„Die PKK war damals die stärkste linksradikale Bewegung in Deutschland“, sagt Brauns in seiner Wohnung in der Berliner Torstraße (1). Schräg gegenüber sitzt die „junge Welt“, für die er manchmal schreibt, und auch das Büro im Bundestag ist nicht sehr weit (2). Brauns arbeitet seit 2006 für die Abgeordnete Ulla Jelpke.
„Die PKK war eine Organisation, die eine Perspektive bot. Wir haben nicht gesagt: Dort in Kurdistan gibt es eine Bewegung, und wir sind hier. Das war ein Teil von uns. Die Leute, die dort kämpfen, gehören zu dem Prozess, in dem wir auch stehen.“
Nick Brauns stand nicht immer dort. Sein Vater: Patentanwalt in München, Anhänger von Franz Josef Strauß. „Ein bürgerlicher Haushalt“, sagt er heute und erzählt von einem Religionslehrer, der den Schülern beigebracht hat, „kritisch mit dem Staat zu sein“. Pinochet, die Regenwälder, Schriften der Befreiungstheologen.
„Kirche war für mich eine Autorität. Priester, die sagen, es gibt ein Recht auf Revolution, waren nicht unwichtig. Als Kind war ich ein kleiner Militarist. Ich habe Panzermodelle gesammelt, mochte aber keine Nazis. Die Republikaner oder die DVU. Dann brannten im Osten die Flüchtlingsheime. Dieser Staat hat sich anders verhalten, als wir in der Schule gelernt haben. Ich bin auf die eine oder andere Demo gegangen. Vor allem antifaschistische Demos. Da habe ich Erfahrungen mit dem Staatsapparat gesammelt. Beim Weltwirtschaftsgipfel zum Beispiel.“
Von diesem Gipfel im Juli 1992 ist der Münchner Kessel übriggeblieben. Die Boulevardzeitung „tz“ spricht noch gut ein Vierteljahrhundert später von „Störern“, die da stundenlang von tausend Polizisten im Stadtzentrum umringt worden seien. Vorher hatten diese „Störer“ an der Residenz so laut gepfiffen, dass Helmut Kohl, George Bush und François Mitterand die Blaskappelle nicht richtig genießen konnten.
O-Ton „tz“: „Die Beamten langten teilweise ordentlich hin.“ Nicht fehlen darf im Rückblick das Zitat von Max Streibl, damals Ministerpräsident: „Wenn einer glaubt, er muss sich mit Bayern anlegen, er muss stören, der muss wissen, dass wir auch etwas härter hinlangen können. Auch das ist bayerische Art“ (3).
„Ich habe Fragen gestellt“, sagt Nick Brauns. „Warum verprügelt der Staat Antifaschisten und lässt Nazis marschieren?“ Antworten sind nicht leicht zu finden in dieser Zeit. Brauns wird Mitglied bei den Jusos, merkt aber schnell, „dass das nicht das Wahre ist“. Die DKP? „Nicht attraktiv. Mit den Genossen konnte man zwar reden, über Ernest Mandel zum Beispiel. Aber da eintreten war schlecht möglich. Deren Projekt war ja gerade untergegangen“ (4).
Also die Kurden, die Nick Brauns 1991 zum ersten Mal wahrnimmt, als es gegen den Golfkrieg geht. „Das waren PKK-Leute, wie ich heute weiß. Die PKK war damals noch erlaubt. Als eifriger Leser der bürgerlichen Presse hielt ich die PKK für eine terroristische Vereinigung, die Kinder ermordet.“
Für die Zeitungen, die Nick Brauns damals liest, ist die PKK spätestens seit Mitte der 1980er Jahre ein Aufreger. Der Mord an Olof Palme im Februar 1986, eine Bombe im türkischen Generalkonsulat in Hamburg im Herbst des gleichen Jahres, jeder tote Kurde in Westeuropa: Immer gibt es eine „PKK-Spur“.
Generalbundesanwalt Kurt Rebmann erklärt die Kurdische Arbeiterpartei zum „Hauptfeind der inneren Sicherheit“ und startet im Januar 1987 ein Ermittlungsverfahren (mit Razzien, Zeitungs-, Veranstaltungs- und Aufenthaltsverboten), das zur Verhaftung von mehr als 20 kurdischen Politikern führt und schließlich ab Herbst 1989 zu einem Schaugericht in Düsseldorf (5).
Der Spiegel spricht vom „größten Terroristenprozess in der Geschichte der Bundesrepublik“, der „öffentliche Gelder in beispielloser Höhe“ verschlinge, und nennt die Haftbedingungen „rechtsstaatlich fragwürdig“.
Die Kurden würden „23 Stunden am Tag in einer Einzelzelle“ sitzen und könnten sich in den 60 Minuten Besuchszeit wahrscheinlich schon wegen der Sprachbarriere nicht verständigen. „Dann ist faktisch der Zustand erreicht, den es nach Ansicht der Justizoberen in der Bundesrepublik nicht gibt und auch nicht geben darf: Isolationshaft“ (6).
Kern der Anklage: Die PKK vernichte Abweichler, gestützt auf zwei Ex-Mitglieder, die sagen, vor einer solchen Bestrafung geflohen zu sein, sowie auf einen Führungskader, der zuvor aus der Partei ausgeschlossen worden ist. Nach gut viereinhalb Prozessjahren gibt es vier Verurteilungen, davon zweimal lebenslang (7).
