In wenigen Tagen, am 2. Oktober, werden die Deutsche Bahn AG und der Bundesverkehrsminister a. A. (auf Abruf), Alexander Dobrindt, die Wiedereröffnung der Rheintalbahn verkünden. Die Strecke musste am 12. August um 11.03 Uhr unterbrochen und der Abschnitt zwischen Karlsruhe und Baden-Baden gesperrt werden, da bei Bauarbeiten im Bereich Rastatt der im Bau befindliche Tunnel unter der Rheintalbahn eingebrochen war. Die Verantwortlichen von Bund und Bahn werden sich bei der Wiedereröffnung stolz auf die Brust klopfen und zumindest versuchen, eine gewisse Professionalität zur Schau zu stellen. Tatsächlich gingen Bahn und Baufirmen bei den Bauarbeiten außerordentlich verantwortungslos vor.
Konkret: Sie riskierten eine Eisenbahnkatastrophe.
Aus diesem Grund erstatten der ehemalige Vorsitzender Richter Dieter Reicherter, der Rechtsanwalt Dr. Eisenhart von Loeper und der Autor dieses Beitrags am 26. September gegen die Verantwortlichen – unter anderem gegen den Bahninfrastrukturvorstand Ronald Pofalla – Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Baden-Baden wegen des fahrlässig verursachten, gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr nach §315 Abs. 1 Ziffer 4, Abs. 6 StGB.
Den Tunneleinbruch bei Rastatt bezeichnet übrigens die Deutsche Bahn AG auch heute noch als eher harmlosen Vorfall. Die Rede ist von einem „Schadensereignis“. Mehrere Tage lang war auf der DB-AG-Website zu lesen, es habe in Rastatt „Unregelmäßigkeiten bei Bauarbeiten“ gegeben. Ab Ende August und bis zum 22. September stand dort das Folgende:
„Am Samstag, 12. August 2017, kam es gegen 11 Uhr im Rahmen der Vortriebsarbeiten in der östlichen Röhre des neuen Tunnels Rastatt zu Gleisabsenkungen auf der darüber liegenden Rheintalbahn. Da die Bauarbeiten jederzeit engmaschig und durch redundante Systeme überwacht werden, wurde der Verkehr auf der Strecke Karlsruhe – Basel daraufhin zwischen Rastatt und Baden-Baden sofort eingestellt. Als präventive Maßnahme wurden die Anwohner aus vier anliegenden Häusern vorsorglich gebeten, ihre Gebäude zu verlassen.“ [Hervorhebungen von W.W.]
Das auf der DB-AG-Website abgebildete Foto zeigt dann Gleise, die nur „Verformungen“ aufweisen, jedoch weitgehend eben im Gleisbett zu liegen scheinen. Dass die Gleise um mindestens 40 Zentimeter absanken – laut Fachblatt Eisenbahn-Kurier (Heft 10/2017, S. 34-43) waren es „bis zu 80 Zentimeter“ –, dass sie enorm verformt wurden, ist bei dem Foto nicht erkenntlich. Wohl aber auf anderen Fotos, siehe dazu das zweite, dritte und vierte Foto in diesem Blogeintrag bei Drehscheibe Online.
Screenshot Drehscheibe Online (Foto: Oli K.)
Dass das „Schadensereignis“ eine Eisenbahnkatastrophe hätte auslösen können und dass die Verantwortlichen der DB und der beteiligten Baufirmen das Risiko eines solchen schweren Eisenbahnunglücks auf sich nahmen, unter anderen dadurch, dass sie nach dem Tunneleinbruch noch 16 Minuten lang Züge über die sich senkenden Gleise rollen ließen – kein Wort davon bei der DB. Gebetsmühlenartig hieß es immer wieder, es habe „keine Gefährdung des Schienenverkehrs und der Reisenden gegeben“ (so die Stellungnahme der Bundesregierung vom 20. September; DS 18/13475).
Dass das Rastatt-Desaster mit geschätzt deutlich mehr als einer Milliarde Euro Gesamtkosten der größte Schieneninfrastrukturschaden der Nachkriegszeit ist – nichts dergleichen findet sich in den Darstellungen von DB AG und Bundesregierung.
Dass sich die Schweizer Regierung bei der Deutschen Bahn AG über das Fiasko auf der Rheintalbahn offiziell beschwerte – nichts dergleichen gestehen DB und Bundesregierung ein. Stattdessen bot die Website der DB AG Mitte September und bis zum 20. September das Bild einer absurd verkehrten Friede-Freude-Eierkuchen-Bahnwelt mit der Formulierung: „Aus Sicht der DB ist es erfreulich, dass die vereinbarte Kooperation zwischen den großen europäischen Bahnen Früchte trägt. DB-Vorstandsvorsitzender Dr. Richard Lutz: ´Meine Kollegen und ich stehen in regelmäßigem Kontakt mit den Eisenbahnern in der Schweiz, in Österreich und in Frankreich. Die Zusammenarbeit funktioniert, und dafür sind wir dankbar´.“
Zieht man aktuell eine Bilanz des Rastatt-Desasters, dann haben bei der Beinahe-Eisenbahnkatastrophe von Rastatt die Deutsche Bahn mit den beteiligten Baufirmen, die Bundesregierung und die Behörden für Eisenbahnsicherheit (das Eisenbahn-Bundesamt und die Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung) auf sieben Ebenen versagt:
Dazu gehört erstens die Entscheidung für eine fragwürdige Trassenführung im Bereich Rastatt. Eine Trassenführung abseits des bewohnten Gebiets und ohne gefährliche Untertunnelung („Unterfahrung“) der Bestandsstrecke kam aus dem Beweggrund „zu billig, das könnte Schule machen“ erst gar nicht in die engere Wahl.
Zweitens wählte die Deutsche Bahn für die konkrete Untertunnelung der Rheintalbahn ein höchst problematisches und bislang auch laut DB „einzigartiges“, mit einem hohen Risiko verbundenes Bauverfahren.
Drittens wurde die Untertunnelung ohne nachvollziehbaren Zwang bei Aufrechterhaltung des Eisenbahnbetriebs durchgeführt.
