Teil 1: Kleiner Einwand gegen ein Prinzip
Erfolg oder Scheitern: Die besten Romane der Weltliteratur haben uns eindrucksvoll vorgeführt, dass sich Scheitern und Niederlage besser erzählen lassen als Erfolg. Das könnte Gründe haben, welche die Intensität der damit verbundenen Erfahrung betreffen. Vom Ende des Lebens aus betrachtet folgt ohnehin jedem Erfolg eine Ernüchterung, ja es nagt an ihm eine Paradoxie: dessen letzthinnige Unmöglichkeit. Welcher Sterbende würde in Zeiten einer erschöpften religiösen Heilsgeschichte noch sagen können: Ich habe es geschafft — oder: Mein Leben „endet“ im Erfolg —, zumal er nach dem erklommenen Gipfel „faustischen” Strebens nicht mehr auf der Welt ist, um den Erfolg auszukosten.
Das wusste schon Goethes Faust, der nicht im Erfolg, sondern allein im erfüllten Augenblick die Matrix des Lebens sah. Die Überlegung mag naiv und abwegig anmuten, zeigt jedoch ihre Wirkung, wenn man sich jahrtausendealte Fragen stellt, vor allem die: Wohin gehen wir? Was erwartet uns? Und wohin können wir nicht mehr zurück?
Die kulturelle Überlieferung bietet keine Garantie mehr für ein „Es wird schon alles gut gehen“. Sie wirkt heute abgeschliffen bis zur Unkenntlichkeit. Phänomenologisch betrachtet trifft hier zu, was allgemein für menschliches Leben gilt: Dem Erfolg folgt gemeinhin nach kurzem Hochgefühl eine innere Leere, die man vergeblich wegzudrücken versucht. Scheitern vermag dagegen ein Loslassen freizusetzen, eine Art Gelassenheit auch.
Die schrille Fixierung auf den Erfolg und ein zähes „Weitermachen” in der Spur eines wahnhaften Fortschritts mündet heute nicht zufällig im gereizten Affekthaushalt derjenigen, die verbissen dem Coronanarrativ zuarbeiten.
In dieser modernen Erzählung vom Einbruch eines vermeintlich Unheimlichen ins normale Leben wird das oberste Ziel nicht am Glück des fragilen Menschen ausgerichtet, der scheitern kann, sondern an seiner puren Selbsterhaltung ohne weiteren Mehrwert an Sinn als eben dem, sich selbst zu erhalten.
Diese Festlegung wird heute bekanntlich umgesetzt mit den Mitteln einer zynisch betriebenen Gesundheitsdiktatur. Gerade die Unterwerfung des menschlichen Körpers unter die ausschließliche Regentschaft der Gesundheit macht es den Agenten des Transhumanismus so leicht, uns in die Fallstricke einer verbiesterten Moral und Empörungskultur zu zwingen, worin wir alle Ziele der Aufklärung aufgeben.
Diese Kulturressourcen — darunter selbst religiöse Rituale des friedvollen Zusammenfindens — aber waren es doch, die das Leiden, die Vergeblichkeit und das Scheitern des Individuums immer wieder abmilderten und daraus Mentalitäten der zwanglosen Empathie für andere freisetzten. Was sollte sonst Humanismus bedeuten? Darum sollte es doch gehen: Die nicht auf Eigennutz zielende absichtslose Solidarität mit dem fragilen einzelnen Menschen setzt der gegenwärtigen moralingesäuerten Maßnahmenkultur des blinden „Richtigmachens“ im Coronaszenario etwas essenziell anderes entgegen — gelebtes Leben ohne Panik, gebaut am Gestade des Glücks! Davon aber sind wir, die wir unter dem Diktat von Daten und Statistiken der verengten Lebensgestaltung stehen, weit entfernt.
Ecce homo — oder eine ungewöhnliche Vision vom Menschen
In Ridley Scotts Kultstreifen „Blade Runner“ kommt es am Ende zum finalen Kampf. Der Jäger, der im Auftrag einer obersten Behörde agiert, soll den gefährlichsten der Replikanten zur Strecke bringen. Dieser war mit drei anderen seiner Bauart von einem Planeten für Sklavenarbeiter geflohen, um ein Ziel zu verfolgen: Die vier wollten ihren Konstrukteur — ihren „Vater“, wie sie ihn auch nennen — auffinden und diesen dazu zwingen, ihr programmiertes Leben, das in Kürze endet, zu verlängern.
Als dieses misslingt — die Zeit wird zu knapp und das eingebaute System lässt sich nicht auf Verlängerung hin modifizieren —, läuft das Filmgeschehen scheinbar auf einen der üblichen Showdowns zu: ein verzweifelter Replikant in einem letzten Rachefeldzug. Wenn ein Schauspieler wie Harrison Ford den „Hunter“ gibt, dürfte dem Kinobesucher klar sein, wer der Sieger in diesem tödlichen Duell sein wird.
