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Der Verlust des Lebens

Der Verlust des Lebens

Um die Menschen vor dem Tod zu schützen, wird ihre Lebendigkeit getötet — ein widersinniges und unmenschliches Vorhaben.

Ja, Corona bringt uns den Tod ins Bewusstsein. Früher war er mitten unter den Menschen, und die Toten ruhten auf dem Friedhof, welch schönes Wort!, der mitten im Dorf direkt neben der Kirche lag. Heute ist er von dort vertrieben. Corona macht ihn — wie so vieles andere, was verdrängt ist — wieder sichtbar. Wussten Sie — bevor uns Corona die Zahlen der Covid-19-Toten täglich ins Haus brachte —, dass jedes Jahr weltweit über 50 Millionen Menschen sterben? Oder in Deutschland jeden Tag 2.500?

Die letzte Zahl haben Sie inzwischen vielleicht gelesen. Aber das sind nur Zahlen, abstrakt, sie berühren uns emotional nicht. Bei Corona werden sie bebildert, sichtbar gemacht, bekommen Namen und Gesichter und werden dazu noch mit hoch emotionalen Worten beschrieben: „Es ist wie ein langsames Ersticken.“ Da erschrickt man. Wer will schon langsam ersticken?

Und das geschieht in Mailand, in Madrid und Straßburg und in London, das ist etwas anderes als der tägliche Hungertod in Afrika, der ist weit weg, davor müssen wir keine Angst haben. In Europa und vor allem in Amerika sterben wir, man sieht es gerade, weniger an Unterernährung als am Gegenteil, an unserer Fettleibigkeit. Macht Corona auch da etwas sichtbar? Dass wir alle zu fett sind?

Corona als Spiegel

Corona hält uns, daran kann kein Zweifel bestehen, den Spiegel vor. Die ganze Erde ächzt seit langem unter der Last der Menschen, die sie zu tragen hat, und ihrer Exkremente, der Plastikmüll, der Atommüll und all die anderen Abfälle sind nichts anders als die Verdauungsprodukte — sprich: die Scheiße — der modernen Welt. Dass die ganz Dicken jetzt zuerst sterben, kann man durchaus als Symbol nehmen — es ist der Erde zu viel.

Wie gesagt: als Symbol, ich glaube nicht an einen absichtsvoll handelnden Akteur Namens Erde oder Natur. Aber es ist ein Spiegel. Corona kommt ja aus der Natur, Viren sind die ältesten Bewohner der Erde, sozusagen unsere Urahnen. Das „Scheiß-Virus“, wie eine Freundin meiner Frau es nannte, ist Natur pur.

Diese Natur zeigt uns, dass wir immer noch Natur sind. Wären wir, wie es der geheime Traum der Moderne ist, der Natur schon enthoben, könnte ein Virus uns nichts anhaben. Genau darauf läuft alles hinaus, das ist das innerste Wesen der Moderne: sich vollkommen von der Natur zu „emanzipieren“. Das heißt es, ein „autonomes Individuum“ zu sein. Das ist der moderne Traum von Freiheit.

Allerdings: Wenn wir die Natur, die äußere wie unsere innere, unser Tier-Sein, ganz im Griff oder uns ganz davon emanzipiert hätten, würden wir nicht mehr leben. Dann wären wir Maschinen, unsere eigenen Kreationen, die über uns herrschen. Sklaven von Sklaven, die untoten Toten aus Draculas Gruselwelt. Das ist die moderne, als Autonomie gedachte Freiheit.

Lügen mit richtigen Zahlen

Damit bin ich wieder beim Tod und bringe noch ein paar andere Zahlen dazu. Weltweit begehen jedes Jahr über 800.000 Menschen Selbstmord. Das sind etwa 2.200 pro Tag, 15.400 pro Woche und rund 65.000 jeden Monat. 600.000 sterben an Drogen, 9,5 Millionen an Krebs.

Da kann Corona bei weitem nicht mithalten, vor allem dann nicht, wenn man als Covid-19-Tote nur diejenigen zählte, die tatsächlich an der Infektion — etwa infolge einer Lungenentzündung, wie es bei Infektionen der Atemwege üblich ist — gestorben sind und nicht an einer anderen schweren Krankheit, die durch eine Corona-Infektion verschlimmert wurde.