Viertens erweist sich die wochenlang verbreitete amtliche Mitteilung als falsch, es habe ein plötzliches Schadensereignis (= Tunneleinbruch) und dann eine sofortige Reaktion (=Streckensperrung) gegeben. Über mehrere Tage, wenn nicht über mehrere Wochen hinweg machten Warnzeichen deutlich, dass die Bauweise kritisch war und es Erdbewegungen gab.
Fünftens ließen die Verantwortlichen bei den Baufirmen und wohl auch bei der für die Infrastruktur verantwortlichen DB AG-Tochter DB Netz nach dem Tunneleinbruch 16 Minuten lang mindestens drei Züge über die sich absenkenden Gleise rollen. Das war im hohen Grad verantwortungslos, weil dadurch das Leben vieler Menschen aufs Spiel gesetzt wurde.
Sechstens wurde bei den Tunnelarbeiten offensichtlich eine Fußgängerunterführung übersehen oder unzureichend beachtet, was den Tunneleinbruch begünstigt haben dürfte.
Siebtens verhielten sich die Bundespolizei, die Staatanwaltschaft und die zwei genannten Behörden für Eisenbahnsicherheit fragwürdig insoweit, als sie keine Sicherung des Unfallortes und keine erste Unfalluntersuchung einleiteten. Auf diese Weise konnten die Verantwortlichen (DB AG, DB Netz und die in der ARGE zusammengefassten Bauunternehmen) Beweismittel beseitigen und eine unabhängige Untersuchung des Vorgangs extrem erschweren.
Der Vorgang im Einzelnen:
1. Eine risikoreiche und überteuerte Trasse wurde gewählt.
Die Bahn wählte in Rastatt für die neue, unterirdisch geführte Verbindung bereits im frühen Stadium der Planung eine risikoreiche Linienführung; sie lehnte zugleich eine deutlich sicherere und preiswertere Trassenführung ab. Bereits Anfang der 1990er-Jahre hatte es nach in der Welt veröffentlichten Berichten und Dokumenten bahnintern heftige Kritik an dieser Linienführung gegeben. Ein beim Projekt engagierter Ingenieur schrieb im August 1992 an den Vorstand der damaligen Deutschen Bundesbahn: „Setzungsvorkehrungen, um Schäden an der Oberfläche zu vermeiden, sind [bei dieser stadtnahen Variante; W.W.] nur mit einer über Strecken vollständigen Vereisung [hervorgehoben von W.W.] oder Injektion zu beherrschen. Diese und ständig neue Erkenntnisse“ machten „den Tunnel zu einem nicht kalkulierbaren und zeitlich unüberschaubaren Wagnis.“ Tunnelvarianten, die nicht in Wohngebieten verliefen, insbesondere eine Trasse, die unter der „grünen Wiese“ und „entlang der Autobahn A5 verlaufen wäre“, wurden abgelehnt beziehungsweise als mögliche Alternativen nicht untersucht.
Warum? Zu teuer? Groteskerweise trifft das Gegenteil zu! Im Oktober 1992 antwortete der damalige Bahnvorstand Ulf Häusler dem Kritiker wie folgt: Eine „östliche Umfahrung Rastatts in Tunnellage an der Autobahn“ könne keinesfalls in Frage kommen, da damit ein „Präzedenzfall“ geschaffen und dieser dann „von der Bundesbahn an vielen anderen Stellen eingefordert werden könnte.“ Also: Lieber teuer und riskant bauen, damit es kein „Präzedenzfall“ wird, mit anderen Worten, damit niemand anderenorts eine Reduktion des Schienenlärms verlangt oder gar einklagt.
Wobei zunächst noch eineinhalb Jahrzehnte lang ein Bau in Tunnellage abgelehnt und ein Ausbau der oberirdisch verlaufenden Bestandsstrecke als offizielle Ausbauvariante galt. Klaus-Eckhard Walker, in den Jahren 1991 bis 2007 Oberbürgermeister der Stadt Rastatt, erinnert sich: „In meiner Amtszeit ging es nur noch um die Frage: Kommt der Tunnel unter Rastatt oder kommt er nicht.“ Erst als die Menschen entlang der Rheintalbahn – im übrigen parallel zu der Massenbewegung in Stuttgart gegen S21 – immer drängender Schutz vor dem Bahnlärm forderten, der mit einem oberirdischen Ausbau nochmals stärker geworden wäre, stimmten die Bahnspitze und der Bund einem Bau einzelner Streckenabschnitte – so in Rastatt und in Offenburg – in Tunnellage zu. Dabei wählten beide im Fall Rastatt mit Bedacht und vor dem Hintergrund der zitierten unlauteren Beweggründe die teure, risikoreiche – inzwischen planfestgestellte – Trassenführung.
2. Eine Entscheidung für ein höchst riskantes und „einzigartiges“ Bauverfahren wurde getroffen.
Die Bahn und die ausführenden Baufirmen entschieden sich bei der erforderlichen Unterfahrung der Bestandsstrecke im Rastatter Stadtteil Niederbühl für ein spezifisches, im vorliegenden Fall einzigartiges Verfahren. Auf einer Länge von 205 Metern wurde der den Tunnel umgebende Erdboden mithilfe eines ringförmigen Vereisungskörpers stabilisiert (1). Die nach dem Rastatt-Desaster von der DB AG vielfach vorgetragene Behauptung, das Verfahren sei im gegebenen Kontext „erprobt“, widerlegt die DB AG sogar selbst. In einer Reportage zu Rastatt der Sendung swr aktuell vom 3. August führte der DB-Vertreter Frank Roser, vorgestellt als „DB-Bauingenieur“, mit einem gewissen Ingenieursstolz aus, das gewählte Verfahren sei „insofern einzigartig […], dass eine Unterfahrung einer im Betrieb befindlichen Eisenbahnstrecke mit einer Tunnelvortriebsmaschine im Eiszylinder meines Wissens noch nie irgendwo in Deutschland bewerkstelligt wurde." Bei dieser Aussage handelte es sich nicht um seine individuelle Meinung. Auch in einer Pressemitteilung der DB vom 24. Mai ist hinsichtlich der Untertunnelung der Rheintalbahn ebenfalls von „einer ganz besonderen Herausforderung“ die Rede.
