotism: A Psychological Study. In: The Alienist and Neurologist, 1898, 19, 260-299
(2) Paul Näcke: Kritisches zum Kapitel der normalen und pathologischen Sexualität. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 1899, Bd. 32, 356-386
(3) Klaus Schlagmann: Narzissmus — was genau soll das eigentlich sein? Und wer war gleich nochmal sein Namensgeber, dieser Narziss? 2019, Saarbrücken, Verlag Der Stammbaum und die 7 Zweige
(4) Isidor Sadger: Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absencen. In: Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschung, 1910, 59-133
(5) Sigmund Freud: Zur Einführung des Narzißmus. 1914, Wien, Internationaler psychoanalytischer Verlag
(6) Friedrich Wieseler: Narkissos. 1858, Göttingen, Dieterich. Frei zugänglich unter: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/wieseler1856/0005/image
(7) Otto F. Kernberg: Persönlichkeitsentwicklung und Trauma. In: Persönlichkeitsstörungen — Theorie und Therapie (PTT), 1999, Jg. 3, Heft 1, 5-15
(8) Otto F. Kernberg: Persönlichkeitsentwicklung und Trauma. Audio-Aufnahme des Vortrags bei den Lindauer Psychotherapie-Wochen 1997. Auditorium Netzwerk
(9) Alexander Dexheimer: Messerattacke in Kandel. Nach Mord an 15-Jähriger: Pädagoge gibt Einblick in Psyche des Täters. FOCUS-online vom 28. Dezember 2017
(10) Rainer Mausfeld: Warum schweigen die Lämmer? 2018, Frankfurt, Westend Verlag
(11) Claas-Hinrich Lammers: Narzissmus. Selbstverliebter Westen. 2017, Interview für spektrum.de. https://www.spektrum.de/news/selbstverliebter-westen/1437204
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