Das Statistische Bundesamt (StatBA) veröffentlicht seit dem 8. Mai 2020 eine wöchentlich aktualisierte Sonderauswertung zu Sterbefallzahlen des Jahres 2020 (1). In seiner eingangs zitierten Pressemitteilung Nr. 162 (2) dazu „deutet“ (sic!) das Amt den Anstieg der wöchentlichen Sterbezahlen „über den Durchschnitt vergangener Jahre“ als „Übersterblichkeit im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie“. Es bekräftigt dies in den Mitteilungen Nr. 177 (3) und Nr. 179 (4) vom 15. bzw. 22. Mai 2020 noch einmal — „da die Grippewelle 2020 seit Mitte März als beendet gilt“ — als „naheliegend“.
Wöchentliche Sterbefallzahlen in Deutschland, 22. Mai
Pressemitteilung Nr. 194 (5) vom 29. Mai 2020 titelt dann „Sterbefallzahlen im April 2020 8 % über dem Durchschnitt“, vergleicht erstmals die positiven Abweichungen zum Mittelwert 2016 bis 2019 mit den durch das Robert Koch-Institut (RKI) „bestätigten COVID-19-Todesfällen“ und hält fest: „Diese Befunde (…) decken sich.“ Der zeitliche Verlauf sei „annähernd parallel“; Höchststand jeweils die 15. KW. Die RKI-Zählung findet sich nun ebenfalls in der anschaulichen Grafik zur Sonderauswertung — zulasten des relativ starken Grippejahres 2017.
Wöchentliche Sterbefallzahlen in Deutschland, 5. Juni
Pressemitteilung Nr. 203 (6) vom 5. Juni 2020 schließlich nennt „die Phase einer zeitweisen Übersterblichkeit (…) nach aktuellem Stand beendet“. Sie resümiert dabei „mindestens 7.755 Sterbefälle über dem Durchschnitt“ gegenüber „7.775 COVID-19-Todesfällen“, bezieht sich also noch einmal ausdrücklich auf die RKI-Zählung. Am 12. Juni 2020 entfällt eine neue Pressemitteilung; wie in der Vorwoche herrscht nun, mit Daten bis zum 17. Mai, also der 20. KW, ein negativer Saldo zum Mittelwert 2016 bis 2019, mithin Untersterblichkeit.
Wöchentliche Sterbefallzahlen in Deutschland, 19. Juni
Das StatBA stellt die COVID-19-Pandemie nicht infrage! Es bleibt in der Wortwahl zwar nüchtern und sieht, wie oben zitiert, die Übersterblichkeit im April zutreffend im Zusammenhang mit Corona, lässt die Ursache der vermehrten Sterbefälle also offen, etwa für solche aufgrund der getroffenen Maßnahmen. Im Artikel zur Sonderauswertung (1) betont man außerdem:
„Die Auswirkungen der Grippewelle im Jahr 2020 waren den vorläufigen Sterbefallzahlen zufolge im Vergleich zu den Vorjahren sehr gering ausgeprägt.“
Damit verweist man indirekt auf die Untersterblichkeit zu Jahresbeginn, die sich in den Grafiken ja recht unübersehbar zeigt.
Untersterblichkeit: kein Thema in Corona-Zeiten?
Leider geht keiner der Texte darauf ein. Vielmehr vermitteln sie den Eindruck, Exekutive und RKI nach Kräften zu stützen. Nur einmal, in Nr. 194 (5), wird klargestellt, dass nicht „alle zusätzlich gezählten Fälle (…) an COVID-19 gestorben sind“. Andererseits fällt dort und in Nr. 203 (6), wenngleich mit dem Zusatz „nach Angaben des RKI“, die haltlose Formel „laborbestätigt an COVID-19 erkrankt“: Bekanntlich testet man nicht nur Erkrankte!
Statt aus der Untersterblichkeit vor Corona eine höhere Wahrscheinlichkeit künftiger Sterbefälle abzuleiten, thematisiert das StatBA ausgiebig und fragwürdig die Mehrprozente einzelner Wochen, gewisse Parallelitäten zur RKI-Zählung sowie das im Vergleich zum Ausland (7) „geringe Ausmaß der Übersterblichkeit in Deutschland“.
Das bietet keinen klaren Blick auf die Gesamtentwicklung!
