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Die Aufweichung

Die Aufweichung

Die Partei „Die Linke“ ist dabei, eine ganz normale Partei zu werden, und bereitet sich vor, ihren friedenspolitischen Kurs aufzugeben.

Vorbemerkung: Der Parteivorstand der LINKEN beschloss am 23. Januar 2021 (Beschluss 2021/015):

„Keine Aufweichung friedenspolitischer Positionen

Der Parteivorstand sieht keinen Anlass, von den friedenspolitischen Positionen der Partei abzurücken, und stellt daher klar:

  • Die Bundeswehr muss aus allen Auslandseinsätzen zurückgeholt werden, neue Auslandseinsätze lehnen wir ebenfalls ab, unabhängig davon, unter welcher Organisation sie stattfinden.
  • DIE LINKE setzt sich für eine schrittweise Abrüstung der Bundeswehr ein, die kriegsführungsfähigsten Teile sollen zuerst abgerüstet werden. Die Abrüstung ist zu begleiten durch Konversionsprogramme für die Beschäftigten in der Rüstungsproduktion, für die Soldatinnen und Soldaten und für die Liegenschaften der Bundeswehr. Unser Ziel bleibt ein Deutschland, ein Europa, eine Welt ohne Kriege und Armeen.
  • Zustimmung zu Aufrüstungsprojekten ist dementsprechend mit der LINKEN nicht vereinbar.
  • Wir fordern die Auflösung der NATO und ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands, das Abrüstung als ein zentrales Ziel hat.
  • Eine europäische Armee und andere Vorhaben der Militarisierung führen nicht zu mehr Sicherheit für die Menschen in Europa, sondern sichern nur Konzerninteressen militärisch ab.

Unser Ziel bleibt eine friedliche Welt, eine Welt, in der Geld für Bildung, Soziales, Gesundheit, Entwicklungshilfe und Forschung ausgegeben wird, nicht für das Militär.“

Mit diesem Beschluss unterstreicht der Parteivorstand deutlich die Gültigkeit des Erfurter Programms.

Im Folgenden möchte ich das Diskussionsangebot des Genossen Matthias Höhn annehmen und eine Replik formulieren, die sich im Einklang mit dem Erfurter Programm befindet.

Münchner Konsens

Ich nahm an der Münchner Sicherheitskonferenz (SiKo), die vom 31. Januar bis 2. Februar 2014 tagte, teil und konnte mir daher einen persönlichen Eindruck von der Herbeiführung des sogenannten Münchner Konsenses und der sehr angespannten Lage im Bayerischen Hof, Tagungssort der SiKo, wegen der Konflikte in der Ukraine verschaffen.

Der „Münchner Konsens“ stellte eine konzertierte Aktion des damaligen Außenministers Steinmeier (SPD), der damaligen Verteidigungsministerin von der Leyen (CDU) und des damaligen Bundespräsidenten Gauck dar.

Kernbehauptung dieses Konsenses ist, die Welt rufe nach mehr deutscher Verantwortung in der Weltpolitik, und das müsse die Bevölkerung in Deutschland verstehen und akzeptieren — ungeachtet der Kosten oder etwaiger pazifistischer Ansprüche der Bevölkerung.

Damit wurde der Anspruch an die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik formuliert. Alle im Bundestag vertretenen Parteien — minus DIE LINKE — übernehmen und praktizieren diesen Anspruch im tagespolitischen Geschäft wie auch in ihren strategischen Konzeptionen und Programmen.

Um ein Missverständnis zu vermeiden: Ich wende mich nicht gegen mehr Verantwortungsübernahme. Im Gegenteil: Deutschland könnte in der Bekämpfung der Pandemie derzeit mehr Verantwortung übernehmen in und außerhalb der Europäischen Union (EU) oder bei Naturkatastrophen entsprechend mehr zivile Hilfe leisten. Oder aber bei Hungerkatastrophen wirkliche Hilfe leisten et cetera.

Aber genau das ist mit dem Begriff Verantwortungsübernahme nicht gemeint, worauf Matthias Höhn auch richtigerweise hinweist. Gemeint ist vielmehr militärische Machtprojektion bis in den indopazifischen Raum für das vermeintlich „Gute“ — also für deutsche und westliche Interessen.