Das Gesamtrisiko wurde bei diesem „einzigartigen“ Bauverfahren noch dadurch deutlich erhöht, dass bei dem Tunnel der Abstand zwischen der Tunneloberkante und der Geländeoberfläche außerordentlich gering war. Die DB spricht von „lediglich fünf Metern“ Überdeckung. Im Fachblatt Eisenbahn-Kurier (10-2017) heißt es, die „Überdeckung“ sei „abschnittsweise kleiner als fünf Meter“. Auf der Website von DB Netze heißt es am 24. September sogar: „An einigen Stellen beträgt die Überdeckung des geplanten Tunnels weniger als vier Meter. Dies gilt für […] die Fußgängerunterführung Niederbühl.“ Letzere Unterführung war exakt der Bereich des „Schadensereignisses“ (siehe unten).
Aufgrund dieser außerordentlich niedrigen Überdeckung griffen die DB beziehungsweise die ARGE an anderen Abschnitten des Tunnelbaus zu erheblichen Hilfsmaßnahmen. Am 21. Februar teilte die DB mit: „Um einen sicheren Vortrieb unter der [Landstraße] L77 hindurch zu ermöglichen, wird die Straße auf Höhe der Murgtalstraße temporär mit Erde aufgeschüttet.“ Am 13. April hieß es in einer DB-AG-Mitteilung: „Aufgrund der geringen Überdeckung wird der Sportplatz temporär mit Bodenmaterial aufgeschüttet.“ Aufschüttungen dieser Art sind ein Notbehelf, um die allzu kritische Überdeckung teilweise auszugleichen.
Übrigens soll eine solche Aufschüttung ein weiteres Mal ab dem 4. Oktober für die L77 erfolgen, wobei die DB betont: „Dieses Verfahren wurde bereits vor dem Ereignis (!)) in Niederbühl abgestimmt“ (2).
Die Bundesregierung hat das kritische Thema „Überdeckung“ dadurch auf die Spitze getrieben, dass sie eine entsprechende Frage des MdB der Grünen, Matthias Gastel, wie folgt beantwortete: „Nach Mitteilung des Eisenbahn-Bundesamtes gibt es keine Begrenzung der Mindestüberdeckung für die Errichtung eines Tunnels.“ (DS18/13475; S. 8). Das ist grotesk; danach hätte die Überdeckung auch einen Zentimeter betragen können. Frei nach dem Motto: Dem deutschen Ingeniör ist nichts zu schwör.
3. Die Untertunnelung ohne Streckensperrung war unverantwortlich und unnötig.
Das Risiko bei der Realisierung der gewählten Tunnelvariante und Unterführung der Bestandsstrecke wurde dadurch deutlich erhöht, dass die Unterfahrung der Bestandsstrecke während des uneingeschränkten Bahnbetriebs erfolgte. Tatsächlich brach der Tunnel dann auch am helllichten Tag und bei dichtem Schienenverkehr ein. Roser in der zitierten swr-Reportage: „Der Bahnbetrieb muss nach Bahnangaben aufrechterhalten werden.“ Nach DB-Vorgaben durfte die Strecke noch nicht einmal zeitweilig gesperrt werden.
Eine besondere Gefahr für die Sicherheit ergab sich in diesem Fall dadurch, dass der äußerst dichte Schienenverkehr – mit S- und Regionalbahnen, IC-EC-, ICE- und Güterzügen – zu Erschütterungen führt, die dynamisch auf den Erdboden einwirken. Das musste die Vereisung „auflockern“ – und dies ohne Zweifel in einem solchen Ausmaß, dass dadurch der Tunneleinbruch begünstigt wurde.
Dabei war eine Untertunnelung bei laufendem Betrieb überhaupt nicht notwendig. Die DB nennt als Leistung der eingesetzten Tunnelvortriebsmaschine (TVM) mit Namen „Wilhelmine“ „bis zu 23 Meter“ pro Tag. Damit hätte die rund 30 bis 45 Meter lange direkte Unterfahrung der Bestandsstrecke einschließlich einer ersten Aushärtung des Betons, der zur Stabilisierung der Tunnelbauelemente (der „Tübbinge“) eingespeist wird, während eines verlängerten Wochenendes mit Streckensperrung durchgeführt werden können. Bei entsprechend kluger Planung der Umleitungsverkehre (einerseits über Stuttgart bis Singen über die Gäubahn und andererseits linksrheinisch über die französische Verbindungsstrecke von Strasbourg bis Mulhouse, hätten sich die Einschränkungen im Schienenverkehr auf ein akzeptables Maß reduzieren lassen.
4. Es gab keineswegs nur ein „plötzliches Schadensereignis“. Vielmehr kam es vor und nach dem eigentlichen Tunneleinbruch zu Gleisbewegungen und -senkungen. Das unterstreicht zusätzlich, dass das gewählte Bauverfahren problematisch war.
Bereits am 3. August kam es laut Eisenbahn-Kurier „unmittelbar im Bereich der Unterquerung der Oströhre unter der Rheintalbahn zu einer Gleisverwerfung“. Die DB versuchte dies, so der Bericht, durch „Handstopfarbeiten“ im Schotterbett zu beheben.
Ein Monat vor dem Baustellenunfall wies „Trainboy 111143146“ die DB über YouTube auf Auffälligkeiten im betreffenden Bahnabschnitt hin (Bericht Deutsche-Verkehrs-Zeitung vom 18.8.2017). Die DB bedankte sich explizit für die Hinweise und fügte hinzu: „Wir werden die Information an die zuständige Stelle im Unternehmen weiterleiten.“ Als die Bundesregierung im Rahmen des MdB-Gastel-Fragekatalogs zu Rastatt auf diese Warnungen hingewiesen wurde, antwortete sie wie folgt: „Nach Angaben der DB AG befand sich die Tunnelvortriebsmaschine zum Zeitpunkt dieses Hinweises noch nicht im Bereich der Rheintalbahnquerung. Ein Zusammenhang zum Tunnelvortrieb ist daher ausgeschlossen.“
Selbstverständlich bestand dieser „Zusammenhang“: Wenn es „Auffälligkeiten“ in der unterirdischen Führung im Vorfeld der Rheintalquerung gab, dann mussten diese als Warnzeichen dafür gewertet werden, dass solche Auffälligkeiten auch – deutlich kritischer zu sehen – bei der Rheintalbahn-Unterquerung auftreten könnten.