Von den Selbstmördern, Drogentoten und Krebstoten dürften auch die wenigsten älter als achtzig sein, und für viele von ihnen dürfte das Sterben nicht weniger schwer und hässlich gewesen sein als für die, deren Sterben und Tod uns jetzt täglich und in vielen Einzelheiten in den Nachrichten serviert wird.

Mit nichts kann man besser lügen oder sich in die Irre führen lassen als mit Zahlen und Statistiken. Die einfachste Lüge besteht darin, dass man Statistiken ohne den Kontext präsentiert, in dem sie erst einen Sinn ergeben. 2018 sind insgesamt knapp eine Million Menschen in Deutschland gestorben, also täglich circa 2.700.

Alltägliches kommt ans Licht

Das Coronavirus ist mindestens seit Mitte Februar unter uns, also zwölf Wochen, das heißt 84 Tage; das macht, wenn man für 2020 dieselbe Sterbezahl annimmt wie für 2018, insgesamt etwa 230.000 Tote. Da im Winter mehr sterben als im Sommer, dürften es mindestens 250.000 sein. Darunter hatten, Stand 4. Mai 2020, 6.861 neben anderen schweren Krankheiten auch Covid-19.

Der Hamburger Pathologe Klaus Püschel, der alle in der Hansestadt Verstorbenen obduziert und sich dabei über eine Empfehlung des Robert Koch-Instituts hinweggesetzt hat, dies nicht zu tun, weil er sich dabei infizieren könnte und das ohnehin keinen Sinn mache, sagt, alle seien bereits vor der Infektion so krank gewesen, dass kein einziger das Jahr überlebt hätte. Auch wenn das, wie Püschel selbst betont, nur für Hamburg gilt und keine repräsentative Aussage ist, so darf man daraus doch schließen, dass diejenigen, die direkt an der Infektion gestorben sind, nur einen sehr kleinen Anteil unter diesen 6.861 ausmachen.

Aber selbst wenn Corona für 5.000 Todesfälle ursächlich gewesen wäre, wären das ganze 2 Prozent aller Todesfälle seit Mitte Februar. Das heißt, dass man über die anderen 245.000 Toten schweigt. Da darf und muss man sich schon fragen oder, wenn man dafür verantwortlich ist, fragen lassen, wieso wegen dieser 2 Prozent fast das ganze wirtschaftliche und soziale Leben stillgelegt wird.

Die Antwort wird wahrscheinlich sein „damit aus den 2 Prozent keine 20 beziehungsweise aus 250.000 keine 500.000 werden“. Die Zahlen in Schweden sprechen zwar gegen eine solche Prognose, aber ich will hier nicht in den Streit eintreten, wie viele Opfer tatsächlich dem Virus zugeschrieben werden können, und auch nichts relativieren. Es geht mir auch nicht darum, ob die vergleichsweise wenigen Toten in Deutschland Folgen der politischen Maßnahmen sind oder einfach nur Glück in Kombination mit einem international vergleichsweise guten Gesundheitssystem.

Ich möchte nur deutlich machen, dass hier etwas ans Licht kommt — im Falle des Sterbens mit Corona wird es von den Medien ans Licht gezerrt und grell ausgeleuchtet —, was alltäglich und Teil des menschlichen Lebens ist: das Sterben und der Tod. Er geschieht überall und jederzeit. Corona macht ihn nur sichtbar, und das schockiert die Menschen, weil sie den Tod so weit wie möglich aus ihrem Alltag verbannt haben. Für den modernen Menschen ist er etwas, das eigentlich nicht mehr vorkommen dürfte.

Der Tod ist eine Unverschämtheit

Im Herbst letzten Jahres ist eine meiner Tanten mit 87 Jahren gestorben. Die letzten Jahre hatte sie krank im Bett verbracht. Auf dem Friedhof sagte ich zu jemandem, der auch schon über 80 war und ihr sehr nahe gestanden hatte: „Vom Ende her betrachtet vergeht das Leben wie im Flug. Von der anderen Seite her hat sie ein richtig langes Leben gehabt, da ist der Tod dann nichts Schlimmes.“ Eigentlich hätte ich sagen müssen „Der Tod war eine Erlösung und das Beste, was ihr passieren konnte“, aber ich wollte ihn nicht schockieren.

