Erleben wir in dieser Zwangseinsperrung einen neuen Totalitarismus?
Giorgio Agamben: In vielen Lagern wird gegenwärtig die Hypothese formuliert, dass wir tatsächlich das Ende einer Welt erleben, derjenigen der auf Rechten, Parlamenten und Gewaltenteilung beruhenden bürgerlichen Demokratien, die einer neuen Despotie Platz macht, welche hinsichtlich der Zudringlichkeit der Kontrollen und der Unterbindung jeglicher politischer Tätigkeit schlimmer sein wird als die Totalitarismen, die wir bisher kennengelernt haben. Amerikanische Politologen sprechen vom Security State, einem Staat also, in dem „aus Sicherheitsgründen“ die individuellen Freiheiten in jedweder Weise beschränkt werden können, in diesem Fall aus Gründen „der öffentlichen Gesundheit“ — ein Begriff, der die berüchtigten „Comités de salut public“ (Anm. d. Übers: Wohlfahrtsausschüsse zur Zeit der französischen Revolution) während des Terrors ins Gedächtnis ruft.
Im Übrigen sind wir in Italien seit Langem an die Gesetzgebung durch Notverordnungen seitens der Exekutive gewöhnt, die sich auf diesem Wege an die Stelle der Legislative setzt und das Prinzip der Gewaltenteilung als Grundlage der Demokratie faktisch abschafft.
Und die mittels Videokameras und nun, wie vorgeschlagen wurde, durch Mobiltelefone ausgeübte Kontrolle übersteigt bei Weitem jede Form von Kontrolle, die unter totalitären Regimes wie dem Faschismus oder dem Nationalsozialismus ausgeübt wurde.
Hinsichtlich der Daten sollte, neben jenen Daten, die über Mobiltelefone gesammelt werden, auch eine Reflexion über diejenigen stattfinden, die auf zahlreichen Pressekonferenzen verbreitet und allzu oft unvollständig oder falsch interpretiert wurden.
Dies ist ein wichtiger Punkt, denn er rührt an die Wurzel des Phänomens. Jeder, der sich ein wenig mit der Erkenntnistheorie auskennt, kommt nicht umhin, sich zu wundern, dass die Medien in all diesen Monaten Zahlen bar jeden Kriteriums der Wissenschaftlichkeit verbreitet haben, nicht nur, ohne sie in Relation zur jährlichen Sterblichkeit im gleichen Zeitraum zu stellen, sondern sogar ohne präzise Angabe der Todesursache. Als jemand, der weder Virologe noch Arzt ist, werde ich mich darauf beschränken, einfach zuverlässige offizielle Quellen zu zitieren. 21.000 Todesopfer durch Covid-19 scheinen und sind sicherlich eine eindrucksvolle Zahl.
Setzt man die Dinge allerdings, wie man es tun muss, in Relation zu den jährlichen statistischen Daten, so sehen sie ganz anders aus. ISTAT-Präsident Dr. Gian Carlo Blangiardo gab vor ein paar Wochen die Gesamtmortalität des vergangenen Jahres bekannt: 647.000 Todesfälle (1.772 Todesfälle pro Tag). Analysieren wir die Ursachen im Detail, ergibt sich, dass gemäß den neuesten verfügbaren Daten für 2017 230.000 Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, 180.000 Todesfälle durch Krebs und mindestens 53.000 Todesfälle durch Atemwegserkrankungen verzeichnet sind. Ein Punkt aber ist besonders wichtig und betrifft uns unmittelbar.
Welcher?
Ich zitiere Dr. Blangiardos Worte:
„Im März 2019 gab es 15.189 Todesfälle aufgrund von Atemwegserkrankungen und im Jahr zuvor waren es 16.220. Übrigens ist dies mehr als die entsprechende Zahl der Todesfälle durch Covid (12.352), die im März 2020 gemeldet wurde.“
Aber wenn dies zutrifft — und wir haben keinen Grund, daran zu zweifeln —, müssen wir uns, ohne die Bedeutung der Epidemie herunterspielen zu wollen, die Frage stellen, ob dies Maßnahmen zur Einschränkung der Freiheit, wie sie nie zuvor in der Geschichte unseres Landes ergriffen wurden, nicht einmal während der beiden Weltkriege, rechtfertigen kann. Es besteht der berechtigte Verdacht, dass der Bevölkerung durch die Verbreitung von Panik und die Isolierung der Menschen in ihren Häusern die sehr ernste Verantwortung der Regierungen, die zuerst den nationalen Gesundheitsdienst abgebaut und dann in der Lombardei eine Reihe nicht minder schwerwiegender Fehler im Umgang mit der Epidemie begangen hatten, aufgebürdet wird.