Dass generell die gewählte, oben beschriebene Bauweise problematisch war, zeigt die Mitteilung der DB AG vom 15. August, hier zusammengefasst im zitierten Eisenbahn-Kurier-Bericht, wonach „zwei Tage“ nach dem eigentlichen Einbruch „eines der Tübbing-Segmente [Betonbauelemente der Tunnelwände; W.W.] um ca. 50 Zentimeter ein(sackte).“ Nach Angaben der mit dem Bau beauftragten Baufirmen war – so der Bericht weiter – „dieses Segment schon seit einer Woche verbaut. Der Ringspaltmörtel hätte hier demnach den Tübbingsegmenten längst festen Halt geben müssen. Der Eintritt von Wasser und die Verformungen des Tübbingrings hätten so nicht passieren dürfen.“
Dazu lässt sich sagen: Hätte, hätte, Zufallskette. Oder auch: Was musste denn alles passieren, damit die Unverantwortlich-Verantwortlichen der DB die dunklen Warnzeichen an der Tunnelwand erkennen und aktiv werden?
5. Die DB und die Rastatt-Tunnel-Baufirmen ließen es zu, dass nach dem Tunneleinbruch noch 16 Minuten lang bis zu einem Dutzend Züge über die Stelle mit den sich absenkenden Gleisen rollten.
Wie bereits zitiert behauptete die DB direkt nach dem Bauunfall und bis zum 22. September, es sei am Samstag, dem 12. August, „gegen 11 Uhr“, zu dem „Schadensereignis“, einem plötzlichen Einbruch des Tunnels unter der Bestandsstrecke gekommen. Man habe dann sofort, und zwar exakt um „11.03 Uhr“, den gesamten Zugverkehr für beide Richtungen gestoppt. Diese Darstellung war definitiv unwahr.
Sie wurde von den Vertretern der Deutschen Bahn AG auf der Sondersitzung des Verkehrsausschusses des Deutschen Bundestags zum Rastatt-Desaster, die am 5. September stattfand, wiederholt. Prof. Dr. Dirk Rompf, Vorstand Netzplanung und Großprojekte
bei DB Netz AG, führte dort laut Protokoll (18/117, S. 4) aus: „Am 12. August 2017“ habe es eine „Gleisabsenkung […] in der Größenordnung von 30 Zentimetern gegeben. Die Tunnellage habe sich verändert und es sei zum Eintritt von Wasser und Erdmaterial gekommen. Die Besatzung der Tunnelvortriebsmaschine habe kurz vor 11 Uhr eine Veränderung der Tunnellage erkannt und um 11.02 Uhr den Fahrdienstleiter vor Ort informiert. Die Strecke sei um 11.03 Uhr gesperrt worden. […) Er betont, zu keiner Zeit habe es ein Sicherheitsrisiko an der Strecke gegeben. […] Daher sei das Sicherheitskonzept aufge-gangen und es habe keinerlei Gefahr für Leib und Leben bestanden.“
Damit steht fest: Die Deutsche Bahn und das Bundesverkehrsministerium verschwiegen mehr als fünf Wochen lang bewusst, dass der Tunnel in Wirklichkeit um 10.47 Uhr eingebrochen war. Sie vertuschten damit, dass nach dem Tunneleinbruch mehr als eine Viertelstunde lang Züge über die Gefahrenstelle rollten. Auf entsprechende Nachfragen während der Pressekonferenz der DB am 15. August, an der der DB AG-Konzernbevollmächtigte für Baden-Württemberg, Sven Hantel, und Bahnsprecher Jürgen Kornmann teilnahmen und über die die Badische Zeitung am 15. August ausführlich berichtete, antwortete Kornmann, man wisse nicht, welcher Zug als letzter über den dann gefährdeten Gleisabschnitt gerollt sei.
Inzwischen musste die Bundesregierung in Beantwortung des Fragenkatalogs des MdB Matthias Gastel eingestehen: „Nach Mitteilung der DB AG stellte der Schicht-Ingenieur am 12.8.2017 um 10.47 Uhr Wassereintritt im Tunnel fest. Nach Bewertung des Schadens und [in] Abstimmung mit dem Bauleiter informierte dieser um 11.02 Uhr den Fahrdienstleiter über das Ereignis. Die Streckensperrung erfolgte […] um 11.03 Uhr“ (Drucksache 18/13475).
Unterstellt, diese Darstellung ist nun die richtige, heißt bereits dies: Nach dem „Schadensereignis“ Tunneleinbruch fuhren noch 16 Minuten lang Züge über die sich senkenden Gleise. Der letzte Zug in Fahrtrichtung Karlsruhe nach Basel war nach Angaben der Bundesregierung ein „Güterzug Bau 94701 gegen 10.53 Uhr“ und der letzte in Fahrtrichtung Basel nach Karlsruhe ein „Regionalzug DPN-L 85543 um 11.03 Uhr“.
Die DB AG verschweigt dabei, wie viele Züge insgesamt nach dem teilweisen Tunneleinbruch über den nunmehr labilen Streckenabschnitt rollten – für den Monate zuvor eine Langsamfahrstelle (La) eingerichtet worden war, die jedoch weiterhin eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h gestattete.
Nach unserer Aufstellung passierten nach dem Tunneleinsturz noch mindestens drei Züge die Gefahrenzone.
Nachfolgend ein Screenshot des bahninternen Informationssystems, das in eine Tabelle kopiert wurde, um am linken Rand mit den Zahlen von 1 bis 10 eine Legende abbilden zu können. Dokumentiert werden die fahrplanmäßigen („Soll“) und die realen („Ist“) Ankunfts- und Abfahrtszeiten sowie die Abweichungen; in einigen Fällen werden die Gründe für die Abweichungen genannt. Der Screenshot enthält nur Nahverkehrszüge. Die als S-Bahn bezeichneten Züge sind mehrsystemfähige Straßenbahnen, also vergleichsweise leichte Fahrzeuge.
