Zum Inhalt:
Unterstützen Sie Manova mit einer Spende
Unterstützen Sie Manova
Die Arroganz der Unmenschlichkeit

Die Arroganz der Unmenschlichkeit

Wehren wir uns gegen die Seehoferisierung Deutschlands.

Die wenigstens werden sich noch daran erinnern, aber 1990 stand nicht nur das Ende der SED zur Debatte, sondern auch das Ende einer weiteren ostdeutschen Partei, der CSU. Statt 11 Bundesländern hatten wir da auf einmal 16. Welches Gewicht, so orakelten einige Zeitungen, könnte da eine bayerische Regionalpartei noch haben? Die bundespolitische Bedeutung der CSU, die sie durch Schwergewichte wie Strauß und Waigel lange behaupten konnte, würde im größer gewordenen Deutschland gegen Null gehen. Am besten sollte sich die Trachtengruppe, die sich von der „Schwesterpartei“ CDU ohnehin nur durch ein völlig unpassendes „S“ (für „sozial“) unterschied, gleich auflösen.

Heute, 28 Jahre später, ist diese CSU faktisch die mächtigste Partei Deutschlands. Zusammen mit der AfD – und unter ständigem Verweis auf sie – treibt sie das Land vor sich her und nach rechts. Franz Josef Strauß forderte, rechts von der CSU solle es nie eine demokratische Partei in Deutschland geben. Jetzt gibt es derer gleich zwei: Alexander Gaulands Fliegenschiss-Partei und die zunehmend xenophob und autoritär agierende „New CSU“. Die gibt vor, sich in punkto Rechtsruck nach ihrer Bevölkerung richten zu „müssen“. In Wahrheit hat jedoch niemand den „konservativen“, autoritären Geist der Bayern grundlegender geprägt als gerade die Laptop-und Lederhosen-Society um Stoiber, Seehofer und Söder.

Der Schwanz wedelt mit dem Hund

Unglaubliche Dinge ereignen sich derzeit in Deutschland. Der Schwanz wedelt mit dem Hund. Söder, Dobrindt und Seehofer demütigen die Kanzlerin fast jeden Tag, und die Presse scheint sich den Scharfmachern auch nur allzu gern als Sprachrohr zur Verfügung zu stellen. „Ich kann mit dieser Frau nicht mehr arbeiten“, soll Seehofer intern über Merkel gesagt haben. Söder und Seehofer sollen eine kontroverse Diskussionsrunde zur Asylfrage holterdipolter verlassen haben: „Das bringt nichts mehr“. Seehofer „warnt“ und „mahnt“ die Kanzlerin, setzt ihr eine „letzte Frist“. Von einer „Herrschaft des Unrechts“ hatte er schon 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle, gesprochen. Kaum jemals hat ein Minister öffentlich so rüde gegen eine amtierende Regierungschefin quergeschossen.

Allein der Begriff „Machtkampf“, der häufig für den Konflikt Seehofer-Merkel verwendet wird, setzt ja eine Augenhöhe voraus, die das Grundgesetz eigentlich nicht vorsieht. Die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler hat sich für eine unionsregierte Regierung entschieden, wohl wissend, dass eine Frau an der Spitze stehen würde, die in Asylfragen keine Hardlinerin ist.

Sie ist Kanzlerin, er nur Minister. Ist es noch Demokratie, wenn die eine gewählt wird, aber am Ende der andere das Sagen hat?

Dennoch tönte Seehofer: „Wir müssen einen Kurswechsel erzwingen“. Der Bayer hält sich gegenüber seiner Chefin offenbar für erziehungsberechtigt.

CSU-Doktrin für ganz Europa

Als ob es der Unverschämtheiten nicht schon genug gegeben hätte, streckt Seehofer seine machtlüsternen Finger jetzt auch noch in Richtung Frankreich und Europa aus. Merkel und Macron trafen bei ihrem Gipfel am 20. Juni Absprachen über eine mögliche Reform der EU. Seehofer beschwerte sich daraufhin, die CSU sei bei den Entscheidungen nicht eingebunden gewesen. „Es ist kein guter Stil, wenn man solch wichtige Vereinbarungen trifft und die CSU nicht beteiligt. Das geht nicht“, sagte er der „Passauer Neuen Presse“. Geht’s noch? Der bretonische Vorsitzende von Macrons Partei „Républike en marche“ wurde schließlich auch nicht gefragt.