Der Film bricht aber aus dieser stereotypen Dramaturgie aus. Im Verlauf des tödlichen Kampfes kommt es nämlich zu folgendem ungewöhnlichen Plot: Der Hunter unterliegt dem Replikanten und wird von diesem schließlich über eine Dachbrüstung in die Tiefe gehalten — aber da fasst ihn der Androide plötzlich wieder fester am Handgelenk und zieht ihn in großer Anstrengung nach oben, rettet ihm also das Leben, während er selbst kurz danach sein Leben aushaucht. Sein Gesicht bildet im Augenblick des Todes Rinnsale aus für einen nun stark einsetzenden Regen.
Im Sterbenden liefert diese sanft anmutende Fließbewegung des Wassers letzte Zeugnisse eines Willens zum Leben — und nicht eines zum bloßen Überleben in Siegerposen. Er erinnert sich dann auch mit ersterbender Stimme an Fluchten durch das Weltall in Feuer und Kälte, voll des Schauders, aber auch voll der Intensität, die noch paradox gesteigert wird im Bewusstsein des unerbittlichen Endes des Androiden inmitten der unendlichen kosmischen Räume. Einfach genial, diese Szene! Man könnte hier noch einmal fragen: Warum widersetzt sich der Replikant der üblichen Dramaturgie des Sterbens, so wie wir sie kennen?
Und warum präsentiert uns Ridley Scott, der Regisseur, dieses Spiel: Dasjenige Wesen, das nach seiner Vergangenheit und dem Sinn seiner Existenz sucht, also nach dem Mysterium des Lebens, das ehrt dieses Leben so sehr, dass er es schützt — selbst das seines Feindes? Hier erleben wir das Gegenteil von jenem moralischen Heroismus, mit dem wir allzu gern unsere Erzählungen schmücken, um einen Sieger und einen Besiegten fixieren zu können. Hier offenbart vielmehr ein Wesen, von dem wir nicht wissen, wie sehr es dem Menschen gleicht, seine tiefe Einsicht in das menschliche Dasein. Und das führt in die letzten Schichten dieses außergewöhnlichen Films.
Die letzte überlebende Replikantin, die Scott — nicht zufällig — in Habitus und Farben der großen Hollywoodzeit kleidet und mit bräunlichen vergilbten Fotos umgibt, sucht sich eine biografische Geschichte anzudichten, um so ihre Identität als menschliches Wesen zu beweisen. Warum nur, mögen wir als uns auf bloßen Nutzen beschränkende Zuschauer verblüfft fragen. Eine Vermutung: Die vier Replikanten zeigen uns Züge von Humanität auf, die wir längst in unserer abendländischen Subjektzentrierung eingebüsst haben. Dazu zählt unsere Fähigkeit zur Erinnerung. Sie ermöglicht uns, ohne Hintergedanken in das Geheimnis des Lebens einzutauchen.
Ach, wie weit droht uns der immer noch anhaltende Coronawahn von diesen philanthropischen Visionen zu entfernen?
„Ja, und dann kam auch noch Corona dazu“
Der Satz hat inwischen Flügel im Alltag bekommen. Dass Corona lediglich zu etwas Krisenhaftem „dazukommt“, kündigt so etwas wie Entwarnung an. Unser Leben scheint sich nach zweieinhalb Jahren Virusfixierung wieder aufs Normale eingependelt zu haben und verliert dadurch seinen großen Schrecken, aber zugleich schwindet auch die Befürchtung oder Erwartung, dass die „Coronablase“ platzen könnte, wenn sich in nächster Zeit herausstellen sollte, dass alles nicht so schlimm und vieles ein Fake war. Viel wichtiger als die Wahrheitsfrage erscheint für einen Großteil der Menschen folgende Aussicht:
In einer schwer darstellbaren Wurschtelei wird das Leben irgendwie weitergehen und sich eine gewisse Befriedung mit dem Ausgestandenen breitmachen. Man wird dafür sorgen, dass die über mehr als zwei Jahre eingenommene Haltung und Identität keinen Schaden erleiden.
Was bliebe sonst von einem noch übrig! Es wird aber auch keinen wirklichen Wahrheitssiegeszug von uns Maßnahmenkritikern und Demokratieverteidigern geben können. Nicht einmal ein neues 1968 steht zu erwarten.
Aber die erwartbar trivialisierte Nacharbeitung des Coronageschehens wird auch nicht wirklich ausreichen für ein „Narrativ“, mit dem man das „Phänomen C“ abschließen könnte; eher wohl liegt vor uns eine Zeit der versprengten Fragmentenaufarbeitung, die man sich erlaubt auf dem Niveau von Mauschelei, Umlagerung, Abschwächung, Verschwiegenheit und Verdrängung — darin eingeschlossen Untersuchungsausschüsse, die zu nichts führen werden.