„Das war damals eine Nato-Entscheidung“, sagt Nick Brauns in Berlin. „Deutschland hatte das strengste Staatsschutzrecht und sollte anfangen, gegen diese Bewegung vorzugehen. Sie sollte hier kriminalisiert werden. Erst Düsseldorf und später dann das Verbot.“
Beides geht eigentlich Hand in Hand: Noch vor der Urteilsverkündung im März 1994 nutzt die Bundesregierung Angriffe gegen türkische Einrichtungen, um der PKK und etlichen Vereinen, die mit ihr verbunden sind, jede Betätigung zu untersagen. Bundesinnenminister Manfred Kanther begründet das Verbot am 26. November 1993 vor allem mit den „außenpolitischen Belangen der BRD“ und dem „Verhältnis zum türkischen Staat“ (8). Im Klartext: Die Türkei kämpft gegen die PKK, und wir kämpfen mit.
Wir sehen die PKK so, wie Ankara sie sieht. Dass der Nato-Partner diesen unruhigen Herbst selbst auslöst (durch einen Bombenangriff auf die kurdische Stadt Lice am 22. Oktober 1993, bei dem 30 Einwohner sterben), spielt dabei genauso wenig eine Rolle wie die türkische Kurdenpolitik ganz generell. Außenminister Klaus Kinkel: Wir brauchen eine „stabile Türkei“. Also müssen wir ihr helfen, das „kurdische Problem“ zu lösen und „terroristische Organisationen wie die PKK“ zu bekämpfen (9).
In seinem Buch zeichnet Nick Brauns eine Linie, die vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik der Gegenwart reicht. „Waffenbrüderschaft und Wirtschaftsinteressen“ heißt der Abschnitt über Deutschland und die Türkei dort, mit einem Hinweis auf Rosa Luxemburg und ihre Kritik an der deutschen Orientpolitik und an der Deutschen Bank mit „ihren Riesengeschäften in Asien“.
Ein Sultan, der seine Truppen von Deutschen auf Trab bringen lässt, „lukrative Rüstungsgeschäfte für Krupp und Co.“ (damals schon), Konzessionen für Schienenstränge, für einen Hafen, für Erdöl. Das Reich, zu spät gekommen in Sachen Kolonien, sah einen „Weg zur Weltgeltung“ (10), für den es zunächst nach Mesopotamien musste. Dass dieser Weg dann zweimal in den Untergang führte, ist bekannt.
Der gute Draht nach Ankara ist daran nicht zerbrochen, im Gegenteil, gerade der militärische Draht nicht. Das türkische Militär hat ab Mitte der 1980er Jahre mit deutschen Panzern, Raketen und Gewehren in Kurdistan gekämpft und wurde Anfang der 1990er Jahre aus den Restbeständen der DDR-Armee weiter aufgerüstet, unter anderem mit 300 Schützenpanzern und 250 000 Kalaschnikows (11).
Die Kurden, die Nick Brauns 1991 in München trifft, gefallen ihm.
„Gegen Saddam und trotzdem gegen den Krieg. Wir haben zusammen Transparente gebastelt. Es war ja so offensichtlich, welche Rolle der deutsche Imperialismus in diesem schmutzigen Krieg spielte. Diese ganzen Schweinereien. Wir hatten einen gemeinsamen Gegner. Ich hatte mich schon vorher mit den deutsch-türkischen Beziehungen beschäftigt. Meine Magisterarbeit war über den Bau der Bagdadbahn. Deutsche Politik im Nahen Osten. Wenn man sich als Sozialist definierte, war es eigentlich eine Pflicht, hier aktiv zu sein. Man musste den eigenen Herrschenden in den Arm fallen.“
Und was war mit der PKK, mit Abdullah Öcalan, dem Ober-Terroristen? „Wenn ich den Kurden diese Fragen stellte, haben sie mit nein geantwortet. Sie haben gesagt: Das sind unsere Cousins.“
Der deutsche Staat sieht das mit der Verwandtschaft nicht ganz so locker. Nick Brauns erlebt eine Razzia daheim, weil er den Kurdistan Report verkauft. Sein Telefon wird abgehört, das Konto überwacht. „Auf Weisung des Münchner Polizeipräsidiums. Man hat dann festgestellt, dass ich kein Führungskader der PKK bin, mich aber in der kurdischen Sache sehr gut auskenne.“
Quellen und Anmerkungen:
(1) Interview am 16. August 2017 in Berlin
(2) Vgl. Michael Meyen, Anke Fiedler: Wer jung ist, liest die Junge Welt. Die Geschichte der auflagenstärksten DDR-Zeitung. Berlin 2013
(3) fro: Protest und Prügel: So eskalierte der G7_Gipfel 1992 in München. In: tz vom 5. Juni 2015. Online: https://www.tz.de/muenchen/stadt/g7-gipfel-elmau-ere164127/g7-gipfel-2015-so-eskalierte-g7-gipfel-1992-in-muenchen-5049869.html (21. September 2017)
(4) Vgl. zum Beispiel Ernest Mandel: Marxistische Wirtschaftstheorie. Köln 2007
(5) Brauns, Kiechle, PKK, S. 392 f.
(6) Yok etme. In: Der Spiegel Nr. 28/1989, S. 40 f.
(7) Brauns, Kiechle, PKK, S. 393
(8) Ebd., S. 394
(9) Ebd., S. 395
(10) Paul Rohrbach: Die Bagdadbahn. Köln 1902
(11) Brauns, Kiechle, PKK, S. 383 f.
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