Und auch wenn es nicht direkt gesagt wurde – mit Blick auf das Attentat auf dem Berliner Breitscheidplatz, den Mord an Susanna F. in Wiesbaden und andere von Flüchtlingen begangene Gewalttaten suggeriert die CSU im Verein mit der AfD: „Es sind Merkels Tote.“ Nun will Bayern im Alleingang die Grenzen dichtmachen – notfalls gegen den erklärten Willen von Merkel sowie der Mehrheit in den Regierungsparteien CDU und SPD. Das ist der Staatsstreich, und trotz Richtlinienkompetenz und des Grundsatzes „Bundesrecht bricht Landesrecht“ scheint niemand willens und in der Lage, sich zu wehren.

Wir erinnern uns: Bayern hat nur circa 12 Millionen Einwohner, Deutschland 82 Millionen. So ist das Land zwar bevölkerungsmäßig relativ gewichtig (flächenmäßig sogar größtes Bundesland), jedoch keineswegs dafür prädestiniert, der ganzen restlichen Republik seinen Willen aufzuzwingen. Südtirol führt auch nicht Italien am Nasenring durch die Manege, Wales herrscht nicht über Großbritannien. Relativ gesehen gibt es zwar ohne Zweifel einen Rechtsruck in Deutschland – viele denken inzwischen wie die CSU-Altvorderen. Für Zurückweisungen von Flüchtlingen, die schon einmal in einem anderen EU-Land vorstellig geworden sind, an der deutschen Grenze sind laut Umfragen sogar über 60 Prozent der Bevölkerung.

Nicht alle denken schwarz-braun

Dennoch trügt der Anschein, dass alle Deutschen nur noch „so“ denken. Unions-Politiker wie Merkel, „Kronprinzessin“ Kramp-Karrenbauer und Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet plädieren für Merkels gemäßigten Kurs, für eine europäische Lösung. Für einen gemäßigten Kurs in der Flüchtlingsfrage sprechen sich ferner aus: die SPD, immerhin Koalitionspartner der Union, die Grünen und die Linke – natürlich mit Abstufungen im Detail. Daneben Gewerkschaften, Kirchen und andere gewichtige gesellschaftliche Gruppen. Nur die Schnösel-Partei FDP und einige Unionspolitiker wie Jens Spahn wanken. Zudem halten nur 35 Prozent der Deutschen Seehofer für eine gute Besetzung im Amt des Bundesinnenministers.

Bei der letzten Bundestagswahl wurde die CSU/AfD – man muss diese beiden Parteien wohl mittlerweile zusammen denken – nur von 18,8 Prozent der Wählenden gewählt. Das heißt: 81,2 Prozent dachten NICHT so, und die Gewichte haben sich seither nicht erdrutschartig verschoben. Dieses knappe Fünftel, so sollte man meinen, könnte die Mehrheit der weltoffenen und humanen Kräfte doch in den Griff bekommen.

Fakt ist aber: Egal, wie der Prozess der politischen Entscheidungsfindung abläuft – am Ende setzt sich immer die CSU durch. Für ihre Gegner bleiben nur Trostpreise, sie können teilweise ihr Gesicht wahren. Bei den Koalitionsverhandlungen etwa, konnte die SPD in Sachen Familiennachzug bei Flüchtlingen eine „Härtefallregelung“ durchsetzen, während die Koalition im Ganzen nach der Melodie der CSU tanzte. Wir erinnern uns: eine „Obergrenze“ für Flüchtlingszuzug war anfangs nur eine skurrile Minderheitenmeinung innerhalb des politischen Spektrums. Das Asylrecht kennt eine solche Grenze ihrem humanitären Wesen entsprechend nicht.

Denn festzulegen, dass jährlich höchstens 220.000 Menschen einreisen dürfen, bedeutet mitunter den 220.001. der Folter und dem Tod auszuliefern.

Was in der alten Rechtsordnung zählte, war immer der Einzelmensch, sein konkretes Schicksal und seine Rechtsansprüche. So legten es die Verfassungsväter und -mütter mit Blick auf die Erfahrungen mit der Nazi-Diktatur fest, die viele aufrechte Deutsche als Flüchtlinge ins Ausland getrieben hatte.