Ein wenig sarkastisch ausgedrückt, könnte man den hier verwendeten Verantwortungsbegriff auch als modernisierten Euphemismus für die Metapher des „Platzes an der Sonne“ — geäußert vom damaligen Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Bernhard von Bülow, 1897 im Deutschen Reichstag — bezeichnen. Damit wurde der grundlegende koloniale Anspruch des Deutschen Reiches formuliert.

Zurück zum Münchner Konsens: Dieser wurde geschlossen während der Unruhen auf dem Kiewer Maidan. Drei Wochen später — 21. bis 22. Februar 2014 — wurde der damalige ukrainische Präsident Janukowitsch mit Unterstützung — mindestens aber mit wohlwollender Duldung — der informellen EU-Außenminister-Troika, darunter der deutsche Außenminister Steinmeier, weggeputscht. In den folgenden Märzwochen separierte sich die Krimhalbinsel mit handfester Unterstützung Russlands von der Ukraine und schloss sich der Russischen Föderation an. Mit welchen Termini dieser völkerrechtswidrige Vorgang letztlich zu fassen ist, darüber streiten sich die Geister bis heute (1). Kurz darauf wurde dann auch in der Ostukraine gekämpft.

Aber genau dieser zeithistorische Verlauf und damit einhergehend der deutsche und westliche Anteil an der Eskalation in und um die Ukraine fehlen in der Darstellung von Matthias Höhn. Seine Ausführungen beginnen, wie auch im offiziellen politischen Narrativ im Westen, erst mit dem Krimkonflikt und dem Aufflammen des bewaffneten Konflikts in der Ostukraine, womit fast zwangsläufig der Eindruck entsteht, die Russische Föderation hätte den Konflikt alleinig zu verantworten.

Im Anschluss beschreibt Genosse Höhn die Aussage des Weißbuchs 2016, wonach Russland angesichts der Vorfälle in der Ukraine eine Bedrohung für den Westen darstelle und die NATO und die EU die Konfliktsituation in und um die Ukraine nutzten, um eine „Kehrtwende“ in den Rüstungsausgaben zu begründen. Matthias Höhn begnügt sich mit einer rein deskriptiven Darstellung des im Weißbuch Dargestellten. Ein Hinterfragen dieses Narrativs findet seinerseits nicht statt.

„Globale Aufrüstung“ und „Multilaterale Abrüstung und Rüstungskontrolle“

Es wird auf die globale Aufrüstung eingegangen. Richtigerweise werden die Ausgaben der NATO-Mitgliedsstaaten für 2019, welche sich auf über eine Billion US-Dollar belaufen, benannt. Danach werden die Militärausgaben Russlands, Chinas und Indiens aufgezählt und diese Ausgaben als „massiv nachgezogen“ bezeichnet. Leider versäumt es Genosse Höhn, die Ausgabenrelationen abzubilden.

Das möchte ich hier an dieser Stelle in gebotener Kürze als Serviceleistung nachholen:
Die NATO-Mitgliedsstaaten geben etwa insgesamt 16- bis 17-mal mehr aus als Russland und etwa 4-mal mehr als China.

Die Darstellung dieser Relationen sagt eine Menge über militärische Dominanz aus. Gänzlich fehlen in diesem Abschnitt die Vergleichszahlen an konventionellen Großwaffensystemen und Personalstärken (2). Diese wären leicht herauszufinden gewesen. Empfehlenswert ist das sehr seriöse International Institute for Strategic Studies (IISS, Internationales Institut für strategische Studien) mit seinem jährlich erscheinenden Standardwerk „The Military Balance“, hier die Ausgabe für 2020. So stehen in der NATO rund 3,6-mal mehr Soldaten im Dienst als in der Russischen Armee. Ähnlich verhält es sich bei den Großwaffensystemen.

Auch mit Blick auf den unter derselben Überschrift behandelten Niedergang des Internationalen Rechts und des Multilateralismus ist eine Anwendung der Äquidistanzmethode erkennbar:

Das vertragsbrechende und sicherheitspolitisch destruktive Verhalten der USA und Russlands wird gleichgesetzt. Es sind jedoch die USA, die den INF-Vertrag (Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte-Vertrag), den Open-Sky-Vertrag (Vertrag über den Offenen Himmel) und den ABM-Vertrag (Rüstungskontrollvertrag zwischen den USA und der Sowjetunion) verlassen beziehungsweise aufgekündigt beziehungsweise den A-KSE-Vertrag (Anpassungsabkommen zum Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa) nicht ratifiziert haben. Russland ist infolgedessen ausgetreten.