Screenshot Bahnhofstafel Rastatt
Die Züge mit den folgenden (von uns eingefügten) Ziffern 2, 4, 5, 7 und 8 am linken Rand fuhren planmäßig nicht über die Unfallstelle.
Die Züge 1, 3 und 6 fuhren vor dem „Schadensereignis“ über die Unfallstelle, das laut Bahn und Bundesregierung um 10:47 Uhr stattgefunden hat. Zug 6, der RE aus Konstanz, passierte die Unfallstelle nur wenige Minuten vor dem Wassereinbruch – möglicherweise haben die Vibrationen dieses RE dem instabilen Gebilde oberhalb der Tunnelbohrung „den Rest gegeben“.
Zug Nummer 10 ist der in der Antwort der Bundesregierung genannte „Regionalzug DPN-L 85543 um 11.03 Uhr“. Er erreichte Rastatt um 11:05 Uhr. Dieser Zug befand sich also im Bereich der Unfallstelle, als geschlagene 15 Minuten nach dem Wassereinbruch endlich ein Baustellenmitarbeiter den Fahrdienstleiter informierte, der dann die Strecke sofort sperrte und somit – buchstäblich in letzter Sekunde – die Abfahrt der Zuges Nummer 9 verhinderte: Dieser stand wegen seiner Verspätung noch abfahrbereit in Rastatt.
In der Tabelle nicht enthalten sind Fern- und Güterzüge. Aus der Antwort der Bundesregierung geht hervor, dass etwa sechs Minuten nach dem Wassereinbruch der „Güterzug Bau 94701 gegen 10.53 Uhr“ die Unfallstelle passierte. Auch ein Fernzug dürfte die Unfallstelle nach dem Tunneleinbruch passiert haben: Der ICE 200 auf der Fahrt von Basel nach Köln, mit planmäßiger Abfahrt in Offenburg um 10.33 Uhr, der an diesem Tag die Unfallstelle überrollt haben sollte. Gemäß DB-Informationssystem war dieser Zug pünktlich und müsste somit zwischen 10:47 Uhr und 10:49 Uhr die Unfallstelle überfahren haben. Das wäre dann exakt zu dem Zeitpunkt, als der Wassereinbruch mit teilweisem Tunneleinsturz erfolgte.
6. Bei den Tunnelbauarbeiten unter der Rheintalbahn wurde offensichtlich ein Fußgängertunnel übersehen beziehungsweise nicht ausreichend beachtet.
Nach Berichten aus dem DB-Bereich, die dem Autor vorliegen, spielt in den aktuellen Debatten über den Unglückshergang die ehemalige Fußgängerunterführung in der Nähe der Tunneleinsturzstelle eine wichtige Rolle. Diese Unterführung wurde Anfang 2016 geschlossen und laut Angaben der Bahn „mit Kies verfüllt“. Sie sollte 2018, nach Vollendung der Bauarbeiten, wieder geöffnet werden.
Hier stellen sich die folgenden Fragen: Wurde die Beschaffenheit dieser Unterführung einschließlich ihrer Ummantelung ausreichend untersucht? War Kies die geeignete Verfüllung? War die Verfüllung ausreichend dicht oder gab es Hohlräume? Und vor allem: Konnte damit die Vereisung ausreichend wirken; erfasste sie auch den Bereich der Unterführung?
Die DB beziehungsweise die von der DB beauftragte ARGE scheinen nach Schließung und Verfüllung der Unterführung selbst ein ungutes Gefühl gehabt und die Unterführung als Schwachstelle identifiziert zu haben. In einer Presseinformation von DB Netze vom 2. Juni 2017 heißt es, dass „in der Nacht von Montag, 5. Juni, […] auf Dienstag, 6. Juni, […] in Rastatt-Niederbühl im Bereich der Fußgängerunterführung […] die Lage der Gleise angepasst“ werde. In einer weiteren DB-Netze-Pressemitteilung vom 5. Juli heißt es: „Im Bereich der Fußgängerunterführung in Niederbühl“ werde in Form „von Stopfarbeiten“ der „Schotteroberbau der Gleise ausgebessert“; dies erfolge „in einem Bereich von jeweils rund 60 Metern vor und hinter der Fußgängerunterführung.“
Demnach wurde dieser kleine Streckenabschnitt, der dann dennoch einbrach, also ausgesprochen liebevoll und intensiv betreut.
Eine Erklärung für das Unglück, bei der diese Unterführung im Zentrum steht, lautet: Die Tunnelvortriebsmaschine wich aufgrund eines unerwarteten Druckunterschieds im Bereich des Bohrschildes – weil sie zum Beispiel auf die Betonwände der Unterführung gestoßen war oder weil ein deutlich reduzierter Gegendruck registriert wurde – um rund 25 Zentimeter vom geplanten Kurs aus der Längsachse ab. Zu einer solchen Kursabweichung kann es auch ohne menschliches Tun gekommen sein. Durch das Abdrehen der Tunnelvortriebsmaschine wurden hinter derselben Tübbinge (Tunnelbeton-Bauteile) so beschädigt, dass diese dem Erd- und Grundwasserdruck nicht mehr standhielten. Es folgte der Einbruch von Kies und Wasser (3).
Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang die Presseinformation DB Netze vom 5.7.2017, wonach bei den bereits zitierten „Stopfarbeiten“ im Gleisbett im Zeitraum 8. bis 10. Juli 2017 die „Mess-Sensoren und Tachymeter [sic!], die für das Monitoring der Rheintalbahn angebracht sind, demontiert“ wurden. Sie sollten „nach erfolgter Arbeit […] wieder montiert“ werden. Zu prüfen ist, inwieweit die letztere Zusage erfolgte und inwieweit dies so erfolgte, dass die Geräte zum Monitoring der Strecke einwandfrei arbeiteten.