Die "Obergrenze" im Kopf

Natürlich entspricht es dem gesunden Menschenverstand, dass keine Gesellschaft unbegrenzt aufnahmefähig für Zuwanderung – für „Fremdes“ und Ungewohntes also – sein kann. Viele Menschen denken heute so. Ihre Sorgen sind grundsätzlich verständlich. Aber Deutschland war nie in seiner Geschichte in einem Stadium, in dem man sagen musste: „bis hier hin und nicht weiter“. Es fehlte nie an Raum, um viele Menschen aufzunehmen. Es hätte auch nie wirklich an Geld gefehlt, wenn die Politik die Steuereinnahmen nicht für den Rüstungswahnsinn, für überhöhte Zinsforderungen diverser „Gläubiger“, für die finanzielle Entlastung der Vermögenden und Großunternehmen zweckentfremdet hätte. Die erste, offenbar unüberwindliche Grenze, an die Flüchtlinge in ihrem Bedürfnis nach Sicherheit und einer menschenwürdigen Lebensperspektive stoßen, ist eine Grenze in den Köpfen vieler Menschen.

Aber zurück zu unserem kleinen historischen Rückblick. Die CSU also breitet ihre anfangs eher abseitige Idee einer Obergrenze „viral“ auf immer weitere Einflussbereiche aus. Zuerst gelang es Seehofer & Co., die Idee zur „gemeinsamen Position“ der gesamten Union zu machen – denn die „Schwestern“ müssten bei Koalitionsverhandlungen (zuerst mit Grünen und FDP, später mit der SPD) schließlich „mit einer Stimme sprechen“. Gemeint war: sie sollten mit der Stimme der bayerischen Polit-Extremisten sprechen. Als nächstes sollte die Position der seehoferisierten Gesamtunion ohne Abstriche in Regierungspolitik umgesetzt werden. Mit wenigen Abstrichen gelang das. Die SPD, die große Einknickerin, wurde auch hier weich.

Der Siegeszug der Bajuwaren geht aber weiter. Der in der letzten Woche inszenierte Unionsstreit um die Zurückweisung von Flüchtlingen an der deutschen Grenze – das viel beschworene „Duell Merkel/Seehofer“ – zielte darauf ab, ganz Europa mit CSU-Positionen zu indoktrinieren. Merkel, so Presseverlautbarungen, habe von Seehofer eine „Galgenfrist“ eingeräumt bekommen, innerhalb derer sie Resteuropa im Sinne der bayerischen Doktrin extremer Härte gegen Flüchtlinge zu unterweisen habe. Wenn sie aus dieser Schlacht als Siegerin zu Papa Horst heimkehre und dessen Anweisungen brav umgesetzt habe, dürfe sie – vielleicht – Kanzlerin bleiben. Bayern werde dann auf seinen Alleingang, die Zurückweisung von Ausländern an den Grenzen bei Passau und Bad Reichenhall, gnädiger Weise verzichten.

Die Kanzlerin wird erniedrigt

Einem beispiellosen Akt der Hybris können wir derzeit beiwohnen, dem Versuch einer Bajuwarisierung Europas. Nun kann es vorkommen, dass in dem gereizten Klima von Berlin oder München angesichts der Versuchungen der Macht mal einer überschnappt. Dies ist nicht wirklich erstaunlich; verblüffend ist vielmehr, dass sich alle anderen diese für eine gewählte Kanzlerin und für „stolze“ Traditionsparteien eigentlich erniedrigenden SM-Spiele gefallen lassen. Allenfalls ein zaghaftes: „Äh, da ist übrigens noch meine Richtlinienkompetenz“ war von Merkel zu hören. Das wurde von Seehofer mit einem Machtwort schnell niedergebügelt: „Unter Parteivorsitzenden ist der Hinweis auf die Richtlinienkompetenz nicht üblich“.

Von der SPD, die hier eine Stunde der Bewährung hätte erkennen und für soziale Großherzigkeit und Weltoffenheit eintreten müssen, hörte man – nichts. So viel zum Thema „Erneuerung der Sozialdemokratie“.

Selbstverständlich gibt es Gründe für die erstaunliche Durchsetzungsfähigkeit, den einer von 16 Landesverbänden der Union in den letzten Jahren bewiesen hat.