Warum? Bilaterale Verträge mit sich selbst ergeben logischerweise wenig Sinn. Zu hoffen bleibt, dass die neue US-Regierung ernsthaft den NEW-Start-Vertrag (Atomares Abrüstungsabkommen zwischen Russland und den USA) verlängert. Der Open-Sky-Vertrag ist zwar ein multilateraler Vertrag, aber ein Verbleib Russlands ohne die USA schafft eine Aufklärungsasymmetrie zugunsten der NATO, da die übrigen Vertragsteilnehmer fast ausschließlich NATO-Staaten sind. Somit wäre es mehr als naiv zu glauben, dass die NATO-Staaten ihre Aufklärungsinformationen nicht den USA, über welche Kanäle auch immer, zur Verfügung stellten.

Mattias Höhn betont das „erhebliche Potenzial an taktischer Nuklearbewaffnung seitens der Russischen Föderation“ und sieht dringenden Handlungsbedarf. Die militärstrategischen Hintergründe für das hohe Potenzial taktischer Atomwaffen Moskaus werden jedoch von ihm verschwiegen: nämlich die massive Überlegenheit der NATO im Bereich der konventionellen Waffensysteme sowie die personelle Überlegenheit — wie bereits oben ausgeführt.

Für die Russische Föderation ist der hohe Bestand an taktischen Atomwaffen die Kompensation für die konventionell-militärische Überlegenheit der NATO, die Russland weder personell noch finanziell ausgleichen kann. Dieser Umstand wird auch in hiesigen sicherheitspolitischen Kreisen durchaus so benannt. Hinzu kommt, dass die NATO nach Osten — einschließlich postsowjetischer Republiken — an die russischen Grenzen erweitert wurde. Mit anderen Worten: Die NATO hat ihre militärische Infrastruktur nach Osten verlegt, nicht umgekehrt.

Geopolitische Veränderungen

„Die Welt sortiert sich geopolitisch neu“, so die Feststellung im Diskussionspapier. Das ist richtig! Der von den USA geführte Westen verliert an politischer und ökonomischer Macht — relativ und absolut. Hinzu kommt: Der Westen ist kein homogener Block mehr, was den eigenen Machtanspruch weiter schwächt. Aber auch hier wird die Äquidistanzmethode erneut bemüht. Und das geht an der Realität vorbei:

Die unipolare Weltordnung ist Geschichte. Das ist gut so.

Wir befinden uns in den Anfängen einer multipolaren Welt(un)ordnung. Ob diese nun in eine rechtsbasierte Weltordnung mündet — wünschenswert und überlebenswichtig — oder in eine Staatenanarchie — Kriege und Konflikte in unterschiedlichen Dimensionen —, bleibt abzuwarten. Die außen- und sicherheitspolitische Rolle Deutschlands auch über das Vehikel EU in diesem Prozess ist nicht irrelevant. Derzeit stehen die Zeichen auf Staatenanarchie angesichts des Niedergangs des Internationalen Rechts — auch mit Schützenhilfe Deutschlands.

Die im politischen Berlin gerne zitierte „regelbasierte Ordnung“ ist eben die westliche Ordnungsvorstellung von strukturell und militärisch abgesicherter Dominanz — nicht das allgemeine Völkerrecht und schon gar nicht die Charta der Vereinten Nationen (UN). Diese „regelbasierte Ordnung“ soll das UN-Völkerrecht vielmehr ersetzen — zumindest in wesentlichen Bereichen. Denn das UN-Völkerrecht stützt den westlichen Dominanzanspruch nicht. Also soll eine andere Rechtsgrundlage — beispielsweise sind „Responsibility to Protect“ (R2P, Schutzverantwortung) und die „Unable-Unwilling“-Doktrin bereits praktizierte Interventionsdoktrinen — gewohnheitsrechtlich etabliert werden.

