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Die digitale Allmacht

Die digitale Allmacht

Elektronische Überwachung und Verhaltenssteuerung ersetzen heute die archaische Vorstellung vom allsehenden Auge Gottes.

Der Mensch denkt in Bildern und Geschichten und handelt danach. Zu deren wirkmächtigsten gehört das Bild der Allmacht, die Geschichte des biblisch-christlichen Vatergottes im Himmel, der gütig und bestrafend seinen Blick auf die auserwählten Gläubigen wirft. Die Dynamik der patriarchalen Allmacht beobachten wir in den Ländern Europas entlang seiner über lange Zeit vorherrschenden ständischen Gesellschaft.

Der erste Stand des Klerus mit dem einfachen Priester zuunterst und dem Papst an der Spitze stand stellvertretend für die göttliche Allmacht. Der zweite Stand bestand aus dem Adel mit dem König- und Kaisertum an der Spitze und der dritte, der allein Steuern zahlende, bestand aus dem Bürgertum und der freien Bauernschaft. Bis zum Beginn der Neuzeit bewegte sich das Zepter der Allmacht zwischen der kirchlichen und der weltlichen Macht hin und her. Mit Beginn des kapitalistischen Wirtschaftens tritt der bürgerliche Stand auf die Bühne der Allmacht und etabliert in der Republik seine eigene politische Ordnung. Erst die Demokratie garantiert all die bürgerlichen Freiheiten, die für uns heute so selbstverständlich sind.

Das Fundament, die Autorität dieser neuen bürgerlichen Ordnung, bildet die Vernunft, welche in der Aufklärung ihr Programm der Befreiung aus feudaler Herrschaft verkündet und die göttliche Allmacht abschafft und somit beendet hat. Etwa zeitgleich befreit sich auch die Wissenschaft an den Universitäten aus der theologischen Bevormundung.

Was beständig bleibt, ist die Erzählung der Allmacht, welche in den Weltmachtbestrebungen der europäischen Kolonialmächte einen beispiellosen Siegeszug der Vernunft erfährt. Allein durch die Überlegenheit der Waffen gehört ihnen die Welt, deren Ausbeutung wird zur Grundlage des Reichtums, den wir heute noch genießen.

Siegeszug der digitalen Technologie

Seit etwa drei Jahrzehnten erleben wir den Siegeszug der neuen, digitalen Technologie. Sie ließ wenige Weltkonzerne mit einer Machtfülle und einem Finanzkapital entstehen, neben der die politische Macht der einzelnen Staaten verblasst. Als gemeinsames Geschöpf von Wissenschaft, Technik und Unternehmertum hat die Digitalisierung in diesen wenigen Jahrzehnten der Wissenschaft eine Erkenntnisexplosion, der Wirtschaft ungeahnte, riesige Märkte — aber auch Konzerne — und den Konsumenten der digitalen Medien Vernetzungs- und Zerstreuungsmöglichkeiten gebracht, die zuvor undenkbar waren.

Mit anderen Worten, die digitale Macht vereint zuvor streng getrennt gedachte Bereiche der Wissenschaft, der Technik, der Wirtschaft, der Politik und der Konsumenten in einem einzigen Gebilde, für das es noch keinen Namen gibt.

Zusammenfassend können wir den Weg von der göttlichen Allmacht hin zur Allmacht der bürgerlichen Vernunft — beide sind patriarchal — und gegenwärtig zur digitalen Allmacht aufzeigen.

Zum Wesen der Allmacht gehört die totale Kontrolle. Ohne sie keine Allmacht. Macht ohne Kontrolle ist wie ein Festmahl ohne Speise. Die Kontrollhandlung bezieht ihre Energie aus der Angst, was, solange die Kontrolle wirkt, für niemanden sichtbar ist. Erst die Reaktion auf den Verlust der Kontrolle offenbart diesen ansonsten verborgenen Zusammenhang. Die Allmacht steht also in direkter Verbindung zur Leere des Nichts, durch die alle menschliche Existenz jederzeit bedroht ist.

Militärische Allmacht

Besonders eindrücklich zeigt sich dies im jahrtausendealten Bestreben, mittels des technologischen Fortschritts Waffen zu entwickeln, die denen des Gegners überlegen sind und dadurch den Weg zur Allmacht frei machen. Die technologische Entwicklung der Waffen war nach dem Abwurf der beiden Atombomben in Japan zum Ende des Zweiten Weltkrieges der Beginn des atomaren Zeitalters. Dann, während der Kuba-Krise 1962, brachte sich die Welt direkt an den Rand des Abgrunds eines Atomkrieges, der mit der Selbstvernichtung des Menschen geendet hätte. Die militärische Allmacht dokumentiert, stellvertretend für alle Bestrebungen gleicher Art, wo sie endet: in der Selbstzerstörung der Leere des Nichts.