Zu einem solchen gehört die Feststellung, dass der Winter 2020 fast so wenige Sterbefälle verzeichnete wie 2016, das mildeste Jahr im verwendeten Durchschnitt, das übrigens in allen StatBA-Grafiken auffallend fehlt! Stellt man es dar, verläuft 2020 nahezu parallel zu 2016 mit meist nur mehreren hundert Fällen mehr pro Woche, die sich zudem durch eine gewachsene Bevölkerung relativieren. Nur von der 14. bis zur 16. KW 2020 stiegen die Salden zu 2016 über je 2.000 Fälle, um dann nach nur drei Wochen wieder auf gut 1.000 zu fallen und sich in der 19. KW sogar zugunsten 2020 umzukehren. Die 20. KW zählte zunächst gar die wenigsten Sterbefälle der letzten fünf Jahre! Offenbar war das dem StatBA ein Anlass, seine Pressearbeit mit der 19. KW zu beenden.
Sonderauswertung Sterbefallzahlen 2020, Absolut
Untersterblichkeit: Naturgemäß endet sie immer!
Da wir alle sterblich sind, ist es unabdingbar, dass auf Untersterblichkeit früher oder später ein Ausgleich folgt (8). Im April 2020 kam es dazu recht unmittelbar, wie die letzte Grafik zeigte, aber längst nicht vollständig, wie noch gezeigt wird. 2016 dagegen hielt die Untersterblichkeit recht lange an. Der Ausgleich folgte dann aber machtvoll im Winter 2017.
Für eine Übersterblichkeit ist der baldige Ausgleich naturgemäß weniger zwingend (8). Vielmehr ist es durchaus vorstellbar, dass eine große Krise die Sterbezahlen erheblich und unter Umständen auch für längere Zeit über das Normale ansteigen lässt. Das schwere Grippejahr 2018 liefert dafür ein Beispiel, denn dessen Übersterblichkeit kam 2019 nur zögerlich zu einem Ausgleich.
Untersterblichkeit: 2020 in Deutschland dauert sie an!
Zustände einer „Spanischen Grippe“, von der inzwischen jeder warnend gehört haben wird, sind jedenfalls nicht in Sicht. Vielmehr zeigen die Sterbezahlen der vom StatBA gewählten Vergleichsjahre fünf nahezu beispielhaft verschiedene Verläufe: 2016 eine lange Untersterblichkeit; 2017 der deutliche Ausgleich, ohne anzudauern; 2018 große Übersterblichkeit; 2019 ein eher unauffälliges Jahr und 2020 nun — es wird die allermeisten gewiss überraschen — weiterhin Untersterblichkeit, von der bisher offen ist, wie lange sie dauern wird.
Man muss nur die Wochenzahlen ab jedem Jahresanfang kumulieren, so wie es EuroMomo schon seit Jahren für halb Europa tut zur Darstellung seiner „Excess mortality“ (9) — wenngleich mit einer anders gearteten „Baseline“, die man, anders als das StatBA, nicht einfach aus den letzten Jahren mittelt (8).
Demnach hatte die bis zum Beginn der Coronakrise in Deutschland andauernde Untersterblichkeit noch im gesamten März, nämlich in der 10. bis 13. KW, über 11.000 Sterbefälle unter dem Mittel der Vorjahre zur Folge. Die durch das StatBA ausführlich behandelte Übersterblichkeit konnte das Niveau bis zur 18. KW lediglich auf unter 3.000 reduzieren, aber nicht ausgleichen; seither verharrt die Untersterblichkeit in diesem Bereich — der Graph entwickelt eine „Corona-Delle“.
Sonderauswertung Sterbefallzahlen 2020, Kumuliert
Untersterblichkeit: Der Graph hat eine „Corona-Delle“
Nicht unerwähnt sei der Einfluss der wachsenden Bevölkerung, die das in absoluten Zahlen am Jahresende geringfügig übersterbliche 2019 gemeinsam mit 2017 zum perfekten Durchschnittsjahr macht, sobald man die absoluten kumulierten Zahlen ins Verhältnis zur Bevölkerung am Jahresende setzt. Nicht zuletzt tritt dadurch die bisher anhaltende relative Untersterblichkeit im Jahr 2020 deutlicher hervor. Vor allem aber bewirkt die gleichzeitige Altersverschiebung, also der wachsende Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung, dass das Jahr 2020 in einem noch günstigeren Licht erscheint, wenn man die Sterbefallentwicklung unter und ab 65 Jahren getrennt betrachtet.
Denn während die Sterblichkeit 2020 nach der „Corona-Delle“ — auch im Verhältnis zur Gesamtheit — knapp über der des Vorjahres liegt, liegt sie bei den über 65-Jährigen inzwischen wieder niedriger als 2019 und wird nur noch von 2016 getoppt. Bei der Bevölkerung unter 65 Jahren fällt die Sterblichkeit 2020 sogar geringer aus als 2016, ist also die bisher niedrigste der letzten fünf Jahre.