Vor allem China, aber auch Russland akzeptieren die westlich determinierten, internationalen Ordnungsvorstellungen und die sie tragenden internationalen Institutionen in dieser Form nicht mehr. Sie fordern mehr Mitsprache in diesen Institutionen und gründen ihrerseits selbst welche, meist mit regionalem oder überregionalem Charakter. Auch der sogenannte globale Süden ist nicht mehr bereit, die westliche Dominanzordnung des 20. Jahrhunderts weiterhin zu akzeptieren.

Für eine Linke stellt sich die Frage, warum der Westen eine Partnerschaft auf Augenhöhe mit Russland und China und insgesamt auch mit dem globalen Süden ablehnt und stattdessen auf deren fortgesetzter Unterordnung insistiert — im Zweifel auch mit militärischer Machtprojektion und unilateralen Sanktionen. Es sind zuallererst und zuallermeist die USA — gelegentlich die Europäer im Schlepptau –, die im Kampf um strategische und ökonomische Einflusssphären auf militärische Mittel, unilaterale Sanktionen und Regime Change setzen.

Richtig ist: Auch Russland hat sich diese Instrumente zu eigen gemacht, so in Syrien, in Georgien oder mehr oder minder in der Ostukraine nach dem vom Westen unterstützten Putsch in Kiew. In Georgien ging 2008 der militärische Angriff vom Regime M. Saakaschwilis auf Südossetien und die dort stationierten gemischten Friedenstruppen — russische, südossetische und georgische Einheiten — aus. Russland reagierte militärisch und wenig später diplomatisch in Form der diplomatischen Anerkennung Südossetiens und Abchasiens — ganz nach dem Muster westlicher Anerkennungspolitik bei der Zerschlagung Jugoslawiens. In Syrien intervenierte Russland im Oktober 2015 — auf Einladung der syrischen Regierung und damit völkerrechtskonform —, nachdem die vom Westen unterstützten Islamisten, einschließlich des Islamischen Staats (IS), Damaskus zu überrollen drohten. Dies ist keine Rechtfertigung für das Handeln Russlands, es ist aber ein Verweis darauf, dass der von den USA geführte Westen diese Instrumente wesentlich häufiger und auch deutlich massiver einsetzt.

Diese Umstände nicht zu benennen, sondern eine Äquidistanz herzustellen, geht schlichtweg an den Fakten vorbei und führt zu einer Relativierung des militärisch basierten Dominanzstrebens der USA und der westlichen Verbündeten — so auch Deutschlands.

NATO

Die NATO als „Verteidigungsbündnis“ zu bezeichnen, so wie es in dem Papier von Matthias Höhn getan wird, ist wahrlich ein Euphemismus. Zwar ist sie dies laut NATO-Statut, aber spätestens mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf Jugoslawien 1999 hat die NATO einen anderen Anspruch erhoben. Noch Anfang/Mitte der 1990er-Jahre formulierte sie einen Gestaltungsanspruch jenseits der Bündnisgrenzen. Der damalige US-Senator brachte es auf den Punkt: Entweder die NATO sucht sich neue militärische Spielwiesen oder sie wird untergehen („go out of area or out of business“) (3).

Noch während der Bombardierung Belgrads und anderer Städte Jugoslawiens vollzog die NATO nun programmatisch im neuen strategischen Konzept 1999 nach, was sie seit Jahren in Jugoslawien praktizierte: den Anspruch, die UN als Globalorganisation in Fragen der Gestaltung globaler Ordnung und Sicherheit abzulösen.

DIE LINKE hat sich in ihrem Grundsatzprogramm deutlich gegen die NATO ausgesprochen, ohne jedoch ein sicherheitspolitisches Vakuum zu hinterlassen. Im Gegenteil: Es wird faktisch ein Komplementärprozess im Grundsatzprogramm eingefordert:

„Wir fordern die Auflösung der NATO und ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands, das Abrüstung als ein zentrales Ziel hat.“

Die Passage von Matthias Höhn hingegen suggeriert aber genau dieses Sicherheitsvakuum und die daraus resultierende „Nationalisierung von Sicherheitspolitik“ — eine Argumentationsfigur, die eigentlich nur von NATO-Befürwortern in Deutschland herangezogen wird.