Für eine Frau, die daneben stand, war das, was ich gesagt hatte, schon zu viel. Sie schaute mich erstaunt an und sagte: „Die Medizin ist doch heute so weit, da sollte man doch meinen, dass sie noch einige Jahre hätte leben können.“ Was sie meinte war: Sie hätte noch länger leben sollen. Genau so, wie ich es am selben Tag als Schlagzeile auf der ersten Seite der Bildzeitung las: „Der Tod ist eine Frechheit.“ Das bringt es sehr genau auf den Punkt, das ist unsere Haltung zum Tod: Er sollte eigentlich nicht mehr vorkommen. Deshalb investieren Google und Co. im Silicon Valley Milliarden in die Forschung zur Überwindung des Todes.

Der Schock, dass uns unsere Sterblichkeit so drastisch vor Augen geführt wird, führt dazu, dass quasi das ganze Leben lahmgelegt wird, um nicht zu sterben. So macht der fast weltweite Lockdown im Frühjahr ungewollt etwas sehr Grundlegendes deutlich: Wer nicht sterben kann oder will, kann auch nicht leben!

Das gesellschaftliche Leben stand praktisch still, und zwar deshalb, weil man den Tod unbedingt vermeiden will. Den kümmert das nicht, der Sensenmann macht einfach weiter, und niemand schreibt darüber, weil es nicht Corona ist. Aber wir zahlen einen hohen Preis, eigentlich den höchsten: Der Preis der unbedingten Vermeidung des Todes ist der Verlust des Lebens, der Lebendigkeit. Corona zeigt es. Sehen wir es?

Ein totes Leben aus Angst vorm Tod

Ich möchte hier nicht gegen die Politik polemisieren. Regierungen können letztendlich nur das vollziehen, was das jeweilige Bewusstsein der Bevölkerung zulässt. Sie können dieses Bewusstsein ein wenig und für eine kurze Zeit in diese oder jene Richtung manipulieren und geben sich sehr viel Mühe, dies zu tun, aber am Ende spiegeln sie es nur — auch in den jeweiligen Spielarten von links-rechts oder liberal-autoritär.

Das gilt besonders für Demokratien, aber selbst ein Land wie China kann nicht dauerhaft gegen das Bewusstsein der Bevölkerung regiert werden und wird es faktisch auch nicht, wie ich nach 15 Jahren psychologischer Arbeit in China und der sehr nahen Begegnung mit einigen tausend Menschen dort aus eigener Erfahrung sagen kann. In einer auch nur halbwegs funktionierenden Demokratie besteht zwischen dem Regierungshandeln und dem mehrheitlichen Bewusstsein der Bevölkerung immer eine tragfähige Resonanz.

Im Falle der Maßnahmen gegen Corona ist diese Resonanz sogar überwältigend. Das ist kein Resultat politischer Manipulation — auch wenn die Art, wie in den Medien über Corona berichtet wird, welche „Experten“ wie zu Wort kommen und welche nicht zu Wort kommen oder gar niedergemacht werden, sehr manipulativ sein mag —, sondern ein Spiegel dessen, was die Menschen wollen. Sie wollen lieber ein totes Leben, als lebendig sterben.

Erinnerung an das Leben

Wollen wir das wirklich? Corona gibt uns die Chance, sich das zu fragen. Ich meine nicht ein Leben ohne Urlaub, ohne Großevents, ohne Massenaufläufe, ohne Partys und feiern bis zum Abwinken — darauf kann man durchaus verzichten, zumindest kann man es sehr reduzieren. Dann würde man sogar wieder mehr davon haben, dann würde es einem wieder mehr Freude machen. So wie wir uns früher unglaublich auf die ersten Erdbeeren oder Kirschen gefreut und sie genossen haben, weil es sie nicht das ganze Jahr gab.

Oder: Was war das für ein magisches Abenteuer, als ich mit 30 Jahren zusammen mit meiner Frau zum ersten Mal nach Thailand geflogen bin! Nach zwei weiteren Fernreisen in den nächsten beiden Jahren war mir allerdings klar, dass dies zur Gewohnheit und damit fade werden könnte, und wir haben uns ganz bewusst auf etwas anderes eingelassen: ein Kind.