In Zeiten des politisch verordneten, wirtschaftlichen Stillstandes und der sozialen Isolation hält die digitale Vernetzung die lebensnotwendigen Aktivitäten aufrecht. Der Onlinehandel, das Homeworking und Homelearning, Video-Konferenzen, die sozialen Netzwerke und die digitale Unterhaltungsindustrie mit ihrer Spiele- und Filmwelt, um nur die wichtigsten zu nennen, sicherte die Verbindung nach draußen und füllte den ansonsten eher leeren Alltag vieler Menschen.

Die digitale Vernetzung wurde in der Corona-Krise zur lebensversorgenden Nabelschnur, zur nährenden und beschützenden Mutterbrust der ihrer Freiheiten beraubten Menschen weltweit.

Die Kontrolle des Virus treibt direkt in die Angst vor dem Virus. In dieser Angst erstarrt, nehmen wir selbst den Verlust der Freiheit hin und kehren zurück in den Zustand des Untertanen. Dabei bleibt verborgen, wie die digitale Macht in Riesenschritten der Allmacht entgegengeht, indem sie uns alle vor der Katastrophe der Einsamkeit in der sozialen Isolation gerettet hat. Undenkbar die Vorstellung, wir hätten in dieser Notlage kein Smartphone, keinen Laptop oder herkömmlichen PC. Wir hätten keine Filme, keine Spiele, keine Informationen, keine sozialen Kontaktmöglichkeiten außer dem Telefon. Es wäre eine Situation ohne Lebensader, über Wochen und Monate der Stillstand der Leere des Nichts.

Retterin der Menschheit

Die digitale Technik mit ihren Global Playern avanciert gerade zur Retterin der Menschheit und übernimmt das Zentrum der Allmacht. Die Technik des 19. Jahrhunderts war, wie die Wissenschaft und alle Politik, ein Geschöpf der patriarchalen Allmacht mit selbstverständlichem Ausschluss der Frau. Die digitale Technik können wir als ein Geschöpf des versteckten Matriarchats verstehen, das sich parallel zur gestaltenden Kraft des Autoritären entwickelte. Beide, das versteckte Matriarchat wie die digitale Technik, agieren als Wohltäter und Retter der Menschheit, bemüht in der Sorge um unser Wohlbefinden, ganz und gar nährend, alle verbindend und informierend.

Nebenbei beschert sie der Wissenschaft eine Erkenntnisexplosion, die auch diese endgültig in die Sphäre der Allmacht vordringen lässt. So verwundert es nicht, dass ein Zweifel an ihren Aussagen den Kritiker zum Verschwörungstheoretiker werden lässt. Von der Majestätsbeleidigung und Zensur scheinen wir nicht mehr weit entfernt zu sein.

Das Verhalten des digitalisierten Menschen gleicht dem des unter der liebenden Kontrolle des Mütterlichen aufwachsenden Kindes. Da es die permanente mütterliche Kontrolle als natürlichen Ausdruck mütterlicher Liebe nicht in Frage stellen, noch nicht einmal als Macht und Kontrolle — als verstecktes Matriarchat — erkennen kann, gibt das Kind freiwillig den Wunsch nach Eigenständigkeit und Unabhängigkeit auf. Ein Dozent berichtet dass junge Studenten aktuell in Begleitung von Mutter und Vater an der Hochschule vorsprechen. Die Eltern erkundigen sich, was alles für ihr „Kind“ getan wird, wenn es sein Studium beginnt. In der Behütung ist der stillschweigende Verzicht auf die Freiheit eines eigenen Lebens enthalten. Der zu zahlende Preis ist der Verzicht auf persönliche Entwicklung.

Vergleichbares geschieht bei den digitalen Medien. Freiwillig oder ohne Kenntnis werden Informationen preisgegeben, Einblicke in intim Privates gewährt und im komfortablen Genuss wie an Mutters Brust gesaugt und nicht mehr abgestillt. Gleichzeitig bauen die digitalen Konzerne ständig weiter an den Strategien und Mechanismen einer immer perfekteren Kontrolle des sich nährenden Konsumenten, die nach und nach für viele andere Zwecke, auch der politischen Überwachung, eingesetzt und dafür verkauft werden.

Die Kontrolle wird so zur gewinnbringenden Ware der digitalen Konzerne und unterliegt damit den gleichen Marktmechanismen der Maximierung von Gewinnen.

Die Kontrolle wird nirgendwo halt machen und dort enden, wo alle Allmacht endet. Wie dieses Ende aussehen wird, entzieht sich unserer Vorstellung.


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