Zunächst: In halb Europa hat eine Seehoferisierung eingesetzt, ohne dass Seehofer hätte Einfluss nehmen müssen. In Österreich, Ungarn und Polen verfolgen die Regierenden einen harten Asylkurs. Von einer „Koalition der Willigen“ sprach Sebastian Kurz, Österreichs juveniler Regierungschef, in Anlehnung an den Kriegspräsidenten George W. Bush. In Italien regieren Rechtspopulisten mit, in Frankreich, Dänemark, Holland und vielen anderen Ländern sind sie obenauf.

Weltoffenheit als Auslaufmodell

Der weltoffene Rechtsstaat mit Respekt vor Bürgerrechten und Meinungsfreiheit scheint immer mehr zum Auslaufmodell zu werden, seine Anhänger erscheinen wie „Ewig Gestrige“, die wie Smartphone-Verweigerer und Kassettenrekorder-Besitzer die Zeichen der Zeit einfach nicht erkennen wollen. In diesem Umfeld schwimmt Seehofer gleichsam in der eigenen Soße. Weltanschaulich läuft sein Vorhaben auf einen Anschluss Deutschlands an Österreich hinaus.

Zum Zweiten gibt es ohne Zweifel eine rechte „Volksstimmung“. Und nichts ist bekanntlich so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist, wie Victor Hugo sagte. Bayern steht nicht allein, denn in der „Dresdner Republik“ marschiert vor allem die Pegida-Wiege Sachsen, das Bayern des Ostens, Seit an Seit mit Seehofer. Hinzu kommt eine Mainstreampresse, die zwar überwiegend auf smarte Weise-neoliberal-kosmopolitisch denkt, jedoch so auf Krawall gebürstet ist, dass der Dauerzoff um kriminelle Migranten und Rechtsradikale ihr wie gerufen kommt.

Schließlich gewinnt die Rechte auch durch ihr arrogantes, unerschütterlich selbstbewusstes Auftreten. In punkto Machttechniken ist sie der bürgerlichen „Mitte“ haushoch überlegen – von der schlingernden Linken ganz zu schweigen. Es wäre nicht das erste Mal, dass Selbstbewusstauftreterei den fundamentalen Mangel an Menschlichkeit und guten Argumenten verdeckt hätte.

Die Verschämtheit des Guten

Hinzu kommt eine geradezu verzagte Zurückhaltung bei denjenigen Bevölkerungsgruppen, die eine maßvolle und menschliche Flüchtlingspolitik gutheißen. Hilfsbedürftigen zu helfen, Verfolgten Schutz und Armen Brot zu geben – es sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, speziell im viel beschworenen „christlich-abendländischen“ Kontext. Natürlich hat Hilfsbereitschaft Grenzen in der Leistungsfähigkeit des Helfers. Und natürlich wird sie auch gelegentlich ausgenutzt. Aber bevor man die Grenzen des Helfens definiert, sollte man doch erst einmal sein positives Potenzial betonen. Die Großherzigkeit, die Güte, ja die Schönheit, die in diesem einfachen menschlichen Akt liegt, jemanden, der aus Not an unsere Tür klopft, willkommen zu heißen.

Eine unbegreifliche Verschämtheit des Guten ist zu beobachten. Als versteckte sich die Schönheit aus Angst verlacht zu werden vor der Hässlichkeit – obwohl es umgekehrt weit logischer wäre.

So sehr hat es der höhnische Diskurs gegen „Gutmenschen“, „Bahnhofsklatscher“ und „Teddybärwerfer“ vermocht, viele Menschen einzuschüchtern, dass man sich schon nicht mehr, ohne giftige Angriffe befürchten zu müssen, zu sagen traut, es sei gut, zu helfen und schlecht, diese Hilfe zu unterlassen. Eine fatale „Umwertung aller Werte“ (Nietzsche) hat stattgefunden.

Trotz all dieser Überlegungen steht es außer Frage, dass es unverschämte, „unsympathische“, gar kriminelle Flüchtlinge gibt. Es wäre Unsinn, Ausländer pauschal zu idealisieren. Und es wäre ebenso unsinnig, die „eigenen“ Interessen, also die der ursprünglichen deutschen Bevölkerung, nicht für legitim zu halten. Allerdings ist der peinlich-blauäugige Linke, der alle Menschen anderer Hautfarbe für lieb hält, den Ausländerkriminalität freudig erregt, der einen (Selbst-)hass gegen alles Deutsche pflegt und sein Land willig dem islamischen Fundamentalismus ausliefert, auch ein irreales Konstrukt, ein Klischee der Rechten, das zu Propagandazwecken entworfen wurde. Kennen Sie solche Menschen? Ich nicht.