Denn irritierend ist in diesem Zusammenhang die bereits mehrfach zitierte Rastatt- Mitteilung der Bundesregierung, in der es heißt: „Bei Auswertung des Gleismonitorings kann nach Mitteilung der DB AG festgestellt werden, dass sich die Absenkung der Gleise sehr langsam entwickelt hat. So bestand nach der Ereignismeldung bis zur eingeleiteten Streckensperrung keine Gefährdung des Schienenverkehrs und der Reisenden. Erst ab 11.18 Uhr haben die vorsorglich installierten Messsysteme eine Gleislage dokumentiert, welche nach dem oberbautechnischen Regelwerk der DB Netz AG eine Herabsetzung von 80 km/h auf 60 km/h erforderlich gemacht hätte.“
Damit sagen die Bundesregierung und die DB, die sensiblen Messsysteme hätten nach dem Wassereinbruch und nach dem teilweisen Tunneleinsturz eine halbe Stunde lang, genau von 10.47 Uhr bis 11.18 Uhr, und während mehrere Züge die Gefahrenstelle durchfuhren, keinerlei Erdbewegung und keinerlei veränderte Gleislage registriert. Darüber hinaus wird gesagt, man hätte auch nach 11.18 Uhr weiter mit Tempo 60 km/h Güterzüge und Personenzüge über die Strecke fahren lassen können.
7. Wo waren Bundespolizei, Staatsanwaltschaft und Eisenbahn-Bundesamt?
Das Rastatt-Desaster kommt einem schweren „Eingriff in den Bahnverkehr“ gleich, was nach Strafgesetzbuch mit erheblichen Strafen bewehrt ist. StGB § 315 „Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Schiffs- und Luftverkehr“ lautet:
„Wer die Sicherheit des Schienenbahn[…]verkehrs dadurch beeinträchtigt, dass er […] einen […] gefährlichen Eingriff vornimmt, und dadurch Leib und Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar.“
In den Abschnitten (5) und (6) dieses Paragrafen wird ausdrücklich auch fahrlässiges Handeln mit Strafe bewehrt. Diese Absätze lauten: „(5) Wer in den Fällen des Absatzes 1 die Gefahr fahrlässig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (6) Wer in den Fällen des Absatzes 1 fahrlässig handelt und die Gefahr fahrlässig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
Den in Rastatt entstandenen Schaden muss am Ende überwiegend der Steuerzahler begleichen; es geht um viele hundert Millionen Euro. Damit verbunden sind hohe Schadensersatzansprüche von Unternehmen. Dazu zählen diejenigen des privaten Unternehmens BTE, dessen Autoreisezug auf der Verbindung Hamburg nach Lörrach bis Ende August nach München umdisponiert und ab dem 1. September zwischen Rastatt und Offenburg über Freudenstadt und Hausach umgeleitet wurde. Zudem musste der Zug wegen der Steilstrecke im Murgtal und des Dieselbetriebs südlich von Freudenstadt verkürzt werden, was zu verminderten Einnahmen, erheblichen Mehrkosten und zum Verlust von Arbeitsplätzen führte. Hinzu kommen mögliche Schadenersatzansprüche der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB), deren Nachtzug auf der Verbindung Hamburg – Berlin – Zürich im gesamten Zeitraum der Rheintalsperrung ausfallen musste. In diesem Fall hat die Deutsche Bahn AG sich sogar geweigert, für diesen täglichen Zug eine Trasse auf der Neckartalbahn und dann auf der Gäubahn einzuräumen beziehungsweise den ÖBB durch Rangierarbeiten in Hamburg (!) zumindest den Einsatz dieses Zugs auf der verkürzten Strecke von Hamburg nach Karlsruhe zu ermöglichen. Nicht zu vergessen die Ansprüche dutzender Spediteure und Schienengüterverkehrsgesellschaften
Trotz dieser dramatischen Umstände und der zu erwartenden hohen Schadenssummen wurde nach bislang vorliegender Erkenntnis keine Bundespolizei eingeschaltet. Keine Staatsanwaltschaft nahm sich der Sache an. Die Sicherheitsbehörden, das Eisenbahn-Bundesamt und die Bundesstelle für Eisenbahnunfall-Untersuchung (BEU), erklärten sich für nicht zuständig mit der Begründung: Es habe keinen Personenschaden gegeben. Dabei erfordert ein Wirksamwerden von §315 StGB – wie der zitierte Gesetzestext verdeutlicht – keineswegs das Vorliegen von zu Schaden gekommenen Personen. Dass eine direkte und massive Gefährdung des Schienenverkehrs erfolgte, wurde mit den nach dem Tunneleinbruch die Gefahrenstelle passierenden Zügen nachdrücklich belegt.
Nun ist die Deutsche Bahn AG seit Januar 1994 keine quasi-staatliche Institution mehr; die Bundesregierungen und die DB AG selbst erklären regelmäßig, die Bahn sei eine Aktiengesellschaft und keine Staatsbahn (mehr). Dennoch konnte diese privatwirtschaftliche Aktiengesellschaft beim Rastatt-Desaster im Eilverfahren Beweismittel verschwinden lassen wie die Tunnelvortriebsmaschine „Wilhelmine“, die „das Schadenereignis“ verursacht hatte, und die einbetoniert wurde sowie die stark durchgebogenen Schienen. Es spricht auch viel dafür, dass die erwähnte Fußgängerunterführung nicht mehr untersucht werden kann, weil sie nach dem „Schadensereignis“ weggebaggert und zubetoniert wurde.
Damit konnten die Verursacher des „Schadensereignisses“ die Unglücksstelle so um- und neu gestalten, dass eine seriöse Untersuchung des Tunneleinbruchs kaum mehr stattfinden kann. Damit wurde es jedoch auch unmittelbar nach den ersten unabweisbaren Sicherungsmaßnahmen an der Baustelle unmöglich gemacht, Maßnahmen zu ergreifen, um den Schaden im Zeitraum vom 12. August bis zum 2. Oktober mit dem gut siebenwöchigen Ausfall von Zügen und mit der Umleitung vor allem von Tausenden Güterzügen zu reduzieren.