„Sicherheit in Europa organisieren“

Matthias Höhn plädiert für die Schaffung einer EU-Armee. Die Idee einer EU-Armee beziehungsweise einer EU-Verteidigungsunion kursiert seit Langem durch Brüssel, Paris und Berlin. Scheinbare Auslöser sind der Brexit und die Position der USA. Beide Argumentationen verschleiern, dass es tatsächlich schon seit Anfang der 1990er-Jahre Überlegungen zu einer sicherheitspolitischen und militärischen Integration gibt.

Um der mangelnden Begeisterung in den europäischen Gesellschaften für einen forcierten Militarisierungsprozess der EU etwas entgegenzusetzen, kommen der Brexit, aber vor allem die US-Präsidentschaft von Donald Trump und sogar die Präsidentschaft von Biden, des neuen US-Präsidenten, gelegen: Die EU werde mit dem Brexit einen starken ökonomischen und militärischen Akteur verlieren. Um die EU zu einem Global Player zu entwickeln, bedürfe es nun angesichts des Austritts Großbritanniens noch größerer militärischer Anstrengungen, so der Tenor.

Im Zusammenhang mit dem alten US-Präsidenten Donald Trump wurde eine abnehmende Bereitschaft des „militärischen Engagements“ der USA in Europa vermutet, was quasi automatisch eine europäische Aufrüstung und Militarisierung erforderlich mache. Mit Biden, der stärker auf die europäischen Partner eingehen will, wird nun argumentiert, die EU werde nur auf Augenhöhe von den USA respektiert, wenn sie auch militärisch etwas zu bieten hätte.

Kurzum: Die EU müsse ein militärischer Globalakteur werden — entweder mit den USA oder ohne sie. Egal, welches Szenarium durchgespielt wird: Am Ende steht immer die angebliche Notwendigkeit, die EU zu einem Global Player mit militärischen Potenzen fortzuentwickeln.

Es geht den Befürwortern einer EU-Armee genau genommen nicht um den Aufbau einer territorialen Verteidigungsfähigkeit für den EU-Raum, zumindest nicht prioritär. Es geht ihnen auch nicht primär darum, das EU-Binnenverhältnis durch eine militärische Unitarisierung friedenssicher zu machen, dass also eine EU-Armee bei gleichzeitiger Auflösung der nationalen Armeen der EU-Mitgliedsstaaten den Frieden innerhalb EU-Europas allein strukturell festigen würde.

Ihr Ziel ist vielmehr, eine EU-Armee zu generieren, die eine global operierende Fähigkeit entfalten kann, um den Kapital- und Machtinteressen im Großmächtewettbewerb auch militärischen Nachdruck verleihen zu können. Nichts anderes steckt hinter Aussagen wie die EU sei ein „wirtschaftlicher Riese, ein politischer Zwerg und ein militärischer Wurm“ (4). Die entscheidende Frage bleibt jedoch: Ist ein EU-Imperialismus für die Opfer imperialer Machtprojektion erträglicher als ein US-Imperialismus oder irgendein anderer Imperialismus?

Hinzu kommt: Matthias Höhn kritisiert zu Recht den „nationalistischen Furor in Europa“. Nur: Stellt eine Ablösung des klassischen Nationalismus durch einen EU- oder Europa-Nationalismus eine positive Lösung dar? Es wäre lediglich ein Nationalismus mit breiterer räumlicher und kultureller Dimension — aber es bliebe ein Nationalismus. Mehr noch, ein EU-Nationalismus unter deutscher Dominanz. Vertreter deutscher Macht- und Wirtschaftsinteressen können sich bestens hinter dem EU-Nationalismus verstecken.

Des Weiteren würde eine EU-Armee das Ende der parlamentarischen Beteiligung bei der Entsendung der Armee in einen Auslandseinsatz oder auch bei größeren Rüstungsbeschaffungen bedeuten, zumindest aber würde das Mitspracherecht massiv eingeschränkt werden.

Die militärpolitische Kultur und die parlamentarische Beteiligung werden in anderen EU-Staaten sehr restriktiv oder gar nicht gehandhabt. Und wer sich an die Debatte um eine Reform des Parlamentsbeteiligungsgesetzes vor einigen Jahren erinnert — ich war seinerzeit der Zuständige für die Fraktion —, konnte bemerken, wie vor allem die Konservativen eine Schleifung der parlamentarischen Mitwirkung und Kontrolle einforderten, um mit den EU-Verbündeten eine „effektivere“ Kooperation im militärischen Bereich bewerkstelligen zu können.

„Zwei Prozent in Sicherheit investieren“

Dieser Vorschlag wirkt auf den ersten Blick interessant. Schärft man jedoch den Blick, so muss klar sein, dass militärische Ausgaben, Rüstungsmaßnahmen et cetera nie losgelöst von dem sicherheitspolitischen Umfeld zu diskutieren sind. Orientiert man sich an fixen Zahlen oder Prozenten des Bruttoinlandsprodukts (BIP) als Referenzpunkt statt am strategischen und sicherheitspolitischen Umfeld, verkennt man die Problemlage:

Wird ein Staat ernsthaft militärisch bedroht, können ein, zwei oder auch fünf Prozent BIP-Anteil zu wenig sein, um sich gegen einen — potenziellen — Aggressor zu verteidigen. Befindet sich ein Staat in einem stabilen und friedlichen Umfeld, und das auf absehbare Zeit, so ist auch 1 Prozent BIP-Anteil nicht zu rechtfertigen. Zu warnen ist unbedingt vor der Koppelung militärischer Ausgaben mit nicht-militärischen Ausgaben. Erstens gilt auch hier, dass BIP-Prozentzahlen keinen Referenzpunkt für eine seriöse Politik darstellen können, sondern die sicherheitspolitischen Notwendigkeiten der Referenzrahmen sein müssen. Zweitens würde diese Forderung den Befürwortern höherer Ausgaben das Argument an die Hand geben, dass man ja auch für nicht-militärische Mittel die gleiche Summe ausgebe. Weiter gedacht: Würden die militärischen Ausgaben gesenkt, müssten auch die nicht-militärischen Ausgaben gesenkt werden.

Auf die außen- und sicherheitspolitischen Realitäten Deutschlands heruntergebrochen bleibt festzustellen: Deutschland wird von keinem Staat in dieser Welt im konventionellen oder nuklearen Sinne bedroht. Daher ist eine massive personelle und materielle Abrüstung der Bundeswehr für Linke der einzig gangbare Weg. Wie weit diese Abrüstung gehen muss und soll, bedarf umfassender Untersuchungen, die hier nicht zu leisten sind.

„Gewaltmonopol der Vereinten Nationen durchsetzen“

Das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen ist seit der Gründung bis heute nicht im Geiste der UN durchgesetzt worden. Vielmehr nutzen oder besser missbrauchen die Großmächte die UN als Bühne für ihre Machtinteressen. Diese Verhaltensweise kristallisiert sich institutionell im UN-Sicherheitsrat heraus. Die Umsetzung des Gewaltmonopols der UN verlief, wenn es dann mal zu einem Beschluss des Sicherheitsrates kam, zumeist im Interesse einer oder mehrerer Großmächte, nicht aber, um dem Gründungsgedanken der UN und dem Geist eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit gerecht zu werden. Es ist zutreffender, von einem Gewaltoligopol der Großmächte denn von einem Gewaltmonopol derUN zu sprechen.

Kurzum: Unter den jetzigen Bedingungen und Strukturen der UN wäre die Zustimmung zu UN-geführten, mehr noch zu rein UN-mandatierten, aber von interessengeleiteten Großmächten militärisch umgesetzten Einsätzen nichts weniger, als den Interessen dieser Großmächte und deutschen Großmachtambitionen zu dienen. Es wäre eben kein „Gegenentwurf zu dem Wild-West-Denken der Cowboys dieser Welt“, wie Matthias Höhn es formuliert. Es wäre nur eine Teilnahme an diesem „Wild-West-Denken“ mit einem UN-Feigenblatt, was den Rechtsnihilismus befördert, statt dem Völkerrecht zu dienen.

Eine grundlegende institutionelle Reform der UN und eine Reform des politischen Denkens hin zu einem ehrlichen Verständnis gemeinsamer oder kollektiver Sicherheit statt nationaler Machtinteressen sind die grundlegende Voraussetzung für die Frage von Friedensmissionen. Dafür müssen sich Linke einsetzen.