Also: All die modernen Vergnügungen meine ich nicht, auch wenn ich in meinem Leben keinem Vergnügen aus dem Weg gegangen bin. Ich meine ein Leben ohne Nähe, ohne Umarmungen, eines, wo man im anderen zuerst den potentiellen Virenträger anstatt den Menschen sieht. Das wird ja zurzeit verlangt, und es könnte lange Zeit so bleiben.

Ich frage mich, was es mit einem Kind macht, wenn es jetzt eingetrichtert bekommt, dass die anderen gefährlich sind und man Abstand von ihnen halten muss; wie sehr die jetzigen Kinder und späteren Erwachsenen dies verinnerlichen. Werden sie jemals arglos einen anderen Menschen umarmen können? Wenn sie jetzt auf „Social distancing“ und ständiges Händewaschen programmiert werden, werden die Schulen die Neurosen-Zuchtanstalten für die nächste Erwachsenengeneration sein.

Dass fast alle das so hinnehmen, zeigt unter anderem, wie sehr wir uns von den Schreckensbildern manipulieren lassen und wie sehr die meisten es vermeiden wollen, der Tatsache ins Auge zu schauen, dass wir alle sterben und dass das Leben erst durch den Tod seinen Sinn und seinen Saft bekommt. Wollen wir ein totes Leben, um uns den Tod vom Leib zu halten? Nicht nur den Corona-Tod, sondern den ganz gewöhnlichen, den wir nicht sehen und nicht spüren wollen? Wollen wir wirklich das tote Vergnügungsleben, an das wir uns so sehr gewöhnt haben? Müssen wir all das haben, was wir haben?

Wie viel Ballast schleppen wir mit uns herum, wie viel Stumpfsinn ist in unseren Tätigkeiten und unserer modernen Erlebniswelt, in unserem Aktivsein? Will ich wirklich so leben, wie ich lebe? Vielleicht nehmen wir einmal ernst, was Jesus dazu gesagt hat: „Wer sein Leben behalten will, der wird es verlieren.“ Der Mann verstand etwas vom Leben. Aber die Menge schrie: „Ans Kreuz mit ihm!“ Sind solche Sätze nur für die Kanzel, aber nicht für das wirkliche Leben?

Was will ich wirklich?

Ich benutze hier bewusst die erste Person. Wir können und sollten uns das zwar auch als Gesellschaft fragen, aber „die Gesellschaft“ sind immer die anderen. Da bleibt man selbst schön außen vor, erhebt seine Forderungen und macht sich nicht nass. Nein, man muss sich all dass, was durch Corona sichtbar wird, schon selbst fragen, muss „ich“ sagen. Zum Beispiel sind von den nicht ganz Alten, die an Covid-19 sterben, mehr als die Hälfte zu fett — ich spreche Klartext, weil der vornehme medizinische Ausdruck „Adipositas“ das, worum es wirklich geht, verschleiert. Ich weiß, das klingt hart, und ich weiß auch, dass Fettsucht eine Sucht ist, die die Betroffenen sich, wie andere Süchtige auch, nicht aussuchen.

Vielleicht ist es sogar, wie ich es in meinem 2020 erschienenen Buch „Die Welt, in der wir leben. Das Bewusstsein und der Weg der Seele“, darlege, eine kollektive Krankheit. Eines ist nämlich sicher: Vor hundert Jahren gab es das so gut wie nicht. Es ist ein Phänomen der Moderne und der Wohlstandgesellschaft — auch wenn es eher Arme betrifft. Aus meiner Praxis weiß ich aber auch: Wenn man eine Krankheit oder eine Sucht hinter einem lateinischen oder englischen Namen versteckt, sieht man sie nicht und erkennt nicht die Botschaft, die sie enthält. Deshalb nenne ich das Kind — wie alle Krankheiten — beim deutschen Namen, auch wenn das manchen weh tut.