In einem Offenen Brief an Verkehrsminister Dobrindt und an die EU-Verkehrskommissarin Bulc, veröffentlicht als ganzseitige Anzeige in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. September, schrieben mehr als ein Dutzend Spediteure, Interessensverbände und Umweltorganisationen, darunter VCD und BUND:
„Es ist für viele Experten nicht nachvollziehbar, warum die Vollsperrung nicht durch den Bau einer behelfsmäßigen, einspurigen Ersatzstrecke unmittelbar nach der baubedingten Beschädigung der Rheintalbahn vermieden bzw. deutlich verkürzt werden konnte.“
Tatsächlich verfügen die Bundeswehr, das Technische Hilfswerk, aber auch die Deutsche Bahn AG selbst – hier die DB-Tochter DB Bahnbau Gruppe – über Behelfsbrücken und zwar bis zu einer Gesamtlänge von 31 Metern. Doch es wurde offensichtlich nicht einmal geprüft, ob eine Behelfsbrücke kurzfristig eingebaut werden könnte.
Rastatt und Stuttgart 21
Das Desaster von Rastatt ist von größter Bedeutung für das teuerste deutsche Infrastrukturprojekt: für Stuttgart 21. Hier schnellten laut Bericht des Bundesrechnungshofs (BRH) von Oktober 2016 die Gesamtkosten bereits auf mehr als 10 Milliarden Euro hoch; das heißt, sie liegen nochmals um 50 Prozent höher als das Niveau, das offiziell bekannt ist und das der Aufsichtsrat der DB genehmigte. Der BRH sprach in seinem Bericht auch die Frage eines Ausstiegs aus dem Projekt an. Die Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21, die sich nunmehr seit mehr als sechs Jahren an jedem Montag zu ihrer Montagskundgebung und Demo trifft, vertritt selbstverständlich die Position „Ausstieg – jetzt!“ – ergänzt um die Forderung nach „Umstieg21“. Dieser Begriff umschreibt eine seit Sommer 2016 vorliegende, detaillierte Planung, wie nach einem S21-Baustopp der größte Teil der bisherigen Baumaßnahmen im Rahmen der Gesamtalternative mit Erhalt des Kopfbahnhofs kreativ umgenutzt werden kann.
Das Rastatt-Desaster ist für das Großprojekt Stuttgart 21 in dreifacher Hinsicht von Bedeutung:
Erstens unterstreicht Rastatt, dass die Verantwortlichen bei der Deutschen Bahn und bei den beauftragten Bauunternehmen (die Firmen Ed. Züblin und Hochtief sind auch bei S21 aktiv!) entweder nicht über die erforderlichen Fachkenntnisse verfügen oder Russisch Roulette spielen. Wobei in der Realität wohl beides miteinander kombiniert ist.
Zweitens zeigt Rastatt, dass Schienenverkehr für die maßgeblichen Politiker, aber auch für einige Herren an der Bahnspitze von sekundärer Bedeutung ist und dass es weiterhin eine Priorisierung gerade derjenigen Verkehrsarten gibt, die für das Klima besonders schädlich sind. Siehe die Air-Berlin-Sondersubvention in Höhe von 150 Millionen Euro vom Sommer 2017, während gleichzeitig die Spediteure, die mit dem Rastatt-Desaster existentiell bedroht sind, keine vergleichbare Hilfe erhalten.
Obwohl mit dem Fiasko bei Rastatt die Aorta des europäischen Nord-Süd-Schienenverkehrs für sieben Wochen unterbrochen und ein Schaden von vielen hundert Millionen Euro entstanden ist, tauchten die Verantwortlichen in der Bundesregierung und der Deutschen Bahn AG wochenlang schlicht ab. Es war die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die in ihrer Ausgabe vom 11. September auf die krasse Ungleichbehandlung bei den Fällen Air Berlin und Rastatt verwies:
„Bei Air Berlin war die Bundesregierung mit Soforthilfe schnell zur Stelle. Die wirtschaftlich nicht minder bedeutsamen, aber öffentlich weniger diskutierten Verluste im Gefolge der Rheintalbahn-Sperrung versuchen die Verantwortlichen in Berlin auszusitzen […] im Zweifel bis nach der Bundestagswahl. […] Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) hat dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und der Deutschen Gesellschaft für kombinierten Güterverkehr (Kombiverkehr) […] [auf ein entsprechendes Schreiben mit der Aufforderung nach Soforthilfe von Ende August; W.W.] nicht einmal geantwortet. Auch der gleichlautende Brief der Kombiverkehr an die scheidende Wirtschaftsministerin Brigitte Zypries (SPD) blieb bis dato ohne Reaktion. […] Eine Anfrage dieser Zeitung, warum es bis dato keine Reaktion gibt, ließ das Bundeswirtschaftsministerium unbeantwortet. Verkehrsminister Dobrindt lässt verlauten, das Schreiben [wohlgemerkt ein zu diesem Zeitpunkt mehr als drei Wochen altes Schreiben; W.W.] werde ´derzeit bearbeitet´.“
Vergleichbar kritisch wird im Handelsblatt vom 30.8. die Rolle des Infrastrukturvorstands Pofalla gesehen: Dieser sei nach dem Rastatter Unglück abgetaucht, um die Angelegenheit „abzusitzen“. Dabei wurde dieser Mann – zumindest vor Rastatt und vor der Bundestagswahl – als zukünftiger Bahnchef gesehen.
Drittens steht Rastatt wie ein Menetekel für die S21-Tunnelbauten. Auch in Stuttgart sind Tunnelbaumaßnahmen mit der Vereisungstechnik bei einem Vortrieb mit Tunnelbaumaschinen vorgesehen beziehungsweise bereits erfolgt. Hinzu kommt: Der Abstand zwischen der Tunneldecke und dem Gleisbett war in Rastatt fast doppelt so groß wie der Abstand bei einigen geplanten Tunnelabschnitten in Stuttgart, also zwischen der jeweiligen S21-Tunneldecke und dem Kellerboden beziehungsweise den Fundamenten einiger Gebäude in Stuttgart. Wenn in Rastatt in einem relativ wenig bebauten Gebiet eine Unterführung übersehen oder deren Zustand nicht ausreichend untersucht wurde, dann ist die Wahrscheinlichkeit wesentlich größer, dass vergleichbare nicht oder unzureichend registrierte Untergrundbauten und Hohlräume im wesentlich dichter bebauten und seit Jahrhunderten intensiv durchwühlten Stuttgarter Untergrund existieren.