Wöchentliche Sterbefallzahlen in Deutschland, ab 65 Jahre relativ je 100T
Wöchentliche Sterbefallzahlen in Deutschland, bis 65 Jahre relativ je 100T
Die Aktivität des Statistischen Bundesamtes aus Anlass der „Corona-Pandemie“ und der hier versuchte erweiterte Blick auf das Sterbegeschehen in Deutschland sind nur eine Randnotiz angesichts sehr viel wichtigerer und weiterführender Themen im Rahmen des noch unübersehbaren weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Gesamtereignisses. Sie sind ein kleiner Mosaikstein im Tauziehen mit den Mächtigen in ihrer Machtprobe.
Das Amt mühte sich ganz offenbar um „Linientreue“ zu seiner Regierung, den Autor störte die eindimensionale Lesart. Im Laufe seiner Beschäftigung mit der Sache kam ihm einmal die Idee, dass vielleicht Subversivität das Amt leitete, mit der offensiven Offenlegung der nackten Zahlen und der jeweils mittransportierten, jedem verständlichen Grafik die Textur der eigenen Pressearbeit absichtlich doppelbödig zu gestalten und die Textinhalte mehr oder minder selbst zu torpedieren — jedenfalls für verständige Zeitgenossen.
Inzwischen hält er das wieder für unwahrscheinlich. Der Hintergrund dürfte eher schlichter Natur sein: Anweisung von oben, zuvor womöglich auch von noch weiter oben, vielleicht aber auch nur vorauseilender Gehorsam oder Mitschwimmen im Strom oder eine Mischung aus alledem — allein: Die Zahlen hierzulande gaben einfach nicht mehr her, als da ist. Deutsche Gründlichkeit eben.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Artikel zum Thema: „Sonderauswertung zu Sterbefallzahlen des Jahres 2020“, wöchentlich aktualisiert
(2) Pressemitteilung Nr. 162: „Sterbefallzahlen seit Ende März über dem Durchschnitt vergangener Jahre — Anzeichen für Übersterblichkeit im Zusammenhang mit Corona-Pandemie“, 8. Mai 2020
(3) Pressemitteilung Nr. 177: „Sterbefallzahlen auch in der 16. Kalenderwoche über dem Durchschnitt der Vorjahre“, 15. Mai 2020
(4) Pressemitteilung Nr. 179: „Sterbefallzahlen in der 17. Kalenderwoche 3 % über dem Durchschnitt der Vorjahre“, 22. Mai 2020
(5) Pressemitteilung Nr. 194: „Sterbefallzahlen im April 2020 8 % über dem Durchschnitt der Vorjahre“, 29. Mai 2020
(6) Pressemitteilung Nr. 203: „Sterbefallzahlen in der 19. Kalenderwoche nicht mehr über dem Durchschnitt der Vorjahre“, 5. Juni 2020
(7) In dem Zusammenhang zu empfehlen ist hier im Rubikon Susanne Wagners Die Alternative.
(8) Demografie ist anspruchsvoll und die statistische Ausbildung des Autors liegt 40 Jahre zurück. Dennoch ist gewiss: Die physiologischen Grenzen des Lebens schließen aus, dass erwartete Sterbefälle, die nicht eingetreten sind, also Untersterblichkeit, längere Zeit ausbleiben, während umgekehrt für Übersterblichkeit keineswegs Ähnliches gilt. Dementsprechend arbeitet EuroMomo, anders als das StatBA, nicht einfach mit dem Durchschnitt der Vorjahre, sondern auf einer anders ermittelten Basis, die typischerweise keine Untersterblichkeit kennt. Dieser an sich leicht verständliche und gern verwendete Begriff ist wissenschaftlich eher ungebräuchlich.
(9) EuroMomo — Graphs and maps: Excess mortality
Weiterführende Links:
- Vollständige Studie: „2020 Untersterblichkeit in Deutschland — Sekundärauswertung der Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes“ von Winfried Schneider, Juni 2020, PDF-Datei
- Download-Website des Statistischen Bundesamtes: „Sterbefälle — Fallzahlen nach Tagen, Wochen, Monaten, Altersgruppen und Bundesländern für Deutschland 2016 — 2020“, wöchentlich aktualisiert / XLSX-Datei / PDF-Datei
- Online-Datenbank des Statistischen Bundesamtes: Tabelle 12411–005 Bevölkerung: Deutschland, Stichtag, Altersjahre / Tabelle 12421 Vorausberechneter Bevölkerungsstand: Deutschland, Stichtag, Variante 1, Altersjahre
Animierte Grafiken:
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