Es geht mir aber nicht um die Übergewichtigen und erst recht nicht darum, sie zu diskriminieren. Ich sehe darin vielmehr etwas zutiefst Symbolisches über unser modernes Leben. Die Frage ist: Bin ich auch zu fett? Das muss nicht unbedingt Körperfett sein, aber ich kann zum Beispiel nachschauen, ob nicht mein Kleiderschrank zu fett ist. Bei den meisten Deutschen dürfte das der Fall sein.

Mehr als 50 Kleidungsstücke kauft sich der statistische Durchschnittsdeutsche im Jahr, habe ich vor einigen Monaten gelesen. Da ist jeder Säugling und jeder Greis mit eingerechnet, bei denen dazwischen dürften es also größtenteils über hundert sein. Ist das nicht echt fett? Genauso könnte jeder auf alle anderen Aspekte seines Lebens schauen und fragen: Brauche ich das wirklich? Will ich das wirklich? Macht mich das glücklich oder nur fett?

Notwendiger Weckruf

Wir brauchen alle von Zeit zu Zeit einen Schuss vor den Bug, um ein bisschen aufzuwachen. Für mich ist Corona ein solcher Schuss, wohl eher eine Kanonenkugel. Sie wird ohne Zweifel viel zerstören, aber ohne das würden wir einfach immer nur weitermachen wie gehabt und nicht aus unserem modernen Traum erwachen, wir könnten den Tod besiegen, die Natur beherrschen und das Leben nach unseren Vorstellungen gestalten, wenn wir uns nur richtig anstrengen — und das alles sei dann ein „gelungenes Leben“. Anders als durch heftige Erschütterungen, wie wir sie zur Zeit erleben, würden wir aus diesem Traum nie aufwachen.

Bis jetzt ist von diesem Aufwachen aber nicht viel zu bemerken. Stattdessen warten alle nur darauf, dass alles wieder Schwung aufnimmt, dass also so schnell wie möglich wieder so viel wie möglich Autos, Flüge, Urlaubsreisen, Kleider, Kosmetika, Fahrräder, gerne auch mit Batterie, Lebens- und Genussmittel jederzeit und superfrisch aus aller Herren Ländern, gern auch ökologisch angebaut und fair getraded, ge- und verkauft werden.

1.400 Flugbewegungen hatte der Frankfurter Flughafen vor Corona jeden Tag. Bei 18 Stunden Flugbetrieb sind das 75 Starts und Landungen pro Stunde, also etwa alle 50 Sekunden eine(r). Und das ist nur ein einziger Flughafen! Wir haben uns daran gewöhnt, dass das normal sein soll. Ist es nicht in Wahrheit verrückt? Ich fürchte, es muss noch kräftig scheppern, ehe sich da mehr als Kosmetisches ändert.

Immerhin, Corona könnte ein Anlass sein, sich selbst zu befragen. Nicht was man falsch macht, nicht, wo man sich einschränken müsste oder sollte. Das ist alles nur Moral und führt zu nichts. Man kann sich aber fragen, was einem wirklich wichtig ist, was man wirklich will. Ich frage mich zum Beispiel, ob meine — fast immer beruflichen — Flüge alle sein müssen.

Die Botschaft der Natur

Mich fragen heißt nicht, dass ich viel darüber nachdenke, ich lasse die Frage einfach in mir wirken. Ich weiß, dass sich die Antwort dann mit der Zeit von selbst ergibt — meist erst dann, wenn ich die Frage bereits vergessen habe. Dann ist es keine Frage des Verzichts — das funktioniert sowieso nicht —, sondern eine ganz klare, selbstverständliche Einsicht oder spontane Handlung.

Man kann auch fragen, ob uns die Natur in Gestalt von Corona etwas darüber mitteilt, was sie will oder nicht mehr lange mitmacht. Dazu muss man aber erst einmal innehalten. Mit Corona verhält es sich in dieser Hinsicht wie mit jeder anderen Krankheit: Sie enthält immer eine Botschaft, ist immer eine Aufforderung, auf sich und sein Leben zu schauen und nach innen zu spüren. Dabei geht es nicht darum, die Botschaft zu entschlüsseln, damit man weiß, was „die Krankheit mir sagen will“.