Vor allem aber gilt: Der Untergrund in Rastatt war einigermaßen bekannt und relativ berechenbar. Im Rheintal geht es „nur“ um Kies. Der Untergrund bei den insgesamt 60 Kilometer langen S21-Tunnelbauten besteht jedoch auf einer Länge von 16,7 Tunnelkilometern aus Anhydrit, aus absolut unberechenbarem Gipskeuper. Dass bereits eher unbedeutende Geothermie-Bohrungen im Anhydrit dazu führen können, dass der Boden unter einer ganzen Stadt bislang ein Jahrzehntlang angehoben wird, kann man in Staufen im Breisgau beobachten. Womit sich eine Art magisches Dreieck ergibt: Rastatt liegt 114 km von Staufen und 146 km von Stuttgart entfernt. Die Gefahrenquelle Anhydrit wiederum steht im Zentrum des Gutachtens, das die Prüfgesellschaften KPMG und Ernst Basler + Co. im Oktober 2016 dem Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG vorgelegt hatten. Dieses Aufsichtsgremium hat es bis heute vermieden, den brisanten Bericht, in dem unzweideutig Tunnelbauten im Anhydrit als unberechenbares Risiko beschrieben werden, zu debattieren. Der Bericht ist als „streng vertraulich“ klassifiziert“; er wird bis heute vor der Öffentlichkeit geheim gehalten (4).
Der Zusammenhang zwischen dem Rastatt-Desaster und Stuttgart 21 könnte ein wesentlicher Grund dafür sein, dass der Bahnkonzern und die Verantwortlichen im Bundesverkehrsministerium den Rastatter Schadensort derart wieselflink mit Beton deckeln ließen und deutlich günstigere Zwischenlösungen wie eine Behelfsbrücke erst gar nicht in Betracht zogen.
Mit diesem Vorgehen in Rastatt soll auch jede weitere Diskussion gedeckelt und vermieden werden, dass die erforderlichen Konsequenzen – insbesondere diejenigen für Stuttgart 21 – gezogen werden.
Das gilt auch für den erwähnten Fußgängertunnel. Ende August ließ die Deutsche Bahn mitteilen, „die Fußgänger-Unterführung an der Baugrube im Ortsteil Niederbühl“ müsse „abgerissen“ werden (5).
Tunnelvortriebsmaschine einbetoniert. Geknickte Schienen abgebaut. Unterführung abgerissen. Über der Unfallstelle eine massive Betondecke. Das Rastatt-Desaster könnte noch heftige Nachwehen haben.
Eine seriöse, verantwortungsbewusst handelnde Landesregierung beziehungsweise eine Mehrheit der baden-württembergischen Landtagsabgeordneten müssten einen Rastatt-Untersuchungsausschuss einrichten – nicht zuletzt, um der Gefahr einer Wiederholung eines vergleichbaren Desasters bei den S21-Tunnelbauten zu begegnen. Denn auf derart viel Glück im Unverstand, wie es die Verantwortlichen bei der Deutschen Bahn AG, bei den Baufirmen Ed. Züblin und Hochtief Solution und in der Bundesregierung im Fall Rastatt hatten, kann man bei den wesentlich umfassenderen und deutlich riskanteren Bauvorhaben in Stuttgart21 nicht bauen.
Anmerkungen:
(1) Die Beschreibung des Verfahrens sieht laut DB aus wie folgt: „Im ersten Schritt wurden auf der östlichen und westlichen Seite der Rheintalbahn je Röhre zwei Vereisungsschächte errichtet. Aus diesen Schächten wurden von Juni 2016 bis Mai 2017 die rund 200 horizontalen Vereisungsbohrungen hergestellt. Die Gefrierrohre werden als geschlossenes Kreislaufsystem im Boden betrieben. Dazu zirkuliert eine Kühlflüssigkeit (Sole) mit einer Temperatur von bis zu minus 33 Grad Celsius in den Gefrierrohren und entzieht dem Boden die Wärme. So bildet sich mit der Zeit um die Gefrierrohre herum ein Frostkörper, der sich schließlich mit denen der anderen Rohre verbindet, so dass sich ein Eisring bildet. Das Bodenwasser wird dadurch nicht nur verfestigt; das Eis übernimmt zugleich eine abdichtende Funktion.“ Nach: Mitteilung DB Netze vom 25.7.2017.
(2) Pressemitteilung der DB vom 29. 9.2017. Es geht nun um die Untertunnelung der L77 durch die zweite (noch in Betrieb befindliche) Tunnelvortriebsmaschine, die die westliche Tunnelröhre bohrt.
(3) Entsprechende Debatten wurden im Internetforum „Drehscheibe“ seit dem 14. August geführt. An diesem Tag erfolgte von einem Autor mit Deckname „Traumflug“ der folgende Eintrag: „Es gab eine Aussage, dass ein Hohlraum vorhanden gewesen sein könnte. Daraus konstruiere ich, dass damals um die Füßgängerunterführung (hat dazu jemand ein Baudatum?) mit abweichendem, möglicherweise zu grobem Material die Baugrube verfüllt wurde. So ist denkbar, dass hier die Vereisung aufgrund schlechter Wärmeleitfähigkeit zusammen mit den Niederschlagsmengen der letzten Tage nicht die erforderliche Festigkeit erbracht hat. Ein Absacken der Überdeckung im Bereich des Schneidrades ist somit für mich am naheliegensten.“
(4) Der Bericht liegt dem Autor vor. Er wurde ausführlich dokumentiert und ausgewertet im unten angeführten neuen Buch zu Stuttgart 21.
(5) Die Mittelbadische Presse – Zeitung der Ortenau vom 31. 8. klagte: „Damit wird die Verbindung zwischen dem Ort und der Sporthalle unterbrochen. Rastatts OB Hans-Jürgen Pütsch […] fordert gleichwertigen Ersatz.“
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