Fremdenfeindlichkeit macht nicht satt

Niemand bezweifelt auch, dass sich die Politik um „ihr“ Volk, speziell Bürger in sozialen Schwierigkeiten, bisher zu wenig gekümmert hat. Es geht „uns“ aber nicht automatisch besser, wenn es „denen“ schlechter geht. Der Kapitalismus schafft es spielend, Einheimische wie Zuwanderer gleichermaßen ins Elend zu stürzen. Im Grunde sitzen die armen Teufel in In- und Ausland doch im selben Boot. Warum richten wir unseren Zorn nicht gleich gegen die Richtigen: mächtige und skrupellose Inländer, nicht macht- und mittellose Ausländer.

Wenn der „besorgte“, volkszorngeschwellte Bürger seine Arbeit, seine Wohnung und seine Würde verliert, nachdem er sich über Jahre weitaus mehr für nationale als für soziale Fragen interessiert hat, wird er vielleicht merken, dass man von Fremdenfeindlichkeit nicht satt wird.

Zunächst geht es aber darum, grundlegende Wahrheiten wiederzuentdecken und auch den Mut zu haben, sie auszusprechen. Die böse Tat eines einzigen Vertreters einer Gruppe macht nicht die ganze Gruppe böse. Sonst müssten wir bald wahrlich die ganze Welt hassen – uns selbst inbegriffen. Denn wer gehört nicht mindestens einem Kollektiv an, das in der Vergangenheit unangenehm aufgefallen ist? Bei mir sieht es ganz düster aus, ich bin Deutscher, Weißer, Mann…Die berechtigte Trauer, der Zorn gegen den Mörder von Susanna F. sagt nichts, aber auch gar nichts über den menschlichen Wert anderer Vertreter des Kulturkreises aus, aus dem der Mörder kam.

„Wäre der Tatverdächtige ein Deutscher, ein Onkel oder Nachbar, dann wäre der Fall allenfalls von Gundula Gause kurz gemeldet worden, aber nicht als Topthema über 10 Minuten lang in dieser Sendung vorgekommen“, schrieb Walter van Rossum im „Rubikon“. Menschliche Anteilnahme ist unteilbar. Es ist dasselbe Mitgefühl, das wir traumatisierten Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien entgegenbringen sollten oder dem deutschen Opfer eines syrischen Einzeltäters – vorausgesetzt, unsere Fähigkeit zu Mitgefühl ist nicht unter Hartkerl-Phrasen verschüttet.

Irreführende Statistiken

Um aber einem Missverständnis vorzubeugen: Es ist nicht „nur“ das Herz, das vielfach dafür spricht, Flüchtlinge willkommen zu heißen. Die Rechten haben nicht nur menschlich, sondern auch argumentativ meist wenig zu bieten. Ihre „Beweise“ sind oft nur anekdotischer Natur oder aus zweiter Hand. „Ich kenne jemanden, der wurde von einem Schwarzen blöd angemacht.“ „Ich habe gelesen, da hat es wieder einen Mord gegeben. Und natürlich war es ein Ausländer …“ Tatsache ist, dass Fallbeispiele gar nichts beweisen und Statistiken sehr oft irreführend sind.

Im „Stern“ vom 14. Juni 2018 schrieb Walter Wüllenweber einen Essay von großer aufklärerischer Durchschlagkraft. Er beginnt, indem er seinen Lesern eine Falle stellt:

„Sie leben in Deutschland, mitten unter uns. Im vergangenen Jahr haben sie 14 Menschen getötet, 125 Frauen vergewaltigt, insgesamt fast 8000 Gewalttaten verübt. Das sind beunruhigende Zahlen, aber niemand fürchtet sich.“

Die Pointe ist dann: bei den beschriebenen Personen handelt es sich um die Hamburger. Mit 1,8 Millionen Einwohnern ist diese Gruppe genau so groß wie das Kollektiv der Flüchtlinge, die in Deutschland leben. Morde, die von Einwanderern verübt werden, bewirken jedoch gleich einen Epochenwechsel, eine tiefgreifende Änderung des sozialen Klimas in Deutschland; ist der Mörder ein Deutscher, ändert sich gar nichts.