Tatsächlich boten sogar die Wissenschaftler kein gutes Bild. Es scheint, dass sie nicht in der Lage waren, die von ihnen erwarteten Antworten zu geben. Wie denken Sie darüber?
Es ist immer gefährlich, Ärzte und Wissenschaftler mit Entscheidungen zu betrauen, die letzten Endes ethischer und politischer Natur sind.
Sehen Sie, Wissenschaftler handeln, ob zu Recht oder zu Unrecht, in gutem Glauben gemäß ihren eigenen Beweggründen, die mit dem Interesse der Wissenschaft übereinstimmen und in deren Namen sie — dies beweist die Geschichte zur Genüge — bereit sind, jegliche moralische Skrupel zu opfern. Ich brauche nicht daran zu erinnern, dass unter den Nazis hoch renommierte Wissenschaftler die Politik der Eugenik leiteten und nicht zögerten, die Konzentrationslager zu benutzen, um tödliche Experimente durchzuführen, die sie als für den Fortschritt der Wissenschaft und die Behandlung deutscher Soldaten nützlich erachteten.
Im vorliegenden Fall ist das Spektakel besonders beunruhigend, denn in Wirklichkeit herrscht, auch wenn die Medien dies verbergen, keine Einigkeit unter den Wissenschaftlern, und einige der berühmtesten unter ihnen haben abweichende Ansichten über die Ernsthaftigkeit der Epidemie und die Effektivität der Isolationsmaßnahmen, wie der vielleicht bedeutendste französische Virologe Didier Raoult, der sie in einem Interview als mittelalterlichen Aberglauben bezeichnete. An anderer Stelle schrieb ich, die Wissenschaft sei zur Religion unserer Zeit geworden. Die Analogie zur Religion ist wörtlich zu verstehen: Theologen erklärten, sie seien nicht in der Lage, klar zu definieren, was Gott ist, und doch diktierten sie den Menschen in seinem Namen Verhaltensregeln und schreckten nicht davor zurück, Ketzer zu verbrennen; Virologen geben zu, dass sie nicht genau wissen, was ein Virus ist, aber in seinem Namen beanspruchen sie entscheiden zu können, wie Menschen leben sollen.
Man sagt uns — wie es in der Vergangenheit schon oft geschah —, dass nichts mehr so sein werde, wie es einmal war, und dass sich unser Leben ändern müsse. Was glauben Sie wird geschehen?
Ich habe bereits versucht, die Form des Despotismus darzustellen, mit der wir rechnen müssen und gegen die wir nicht müde werden dürfen, wachsam zu sein. Aber wenn wir einmal den Bereich des Aktuellen verlassen und versuchen, die Dinge unter dem Gesichtspunkt des Schicksals der menschlichen Spezies auf der Erde zu betrachten, kommen mir die Gedanken des großen niederländischen Wissenschaftlers Louis Bolk in den Sinn. Bolk zufolge charakterisiert die menschliche Spezies eine fortschreitende Hemmung vitaler natürlicher Anpassungsprozesse an die Umwelt, die durch ein hypertrophes Anwachsen technologischer Dispositive ersetzt werden, die die Umwelt ihrerseits an den Menschen anpassen.
Überschreitet dieser Prozess eine bestimmte Grenze, so gelangt er an einen Punkt, an dem er kontraproduktiv wird und zur Selbstzerstörung der Spezies führt. Phänomene wie die, die wir erleben, scheinen mir darauf zu deuten, dass dieser Punkt erreicht ist und dass die Medizin, die bestimmt war, unsere Krankheiten zu kurieren, Gefahr läuft, ein noch größeres Übel zu produzieren. Auch gegen dieses Risiko müssen wir uns mit allen Mitteln wehren.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Nuove riflessioni“. Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.
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