Der sich andeutende Wandel in der Einstellung erscheint aber gar nicht so außergewöhnlich, siedelt man diese an innerhalb der Geschichte der Moderne. Ins Herz und in die Genese dieser Moderne führt uns ohnehin kein eindeutiges Urteil, wie so oft in philosophischen Diskursen behauptet.
Es stimmt weder die Rede, dass die moderne Subjektivität seit der frühen Aufklärung eine Vernunft der Freiheit auf den Weg gebracht habe, noch dass dieser Aufstieg der Subjektivität allein auf Selbstermächtigung und Unterdrückung beruhe.
Eine vor etwa 500 Jahren begonnene Neuzeit geht in all ihrer Ambivalenz, Unstimmigkeit, Ungleichzeitigkeit und Disparität als kollektiver Unterstrom durch uns alle hindurch. Durch unsere Seelen, unsere Vernunft, unsere Hoffnungen, Motive, Mentalitäten und die für unsere Gegenwart so typischen Milieus. Das enthebt die Täter nicht ihrer Verantwortung, aber befreit die Opfer auch nicht von der Dringlichkeit, Widerstand gegen den Irrsinn zu leisten. Nie war Widerstand so wichtig. Gerade der Widerstand, der sich mit dem Leben verbindet, dem gelebten und zugleich endlichen Leben.
Eine erste Vermutung
Endlichkeit und Unendlichkeit, zwei Säulen der Mentalitätsgeschichte, werden in der Moderne neu justiert. In Coronazeiten greifen sie sogar in die Statik und die Dynamik unseres Lebens ein.
Die kulturelle Tradition liefert zahlreiche Zeugnisse dafür, wie der symbolische Austausch zwischen Leben und Tod in früheren Gesellschaften funktionierte und Wendepunkte in der Geschichte markierte. Auffällig ist, dass im aktuellen Coronanarrativ Leben und Tod neu definiert wurden — diesmal allerdings in einer paradoxen Schieflage: Der Tod wird als Drohung eingesetzt und gleichzeitig in die Kette der Argumente für die drastische Maßnahmenpolitik eingefügt. Die Voraussetzung dafür liefert eine Verfügungs-, Panik- und Empörungskultur. Andererseits versucht die coronafixierte Gesellschaft den Tod auszusondern oder zeitlich hinaus- und fortzuschieben, als „Abwesenheit von Leben“ einzudämmen und vornehmlich „biokratisch“ zu besetzen.
Während der Tod so den kollektiven Blicken entschwindet, setzt sich für das menschliche Dasein dieses Prinzip durch: Leben wird ausschließlich definiert als unbedingter Auftrag für seine absolute Erhaltung.
Was bei dieser Einschränkung auf der Strecke bleibt, ist der menschheitsgeschichtlich so wichtige Austausch zwischen Leben und Tod und dadurch konkret eine Vielfältigkeit des menschlichen Daseins, die sich, seit es Geschichte gibt, anhand der Koordinaten Endlichkeit und Unendlichkeit auswies.
Wir erleben nun in der späten Moderne, wie sich dieses Verhältnis nicht nur am Todespol selbst dramatisch zuspitzt: Das tiefgreifende Bewusstsein unserer individuellen Endlichkeit trifft in merkwürdiger Dissonanz auf das Phänomen der säkularen Unendlichkeit einer Welt, die uns weder braucht noch uns etwas verheißt, die immer weiterläuft, während wir als Individuen nach recht kurzer Lebenszeit aus dem Gesamtgeschehen herausgeschleudert werden.
Das schien kein größeres Problem darzustellen, solange die christliche Heilsgeschichte diese Koordinaten vorgab. Da wurde uns eine Topografie aus Erdental, Himmel und Hölle angeboten und die individuelle Endlichkeit abgemildert durch die Aussicht auf eine Unendlichkeit, die weiter zum Endpunkt „Ewigkeit“ führt.
So ein Wort wie Ewigkeit geht uns heute kaum mehr über die Lippen — und wenn, dann im Move eines lähmenden „Immerzu, immerzu“, eines blinden Weitermachens.
Dafür aber erscheint uns Zeit in unserer Erfahrung als unfassbar und geradezu unheimlich und undurchdringlich. Um hier nur einen Aspekt hervorzuheben: Unser Dasein in der Welt bewegt sich häufig zwischen lähmender Zeitlosigkeit und hektischer Entfesselung der Zeit. Beschleunigung und starrer Stillstand bilden die ungesunden Pole unseres zerplitterten Zeitempfindens. Das alles ist kein Nebenaspekt einer allgemeinen Psychologie, sondern führt in all der Fragmentierung uns einmal mehr mitten ins Zentrum unseren modernen Lebens.
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