Das ist letztlich auch nur eine Weise, die Kontrolle zu behalten. Nein: Zunächst einmal zeigt einem jede Krankheit, dass man das Leben nicht im Griff und nichts unter Kontrolle hat; dass man ihm — dem Leben, der Natur, seinem Schicksal oder wie man es nennen mag — ausgeliefert ist. Das zu sehen ist, wenn es wirklich geschieht, der erste Schritt zur Heilung. Was dann zu tun ist, ergibt sich daraus von selbst.

Notwendiges Innehalten

Wie gesagt: Dazu muss man innehalten. Wenn man sofort ins Machen geht, kann man die Botschaft nicht sehen oder hören. Corona ist eine Botschaft für uns alle, für die gesamte Menschheit, denn es trifft uns alle. Nicht nur eine, sondern viele Botschaften in einem. Wir werden sie aber erst wahrnehmen, wenn wir uns von Corona und allem, was dabei geschieht, ergreifen lassen, wenn wir uns ausliefern. Dazu gehört es, nicht sofort wissen zu wollen, was das alles bedeutet.

Im Moment spucken die Menschen — ganz unabhängig davon, ob sie etwas wissen oder nicht — mehr Meinungen in den Äther als Viren. Das ist die Abwehr gegen das Ergriffenwerden, die Abwehr gegen jede Veränderung, die durch Corona geschehen könnte. All die, die zu wissen meinen, was jetzt zu tun ist, können die Botschaft nicht vernehmen. Dazu muss man still sein.

Gestern Abend ist mir Fritz eingefallen, ein früherer Freund meiner Frau. Sie haben zusammen studiert und sind jeden Tag mit noch zwei Freundinnen von Bonn nach Köln zur Fachhochschule gefahren. Fritz war schwul und ein Hedonist, der das Leben auf die leichte Schulter nahm. Als wir einmal nach einem Abendessen bei uns zu Hause sehr viel Wein getrunken hatten, blieben er und eine der beiden Frauen, die auch mit dabei war, die Nacht über in unserem Wohnzimmer und schliefen auf der recht großen Sitzecke.

In der Nacht musste ich zur Toilette und hörte zu meiner Verwunderung — Frauen waren für Fritz bis dahin sexuell völlig uninteressant gewesen — aus dem Wohnzimmer sehr eindeutige Geräusche. Beim Frühstück habe ich Fritz gefragt, wie die Nacht war, und er meinte grinsend: „Von mir aus könnte es noch viel mehr Geschlechter geben.“ Fritz ist leider etwas zu früh geboren, denn damals glaubte man noch, es gäbe nur zwei Geschlechter.

Einige Jahre später, wir wohnten schon nicht mehr in Bonn, hörten wir, dass Fritz HIV-positiv sei. Das war damals ein Todesurteil. In wenigen Jahren, so war es bei allen, die man kannte, würde AIDS ausbrechen, und dann war der Tod nur eine Frage der Zeit, und zwar einer sehr kurzen. Und das Sterben war elend. Ein gutes Jahr später hat Fritz einen neuen Test gemacht — er war negativ. Der erste Test war falsch gewesen. Wegen dieses falschen Tests hatte er ein Jahr lang unter der Todesdrohung gelebt und sicher auch schwer darunter gelitten.

Fragen und Zweifel

Ein Skandal, könnte man sagen. Aber einer, der Fritz wahrscheinlich das Leben gerettet hat. Bis dahin war er nämlich mindestens einmal im Monat durch die Kölner Schwulenkneipen gezogen und hatte dabei wahllosen Sex mit Unbekannten, und Drogen waren auch oft mit dabei. Der falsche Test hatte ihn gezwungen, sein Leben zu ändern.

Auch heute, bei Corona, sind die Tests und die ganzen Zahlen und Diagnosen, die verbreitet werden, alles andere als zuverlässig. Vieles riecht nach Skandal, und viele Fachmediziner werden denunziert, weil sie unbequeme Meinungen und Interpretation der vorliegenden Daten vortragen. Aber dass sich die Politik auf die einen Experten stützt und gegenteilige Stimmen als nebensächlich oder gar falsch beiseite schiebt oder schlicht ignoriert, ohne dass auch nur einer der Politiker ebenso wie jeder andere Laie fachlich beurteilen kann, was stimmt, ist kaum vermeidbar.