Wüllenweber geißelt den Hang der Rechten zu Übertreibungen und Verallgemeinerungen: „Es ist, als schließe man aus drei Kopfschmerzattacken gleich auf einen Hirntumor.“ Er rechnet vor: Obwohl vereinzelte Morde der vergangenen Zeit eine stetig anschwellende Gefahr suggerieren, ist die Zahl der Straftaten seit 2013 sogar zurückgegangen. „Noch nie waren Menschen in Deutschland so sicher wie im Jahr 2018. Nicht wegen der Flüchtlinge, aber trotzdem.“ Sorgen von Bürgern müsse man nicht unabhängig davon ernstnehmen, ob sie berechtigt seien, argumentiert er.

Und er fügt noch ein weiteres Beispiel an:

„Mit der Wiedervereinigung wuchs die Bevölkerung der Bundesrepublik um 27 Prozent. Doch die Zahl der Morde verdoppelte sich von 743 auf 1468 Fälle im Jahr. Die offensichtliche Gefährlichkeit der Ostdeutschen löste keine Hysterie aus.“

Was Hamburger und Ossis vor einer Pogromstimmung im Land bewahrt hat? Die „richtige“ Hautfarbe und Nationalität vermutlich. Manchmal sind die Dinge tatsächlich so einfach – und so banal.

Auch Walter van Rossum deckt in seinem Artikel für „Rubikon“ ein paar der Statistiktricks der Medien auf. Die Anzahl der durch Flüchtlinge verschuldeten Tötungsdelikte habe sich zwischen 2014 und 2017 vervierfacht, beginnt er. So weit, so schockierend. Van Rossum fügt aber hinzu, dass sich im selben Zeitraum die Anzahl der Geflüchteten um 600 Prozent gestiegen sei. „Insofern könnte man sagen, die Gewaltkurve dieser Gruppe habe sich eher abgeflacht.“

Zu ganz anderen Statistiken kommt man ferner, wenn man spezifiziert, welche Flüchtlingsgruppen im Vergleich zu anderen besonders häufig Straftaten begehen. Es sind überwiegend junge Männer und Menschen in sozialen Notlagen. Unter den gleichen Voraussetzungen sind Deutsche ebenso gefährlich wie Zuwanderer. Hinzu kommt die besondere Beengung und Machtlosigkeit, der sich Flüchtlinge in ihren Unterkünften ausgesetzt sehen – zusammengepfercht und endlos auf Bescheide wartend. Hinzu kommt, dass die Opfer der Gewalttaten von Flüchtlingen überwiegend wiederum Flüchtlinge sind, so dass sich die Gefahr, als Deutsche oder Deutscher ein Opfer von „Ausländerkriminalität“ zu werden, tatsächlich in Grenzen hält. Hinzu kommt: Eine Menge Kriminaltatbestände, gegen die Einwanderer verstoßen können, existieren für Deutsche gar nicht. Zum Beispiel: Verstöße gegen Auflagen im Zusammenhang mit dem Bleiberecht oder ihrer Unterbringung.

Mediengesteuerte Wallungsdemokratie

Wir leben in einer mediengesteuerten „Wallungsdemokratie“ (Stern), in der schiere Laustärke und Penetranz die differenzierteren Stimmen oft zu überbrüllen vermögen. Lassen wir uns vor allem nicht von der Arroganz der Unmenschlichkeit beeindrucken, wie sie derzeit von Seehofer und Konsorten zur Schau getragen wird.

Kaum etwas hat in der Weltgeschichte größere Verheerungen angerichtet als selbstbewusstes Auftreten, dem keine wirkliche Größe des auftretenden Selbst entsprach.

Destruktive Systeme wie Kapitalismus und Faschismus werden stets durch die Bereitschaft vieler Menschen gestützt, sich Selbstbewussten willig zu unterwerfen. Ein archaisches Bedürfnis, bei „Starken“ unterzukriechen, mag dem psychodynamisch zugrunde liegen.

Selbstbewusst vorgetragene Härte kommt bei den Menschen leider oft besser an als differenziert geäußerte Güte. Diese Dynamik ist im Grunde eine Menschheitstragödie mit schlimmen Folgen, die sich immer wieder in der Geschichte gezeigt hatten.

Denn die Fähigkeit, zu wägen, zu zögern und zu zweifeln ist eigentlich das liebenswerte Merkmal reifer Seelen, die sich bewusst sind, dass es immer mehr als eine Wahrheit gibt und dass sie selbst deshalb auch nie im Besitz dieser „einen“ sein können.