Fazit

Das von Matthias Höhn schriftlich verfasste Diskussionsangebot thematisiert einige grundlegende Aspekte der zeitgenössischen Sicherheitspolitik. Ein zentrales Defizit seiner Ausarbeitung ist, dass eine geschichtsanalytische Rahmung schlichtweg fehlt. Durch die Auslassung historischer Aspekte findet folgerichtig auch keine Sensibilisierung für außen- und sicherheitspolitische Kontinuitäten und Interessen der deutschen Eliten statt. Auch ist sein Blick westlich-zentristisch eingeengt, womit eine mangelnde Empathie für andere nicht-westliche Sichtweisen und legitime Sicherheitsinteressen überdeutlich wird.

Im Ergebnis dieses unzureichenden methodischen Vorgehens formuliert Matthias Höhn Forderungen, die als Antworten auf die Kritik unserer politischen Gegner zu verstehen sind. Leider aber indem deren Narrative aufgenommen und in denselben Narrativen beantwortet werden, womit dann eine massive Positionsverschiebung der LINKEN einhergehen würde. Das Stöckchen, das die politischen Gegner und manche Journalisten der LINKEN hinhalten, würde damit übersprungen.

Schlussendlich würde DIE LINKE auf diese Weise außen- und sicherheitspolitisch „anschlussfähig“ und als nettes Feigenblatt für die Realisierung der wirklichen Interessenlagen deutscher Außenpolitik fungieren.

Das Diskussionsangebot von Matthias Höhn schafft Unruhe in unserer ohnehin verunsicherten Partei und der Wählerbasis. Ohne Nöte wird eine Diskussion aufgemacht, die nicht nur etwas korrigieren will, sondern vielmehr das Selbstverständnis unserer Partei grundlegend infrage stellt und die Partei „umkrempeln“ soll. Selbst wenn das nicht die Intention von Matthias Höhn gewesen sein sollte, so wird doch deutlich, wie sehr das „Diskussionsangebot“ auch missverstanden werden kann. Dies offenbart beispielsweise der Facebook-Post einer parteiinternen, mir nicht näher bekannten Gruppe mit dem Namen „Demokratische Linke“ (5):

„Wir teilen die vom Genossen Matthias Höhn vorgetragenen Vorschläge zu einer linken Kehrtwende in unserer Sicherheits- und Außenpolitik vollumfänglich. Angesichts der zunehmenden Unzuverlässigkeit unserer US-amerikanischen Verbündeten in sicherheitspolitischen Fragen und der Aggression durch feindlich gesinnte Großmächte, vor allem durch Russland und China, ist es nur sinnvoll, dass sich die EU endlich ihrer Verantwortung als eigener Machtblock bewusst wird und diesen Standpunkt konsequent nach außen vertritt, sowohl als eigene Großmacht mit eigenen Sicherheitsinteressen als auch als friedensstiftende und stabilisierende Kraft nach innen und außen.“

Wollen wir, die Mitglieder der Partei DIE LINKE, tatsächlich unsere Partei derart verändern?
Im Deutschen Bundestag sitzen bereits fünf neoliberale, transatlantische und militärisch begeisterte Parteien. Das sollte ausreichen. Es bedarf zumindest einer Partei, die sich gegen die herrschenden Verhältnisse stellt.


Quellen und Anmerkungen:

Das Diskussionsangebot von Matthias Höhn: http://www.matthias-hoehn.de/fileadmin/lcmshoehn/user/upload/Debatte_Sicherheitspolitik_MatthiasHo__hn_210117.pdf.

(1) https://www.rubikon.news/artikel/die-krim-und-das-volkerrecht-2f695333-65a0-419e-a3d0-f1769e52da38
(2) Personalstärke NATO-MS: 3,25 Millionen, Russland: 900.000.
Großwaffensysteme (Panzer, Flugzeuge, Schiffe et cetera): NATO zu Russland = 2,6- bis 4-fache NATO-MS gegenüber Russland laut „The Military Balance“ 2020 vom IISS.
(3) https://www.nato.int/docu/review/2005/issue2/english/analysis.html
(4) Beispielsweise „Wo bleibt die europäische Armee?“ in: Voxeurop, 17. Dezember 2013 http://www.voxeurop.eu/de/content/article/4413001-wo-bleibt-die-europaeische-armee –gesichtet am 7. Dezember 2016.
(5) https://www.facebook.com/408472499681337/posts/983405425521372/?d=n


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