Selbst wenn ein Politiker sich alle fachlichen Meinungen anhört, weiß er nicht, was richtig ist. Er muss Entscheidungen treffen, und er tut es in Ungewissheit. Diesmal musste sehr schnell entschieden werden, und es ist einfach menschlich, dass man dann alles ausblendet, was den einmal eingeschlagenen Weg infrage stellt. Das lernt jeder Psychologiestudent, es heißt „kognitive Dissonanz“, und der unterliegt jeder, auch alle Kritiker. Jeder blendet zunächst einmal das aus, was ihm nicht in den Kram passt. Der Streit darüber, was richtig ist, muss zwar sein, aber er ist auch müßig, denn niemand weiß es — außer hinterher.

Als Betroffener — wir sind ja irgendwie alle betroffen — kann man das alles aber auch einfach nehmen, wie es ist. Ob es mir gefällt oder nicht, ob ich es für sinnvoll halte oder nicht, ob ich darunter leide oder nicht: Ich bin dem Ganzen ausgesetzt. Und niemand weiß, ob der „Lockdown“ neben all den absehbaren schlimmen Folgen nicht auch sein Gutes hat. Das kann man aber erst erfahren, wenn man sich darauf einlässt und sich ihm ergibt. Am Beispiel von Fritz kann man es sehen.

Wir wissen nie, was ein Ereignis für unsere Zukunft bedeutet. Man kann das alles, angefangen vom Virus selbst bis hin zu den politischen Maßnahmen zu seiner Eindämmung, als das nehmen, was das Leben einem gerade vor die Tür setzt, und kann schauen, was es mit einem macht und ob sich daraus nicht Perspektiven ergeben, an die man vorher nie gedacht hätte.

Positive Aspekte

Mir persönlich tut er in diesem Sinne gut. Ich muss auf eine große Asienreise und mehrere europäische Auslandsreisen, die bei mir neben der Arbeit, die mich erfüllt, immer auch Begegnungen mit Freunden beinhalten, verzichten und verliere eine Menge Geld. Das psychologische Institut, das ich mit einem meiner beiden Söhne leite und in dem wir normalerweise jedes Wochenende einen Ausbildungs- oder Selbsterfahrungskurs durchführen, ist seit Mitte März bis auf weiteres geschlossen.

Ich setze mich einfach der Situation aus, wie sie ist, und erfahre dabei sehr viel über mich selbst. Zum Beispiel ist mir bewusst geworden, wie sehr ich die letzten 10 bis15 Jahre am Anschlag gelebt und gearbeitet habe. Ich war dabei durchaus entspannt und habe das sehr genossen, aber jetzt merke ich, wie gut es mir tut, einmal richtig Pause zu machen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wann es wohl weitergeht und was dann zu tun ist.

Ich habe nämlich etwas ganz Entscheidendes erkannt: Der moderne Glaube, wir seien für unser Leben verantwortlich, wir könnten und müssten es nach unseren Ideen entwerfen und realisieren, ist ein Mythos, ein quasi religiöser Glaube, der nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Ich weiß, dass ich nicht der Schöpfer und der Macher meines Lebens bin. Ein winziges Virus befällt irgendwo in Asien einen Menschen und lässt die ganze Welt erstarren. Es ist einfach geschehen, niemand hat es gemacht.

Genauso ist es mit meinem Leben: Ein winziges Spermium, eines von vielen unzähligen Millionen, die mein Vater ausgestoßen hat, wurde von einem Ei meiner Mutter aufgenommen. Daraus ist alles geworden, was ich bin, ganz von selbst. Und heute Morgen bin ich, wie seit fast 72 Jahren jeden Morgen, einfach aufgewacht, ganz von selbst. Das ist das Leben. Um es mit Nietzsches Zarathustra zu sagen: „ein aus sich selbst rollendes Rad“.

Also warte ich einfach ab, was geschieht. Und die Freude, mein Enkelkind auf den Schoß zu nehmen und sie mit mir schmusen zu lassen, verbiete ich mir nicht und lasse sie mir auch nicht verbieten. Bisher habe ich es überlebt — und wenn es anders kommen sollte, ist es mir das wert.


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