Umgekehrt haben „Selbstsichere“ ihren Blick mutwillig so weit verengt, dass sie nicht mehr als eine Facette der Wahrheit wahrnehmen können. Vielleicht aus Angst, in einer komplexer werdenden Welt einen Halt zu verlieren, den sie in sich selbst nicht finden.

Begeben wir uns auf die Suche nach unserer ganz eigenen Wahrheit, ohne Furcht, das Ergebnis könnte uns die Anfeindungen einer sich immer weiter verrohenden Gesellschaft zuziehen. Schämen wir uns nicht mehr unserer Nachdenklichkeit, unserer Zerrissenheit, ja unserer Weichheit. Schämen wir uns nicht mehr, wenn uns – entgegen der AfD-Position – die Augen eines unglücklichen Flüchtlingskinds bewegen. Es kann sein, dass wir nach Abwägung aller Fakten und nach Befragung unseres Gewissens zu dem Ergebnis kommen, es sei richtig, die Zahl der Zuwanderer zu begrenzen. Es mag sein, dass so ein Urteil legitim und vernünftig ist, denn auch die Interessen der deutschen „Urbevölkerung“ wollen berücksichtigt werden.

Nur werden wir nicht „rechts“, nur weil wir glauben, dies sei jetzt in Mode und unsere Nachbarn, Freunde und Kollegen erwarteten dies von uns. Viel Menschlichkeit ist heutzutage im inneren Exil und hat sich verkrochen, weil es zu gefährlich scheint, sich zu offenbaren. Umgekehrt: Unsere offen und offensiv geäußerte Humanität besitzt mitunter die Kraft, die schlafende Menschlichkeit anderer zu erwecken. Sie besitzt die Fähigkeit, in den Verhärteten zumindest Zweifel an ihrer eigenen Härte zu säen.

Was Merkel tun sollte

Was sollte nun Angela Merkel tun, die in wenigen Tagen zu einem zweiten Showdown mit ihrem selbstgewissen Rivalen Seehofer antreten muss? Einmal, im September 2015, hat die Kanzlerin etwas wirklich Bemerkenswertes gesagt:

„Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen en freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“

Zu diesem Punkt ihres Erkenntnisprozesses sollte sie zurückehren. Das hatte Würde und Anstand, denn schon damals blies Merkel ein kühler Gegenwind ins Gesicht.

„Das ist nicht mehr mein Land“ – dieser Satz könnte auf den Verlust ihrer Kanzlerschaft hinauslaufen. Es könnte aber auch bedeuten – und das wäre zu begrüßen –, dass sie anfängt zu kämpfen. Merkel könnte und sollte Seehofer als Minister entlassen. Er hat sich durch sein andauerndes Störfeuer als unsolidarisch erwiesen, ihm fehlt es schlicht an Teamfähigkeit. Nach großem Geschrei würde die CSU dann die Koalition aufkündigen. Es stünde gar die viel beschworene Geschwisterlichkeit der beiden Unionsparteien auf dem Spiel.

Merkel könnte standhalten und die immer willigen Grünen zusammen mit der SPD ins Koalitionsboot holen. Es wäre ein starkes Signal dafür, dass die gemäßigten Kräfte zwar nicht Neoliberalismus und Kriegspolitik aufzugeben bereit sind, dass sie aber wenigstens den ethischen Mindestkonsens der alten Bundesrepublik verteidigen und das Abdriften des Landes in einen inhumanen Rechts-Staat verhindern wollen.

Sollte die CSU dann noch maulen, könnte Merkel ihre CDU auch in Bayern zur Wahl stellen. Dann wäre es rasch vorbei mit der absoluten Mehrheit und der regionalen Eigenständigkeit, mit der die „Christsozialen“ über Jahrzehnte punkten konnten. Es wäre vielleicht das Ende der politischen Laufbahn Merkels, aber sicher das Ende Seehofers. Und es wäre eine historische Tat, die Merkel, wenn nicht politisch, so doch moralisch als Siegerin dastehen ließe. Sie hätte die Macht verloren, sich selbst aber bewahrt.

Freilich erscheint meine Zukunftsvision nicht sehr wahrscheinlich. Bekanntlich bin ich naiv.


Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.

Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.

Creative Commons Lizenzvertrag
Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen.