Zwanzig Jahre Afghanistan. Das aktuelle Mandat für unsere Beteiligung am Afghanistankrieg läuft Ende März 2021 aus. Nun soll es um zehn Monate verlängert werden, bis zum 1. Januar 2022: „Wie bisher sollen bis zu 1.300 Soldaten im Rahmen der NATO-Ausbildungs-, Beratungs- und Unterstützungsmission ‚Resolute Support‘ entsendet werden können“, heißt es auf bundestag.de. In Afghanistan „ist die Bundeswehr als zweitgrößter Truppensteller hinter den USA mit bis zu 1.300 Soldaten engagiert“, so die Tagesschau. Der Bundestag hat zuletzt am 13. März 2020 die Fortsetzung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan um ein Jahr beschlossen. Die Linkspartei und die AfD stimmten geschlossen dagegen.
Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer wirbt aktuell für die Verlängerung des Mandats. Dabei erklärte sie, Deutschland stehe zu seiner „Verantwortung“, die es für die Menschen in Afghanistan übernommen habe, und zu seinen „Zusagen gegenüber internationalen Partnern“ sowie zur „Solidarität unter den NATO-Verbündeten“. Das gemeinsame „militärische Engagement“ sei dabei ein wichtiger Faktor, um dem „inneren Friedensprozess“ Afghanistans sowie den „Anstrengungen des zivilen Aufbaus“ und der „Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan“ die „nötige Zeit und den nötigen Raum“ zu geben. Aus meiner Sicht ist das Kriegspropaganda.
Wofür genau sind wir „verantwortlich“, womit genau „solidarisch“, welchen Effekt haben ausländische Militärs seit vielen Jahrzehnten auf den „inneren Friedensprozess Afghanistans“, und trifft die oft bemühte Darstellung von „zivile(m) Aufbau und Entwicklungszusammenarbeit“ hier überhaupt zu? Kann man einen Brand mit Feuerwaffen löschen? Zeit für eine Rückschau.
9/11 als Auslöser für den Krieg in Afghanistan
Der Filmemacher Michael Moore beschreibt in seinem Buch „Volle Deckung Mr. Bush“ die Stimmung kurz nach dem 11. September 2001. Seine Schilderung der damaligen Panikmache erinnert erschreckend an unsere ganz aktuelle Situation, heute allerdings in Bezug auf einen völlig anderen, unsichtbaren Feind. Es lohnt daher eine Erinnerung daran:
„Unsere Führer möchten uns glauben machen, dass dies ein Guerillakrieg ist, geführt von Tausenden ausländischer Terroristen/Soldaten, die heimlich in unserem Land leben Aber das ist es nicht, was sich hier abspielt, und es ist höchste Zeit für einen Realitätscheck. Amerikaner werden sehr selten vom internationalen Terrorismus und so gut wie nie auf amerikanischem Boden ins Visier genommen. Im Jahr 2000 betrug die Wahrscheinlichkeit, als Amerikaner in den Vereinigten Staaten einen Terroranschlag zum Opfer zu fallen, exakt Null. (...)
Im Jahr 2001 war es viel wahrscheinlicher, dass ihr an der Grippe oder einer Lungenentzündung dahinscheidet (1:4500), euch selbst das Leben nehmt (1:9200), einem Mord zum Opfer fallt (1:14.000) oder bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt (1:6.500). (...)
Sämtliche oben zitierten Todesursachen sind weitaus wahrscheinlicher als der Tod durch Terrorismus, aber deswegen werden keine neuen Gesetze verabschiedet, keine Länder bombardiert, keine Milliarden Dollar pro Monat an zusätzlichen Mitteln bereitgestellt, keine Einheiten der Nationalgarde entsandt und kein Alarm der Stufe Orange ausgelöst. Genauso wenig bringt CNN deswegen am unteren Bildschirmrand fortlaufende Textbänder mit Details, die uns in heillose Panik versetzen“ (1).
Die Anschläge vom 11. September 2001 waren Auslöser für die deutsche Beteiligung am Afghanistankrieg. Die Bush-Administration erklärte, dass Osama Bin Laden sich in Afghanistan aufhalte und von den Taliban große Terrorgefahr ausgehe. Bereits wenige Tage nach den Anschlägen, am 20. September 2001, verkündete Präsident George W. Bush in seiner Rede vor dem Kongress: „Unser Krieg gegen den Terrorismus beginnt mit der Al-Quaida, aber er wird dort nicht enden. Er wird nicht eher zu Ende sein bis jede weltweit tätige terroristische Gruppe gefunden, am weiteren Vorgehen gehindert und besiegt worden ist.“ Hört man diese Rede von Bush an, läuft es einem kalt den Rücken herunter. Sie klingt spaltend, angsteinflößend und gewaltbereit.
Die USA erklärten die Terroranschläge zum ersten NATO-Bündnisfall der Geschichte, was zur Beteiligung vieler Länder, unter anderem Großbritannien, Frankreich und Deutschland führte. Deutschland spielte von Anfang an eine bedeutende Rolle. Von Februar bis August 2003 etwa übernahm Deutschland das ISAF-Kommando als sogenannte „Lead Nation“. Gleichzeitig stellte die Bundesrepublik zu dieser Zeit den größten Teil der Einsatzkräfte vor Ort . Im August 2003 ging die Führung der International Security Assistance Force (ISAF) an die NATO über.
Die Terroranschläge vom 11. September 2001 müssen als nicht geklärt betrachtet werden, da zu viele berechtigte Zweifel an der offiziellen Version seitens der Wissenschaft und von Fachleuten bestehen. Beispiele hierfür sind die „Architects and Engineers for 9/11 Truth “, die vierjährige Studie des Bauingenieurs Leroy Hulsey an der University of Alaska Fairbanks zu WTC7 , die Forschung des Historikers Daniele Ganser zu WTC7 , die Analysen des Physikers Ansgar Schneider und viele weitere.
Auch unabhängig davon stellt sich die Frage: „Würde der Westen, wenn es in den bayerischen Alpen ausländische Terroristen gäbe, München bombardieren lassen?“ (2). In den Jahren 2011 bis 2017 beträgt die Anzahl an Todesopfern in bewaffneten Konflikten des Afghanistankriegs mindestens 83.800. Die Tendenz war während dieser Jahre durchweg steigend. Die deutsche, US-amerikanische und die kanadische Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) schätzt die Opferzahl des seit 2001 andauernden Afghanistankriegs bereits im Jahr 2015 auf 220.000. Wie viele Menschen müssen sterben, weil wir uns infolge des 11. September 2001 „vor Terroranschlägen schützen“ müssen? Wann ist es genug?
Afghanistan und unsere Demokratie
Der Angriffskrieg aller NATO-Länder auf Afghanistan ist völkerrechtswidrig, da es hierfür kein UNO-Mandat gibt (3). Vielen Menschen ist nicht bewusst, wie fadenscheinig die Rechtfertigung für diesen Krieg ist. „Natürlich kannte die Bush-Administration das Gewaltverbot der UNO“, erinnert der Historiker Daniele Ganser, „aber sie kümmerte sich nicht darum und nutzte einen undurchsichtigen Terroranschlag, um mit dem Hinweis auf das Recht auf Selbstverteidigung Afghanistan anzugreifen. Doch so war das in der UNO-Charta festgehaltene Recht auf Selbstverteidigung nie gedacht. Solange nicht klar ist, wer die Verantwortung für den Angriff trägt, besteht kein Recht auf Selbstverteidigung“ (4).
Da in der Resolution 1368 Afghanistan nicht genannt wurde, gab diese Resolution der USA auch nicht das Recht, dieses Land für den Anschlag vom 11. September verantwortlich zu machen und es anzugreifen. „Die USA hätten mit Verweis auf Resolution 1368 auch nicht zum Beispiel Saudi-Arabien bombardieren dürfen, mit dem Argument, das Land sei in die Finanzierung von Terror verstrickt“ (5).
Deutschland entsendet seit fast zwanzig Jahren, seit 2001, Soldaten nach Afghanistan. Die „Auslandseinsätze“ liefen unter verschiedenen Bezeichnungen, angefangen über die US-geführte „Operation Enduring Freedom“, an der sich das KSK (Kommando Spezialkräfte) mit bis zu 100 Soldaten beteiligte. Im Juni 2018 berichtete die Stuttgarter Zeitung, das KSK sei seit 17 Jahren vor Ort.
Es folgte im Januar 2002 die NATO-„Mission“ ISAF (International Security Assistance Force), an der sich die Bundeswehr mit bis zu 5.350 Soldatinnen und Soldaten beteiligte. Ende 2014 wurde ISAF „beendet und in die Ausbildungsmission Resolute Support überführt, anders gesagt, unter neuem Namen weitergeführt. Aktuell sind wir mit bis zu 1.300 Soldaten am Hindukusch vor Ort.
Die deutsche Beteiligung an der US-geführten „Operation Enduring Freedom“ durch das Kommando Spezialkräfte erfolgte im Oktober 2001. Die Abstimmung des Bundestags zu diesem Einsatz erfolgte erst am 16. November 2001. War das damals noch Demokratie?
Das KSK wurde 1996 gegründet, ursprünglich, um einen Spezialtrupp zur Verfügung zu haben, welcher imstande ist, zum Beispiel deutsche Geiseln zu befreien. Der KSK-Einsatz bei Enduring Freedom ist in der breiten Öffentlichkeit nie wirklich angekommen. Das Mitwirken einer Spezialeinheit für besonders harte Einsätze an einer „Friedensmission“ lässt sich der Öffentlichkeit auch nur schwer erklären. Auch die Frage, warum die Abstimmung nach dem Einsatzbeginn stattfand, wurde nicht öffentlich besprochen. Beim Schwarzwälder Boten interessiert man sich für das KSK, weil es dort seinen Sitz hat. Dort heißt es:
„Am 7. Dezember 2004 verlieh der damalige Präsident George W. Bush Angehörigen der zwischen Oktober 2001 und März 2002 in Afghanistan operierenden Einheit des Kommando Spezialkräfte die ‚Navy Presidential Unit Citation‘ für ‚außerordentlichen Mut, Einfallsreichtum und aggressiven Kampfgeist im Gefecht gegen einen gut ausgestatteten, gut ausgebildeten und heimtückischen terroristischen Feind‘.“
In einer funktionierenden, freien Medienlandschaft müsste die Frage nach dem fehlenden Mandat auf den Titelseiten der großen Zeitungen aufgeworfen werden. Dort war sie aber nicht zu finden. 2015 erzählt ein KSK-Kämpfer unter dem Pseudonym Tom im Focus von seinen Erfahrungen:
„Kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA, die Trümmer rauchten noch, haben sich die Special Forces der Amis, also Navy Seals, Ranger und Delta Force, bei uns gemeldet und darum gebeten, dass wir ihnen bei der Fahndung nach den verantwortlichen Tätern in Afghanistan helfen. Kanzler Gerhard Schröder und Verteidigungsminister Rudolf Scharping haben gleich grünes Licht gegeben. Wir sind also ohne Mandat des Parlaments in den Krieg gezogen. Und das unter einer rot-grünen Regierung.“
Im Dezember 2001 war „Toms“ Kompanie dann bereits voll im Einsatz. Zur „Unterstützung der US-Einheiten“ umstellten die Deutschen im Osten Afghanistans den Höhlenkomplex Tora Bora, „weil man dort Osama bin Laden und seine Gefährten vermutet hätte“. Gemäß Artikel 87a des Grundgesetzes darf die Bundeswehr aber nur zur Verteidigung Deutschlands eingesetzt werden. Bereits in den 1990er-Jahren begann aber leider eine Entwicklung, die dem entgegensteht und sogenannte Out-of-Area-Einsätze, also Einsätze außerhalb des NATO-Gebietes, grundsätzlich möglich machte.
Zur Vorgeschichte: Afghanistan und die CIA
Im Jahr 1979 marschierte die Sowjetunion in Afghanistan ein. Abgewehrt wurden sie dort von den Mudschahedin, fundamentalistische und militante Islamisten, die durch die Central Intelligence Agency (CIA) aufgerüstet wurden. Die Sowjets konnten diesen Krieg letztlich nicht gewinnen und zogen 1989 ab.
In dem Arte-Dreiteiler „CIA ― Guerres secrètes“ aus dem Jahr 2003, auf Deutsch „Geschichte der CIA“, oder besser wörtlich: „CIA ― Verdeckte Kriege“, äußern sich ehemalige Agenten auch zu dieser Zeit. Der ehemalige CIA-Direktor Robert M. Gates bringt es auf den Punkt:
„Die fundamentalistischsten Gruppierungen, die damals unsere Verbündeten waren, sind heute unsere Gegner. Oder die, die daraus entstanden sind.“
Auch der russische Geheimdienstler Oleg Kalugin, ein Berater des letzten KGB-Chefs, erinnert sich:
„Sicher. Die CIA hat den afghanischen Mudschaheddin Waffen und Instruktionen geliefert. Und wie wir wissen, gehörte Bin Laden damals auch zu den Empfängern.“
Frank Carlucci, ehemals Vize-CIA-Direktor, bestätigt:
„Vielleicht brauchten sie gar nicht so viele Waffen. Die Stinger-Raketen, all die Unterstützung. Vielleicht haben wir die fundamentalistische Bewegung erst geschaffen.“
Robert Steele, ehemaliger CIA-Agent, geht noch weiter:
„Wir schickten Bomber in den Norden Russlands, nur um zu sehen, wie weit wir kamen. Darum steckte die Sowjetunion so viel Geld in Raketen und andere Abwehrsysteme. Die USA haben das provoziert. So etwas ist schlechte Politik. Es war dummes Cowboy-Gehabe und wir hätten das nie tun sollen.“
War es wirklich nur das? 1986 stand die UdSSR dann kurz vor dem Zusammenbruch, heißt es im Film. Robert M. Gates fasst zusammen:
„Die zunehmenden Verluste und Probleme in diesem Krieg wirkten sich in der Sowjetunion genauso aus, wie der Vietnamkrieg in den USA. Das hat, glaube ich, erheblich zum Zusammenbruch der Sowjetunion beigetragen.“
Ob das nun Zufall oder lange Planung war, bleibt im Arte-Film unbeantwortet. Doch seit wann genau rüsteten die USA die Mudschahedin auf? Daniele Ganser bezieht sich hierzu auf Aussagen des damaligen Sicherheitsberaters des Präsidenten, Zbigniew Brzeziński. von 1998:
„‚Gemäß der offiziellen Version der Geschichte begann die Hilfe der CIA an die Mudschaheddin im Jahre 1980, also nachdem die Sowjets am 24. Dezember 1979 in Afghanistan einmarschiert waren‘, so Brzeziński. ‚Aber die Realität, streng gehütet bis heute, ist eine gänzlich andere. Es war am 3. Juli 1979, als Präsident Carter die erste Direktive unterschrieb, welche die geheime Hilfe an die Gegner des pro-sowjetischen Regimes in Kabul einleitete‘“ (6).
Somit war Präsident Carter über die geheime Kriegspolitik der USA in Afghanistan informiert gewesen. „Am selben Tag (3. Juli 1979) schrieb ich dem Präsidenten, dass diese Unterstützung (an die Mudschahedin) eine sowjetische Invasion auslösen würde“, erinnert sich Brzeziński‚ der offenbar nichts bereute. „Die geheime Operation war eine ausgezeichnete Idee. Sie hatte den Effekt, die Russen in die afghanische Falle zu locken“ (7).
Die Gewaltbereitschaft spitzte sich nach den Anschlägen 2001 zu: „Im Militär und im Geheimdienst gewannen die aggressiven Männer die Oberhand, darunter Psychopathen voller Hass und ohne Empathie. Der Leiter der Anti-Terrorismus-Abteilung der CIA, Cofer Black, erklärte bei einem Treffen mit Präsident Bush unmittelbar nach den Terroranschlägen, dass paramilitärische Einheiten der CIA nach Afghanistan geschickt werden sollten, um Bin Laden und seine Helfer zu töten“ (8). Die extreme Gewaltbereitschaft des Agenten wird im Folgenden durch von Black zitierte sehr blutrünstige Ausführungen belegt.
Das internationale Eingreifen in Afghanistan hat eine Gewaltspirale in Gang gesetzt. Ich vergleiche diesen Krieg mit einem Brand, der gelegt wurde: Dann „brennt“ es. Die Brandstifter schicken nun gnädig ihre eigene Feuerwehr dorthin. Das erinnert an Methoden der Mafia. Auch wenn die, die den Laden dann anschließend „beschützen“, nichts oder wenig von den Aktivitäten der Bosse wissen: Die gesamte Geschichte steht auf dem Kopf.
Geostrategisch gesehen liegt Afghanistan an einem bedeutenden Ort, weil in den Nachbarländern und im Kaspischen Meer viel Öl und Gas zu finden ist (9). Tatsächlich gab es schon in den 1990er-Jahren Diskussionen über den Bau der Pipeline TAP, welche aufgrund der uneindeutigen Haltung der Taliban immer wieder vertagt wurde. Aktuell wird sie unter dem Namen TAPI (Turkmenistan-Afghanistan-Pakistan-Indien-Pipeline) gebaut. Über die Haltung der Taliban dazu wird widersprüchlich berichtet.
Natürlich geht es nicht nur um eine bestimmte Pipeline, sondern um Macht:
„Die USA fanden Afghanistan geostrategisch schon lange begehrenswert. Vom zentralasiatischen Afghanistan aus war man ganz nah an China, Russland und am Iran. Afghanistan ist ein idealer geostrategischer ‚Flugzeugträger‘“, fasst Jürgen Todenhöfer zusammen (10). Den USA sei es „wichtig, die Kontrolle über die Ölquellen im Mittleren Osten zu behalten. Über das Blut der Weltwirtschaft. Und sie nicht an China oder Russland zu verlieren. Außerdem sehen sie im Mittleren Osten einschließlich Iran und Afghanistan eine wichtige Pufferzone zu Russland und China. ‚Vorfeldsicherung‘ nennen Militärstrategen das“ (11).
Afghanistan als Tabuthema
Afghanistan, besser gesagt eine ehrliche und tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Krieg dort, ist hierzulande ein Tabuthema. Mehrheitlich spüren wir wohl unbewusst, dass wir zum Thema Afghanistan nicht aufrichtig informiert wurden und werden. Die allgegenwärtige Zusammenhanglosigkeit wird während des Nachrichtenkonsums vielleicht nicht bemerkt, hinterlässt aber bei vielen Menschen zumindest ein Gefühl von Unsicherheit in Bezug auf die eigene Meinung und Kommunikation zum Thema.
Selbst wenn man dem Narrativ der Mainstream-Medien zu Afghanistan Glauben schenkt, stellen sich Fragen: Warum sind wir noch dort, obwohl Osama bin Laden schon tot ist? Wie viele unschuldige Menschen sollen sterben, um theoretische künftige Terroranschläge zu verhindern? Warum muss Deutschland seine Sicherheit am Hindukusch verteidigen? Warum dauern Brunnen- und Schulenbau trotz vieler Millionen investierter Euro zwanzig Jahre lang? Warum sollen irgendwelche Werte eines Landes in einem anderen Land verteidigt oder etabliert werden, wenn dieses nicht danach fragt ... und so vieles mehr. Talkshows zu dem Thema werden in den Massenmedien vermieden. Wenn es aber sein muss, wie etwa 2010 nach mehreren deutschen Gefallenen dort, dann gaukeln diese Sendungen ein pluralistisches Meinungsabbild vor, ohne es zu liefern.
Das geht kurz gefasst so: Etwa drei bis vier NATO-konforme Kriegsbefürworter sprechen mit oberflächlich betrachtet unterschiedlichen Meinungen gegen ein bis zwei „Querulanten“, die so lange unterbrochen und provoziert werden, bis sie ein wenig emotional klingen, und ― gefühlt ― mit ihrer Meinung eher alleine dastehen. Wenn diese Kritiker einen starken Moment haben und das Publikum emotional auf ihre Seite ziehen könnten, wird das Thema gewechselt und ein Einspieler zu etwas völlig anderem gebracht. In der Sendung Anne Will „Im Krieg gedient, zu Hause ausgedient?“ vom Januar 2011 ist dies ein Filmbeitrag über einen Unfall auf dem Segelschulschiff Gorch Fock, welches mit Afghanistan überhaupt nichts zu tun hat. Allein die Analyse dieser Sendung wäre einen eigenen Artikel wert.
Diese Sendung ― allgemeiner formuliert, das Afghanistan-Narrativ in den Mainstream Medien ― hinterlässt also beim eher reflektierten Zuschauer das oben genannte Gefühl von eigener Unklarheit zu einem eigentlich sehr wichtigen Thema, bei einfacher gestrickten Menschen womöglich das Wohlgefühl, schon auf der richtigen Seite zu sein, solange man zustimmt. Beides führt zu keiner fruchtbaren Debatte, und fördert auch nicht den Frieden.
In den USA ist die Informationslage insgesamt gesehen offenbar nicht besser. Im Dezember 2019 hatte die Washington Post einen umfassenden Enthüllungsbericht zum Afghanistankrieg vorgelegt, berichtete t-online. Darin zeige sich:
„Die Entscheidungsträger in Politik und Militär hätten das Unterfangen völlig falsch eingeschätzt ― und das eigene Volk über Jahre getäuscht, in dem sie über angebliche Fortschritte berichtet hätten, die es vor Ort nicht gegeben habe.“
Die Veröffentlichung bezog sich auf einen Regierungsbericht der USA, für den Hunderte frühere Entscheidungsträger in den Jahren 2014 bis 2018 interviewt worden waren.
„Sie rechneten nicht damit, dass die Aussagen öffentlich werden könnten. Dementsprechend deutlich fallen die Urteile aus: ‚Wir waren frei von grundlegendem Verständnis für Afghanistan — wir wussten nicht, was wir taten‘, sagte demnach Douglas Lute, ein früherer Dreisternegeneral, der für die Regierungen von George W. Bush und Barack Obama den Krieg beaufsichtigte. ‚Wir hatten nicht einmal die nebligste Vorstellung von dem, was wir unternehmen‘.“
John Sopko, der die Untersuchung für das Büro des Generalinspekteurs für den Wiederaufbau in Afghanistan durchführte, hatte aus den Befragungen der Militärs und Beamten folgendes Fazit gezogen: „Das amerikanische Volk wurde andauernd belogen.“
In dieser Hinsicht erinnerten die von der Washington Post „Afghanistan Papers" genannten Berichte an die „Pentagon Papers" aus der Zeit des Vietnamkriegs. „Die im Jahr 1971 von New York Times und Washington Post veröffentlichten Geheimdokumente zeigten der amerikanischen Öffentlichkeit, dass die US-Administrationen über Ziele, Operationen und Fortschritte im Vietnamkrieg Kongress und Bevölkerung in die Irre geführt hatten.
Alles nur Brunnenbau? Afghanistan und die Bundeswehr
Der Krieg in Afghanistan ist der mit Abstand gefährlichste, folgenschwerste und verlustreichste Krieg, an dem Deutschland seit der Gründung der Bundeswehr beteiligt ist. Erstmals seit ihrer Aufstellung 1955 gerieten deutsche Soldaten in schwerere Gefechte. In diesem Krieg verloren 59 Soldaten nach offizieller Statistik bis heute ihr Leben. Die Anzahl der Gefallenen des KSK ist nicht enthalten und unbekannt. Hunderte Soldaten wurden körperlich und seelisch verwundet. Die Bundeswehr beschreibt ISAF als „Anstoß für den grundlegenden Wandel (...) von einer Verteidigungsarmee zu einer Einsatzarmee.“
Der KSK Soldat „Tom“ erinnert sich 2015 im Focus-Interview:
„Der Feind war und ist grausam. (...) Wir haben die Taliban gejagt, ausgespäht, umzingelt, in blutigen Gefechten getötet. Es war fürchterlich.“
Afghanistan sei ein zerrüttetes Land, welches er so manchem Politiker gerne einmal zeigen würde. Auch nach dem Abzug der ISAF-Truppen bleibe das KSK dort stationiert.
Auch die ISAF-Soldaten der Bundeswehr, die nicht der Spezialeinheit angehören, finden dort häufig eine vollkommen andere Realität vor, als die, welche man uns in den Medien nahegelegt hat. Sie sehen sich auf ihren Patrouillen von verbuddelten improvisierten Sprengfallen bedroht, die Gesundheit und Leben kosten können oder geraten in schwere Gefechte, wie etwa im Jahr 2010.
Wer dennoch an die Afghanistan-Lightversion vom Wiederaufbauteam in Tarnfleck glauben will, dem empfehle ich den informativen Vortrag „200 Tage Kundus“ von Hauptmann Marcel Bohnert an der Universität der Bundeswehr Hamburg. Bohnert war von Juni 2011 bis Januar 2012 Chef einer Infanteriekompanie in der Task Force Kundus. Während ich das hierzulande breit gestreute Bild vom Brunnenbau in Afghanistan als scheinheilig empfinde, erscheint mir dieser Bericht ein notwendiges Gegengewicht dazu. Gleich zu Beginn stellt Bohnert klar:
„Im offiziellen Sprachgebrauch in Berlin das Ausbildungs- und Schutzbataillon. Wir haben uns selbst nicht so verstanden, auch unsere Vorgänger hatten sich so schon nicht verstanden, und deshalb haben wir für uns den treffenderen und auch international gebräuchlichen Begriff gewählt, nämlich wie ich es gerade gesagt habe, Infanteriekompanie in der Task Force Kundus.“
Sein Kamerad Björn Schreiber ist Kapitänleutnant und war vor Ort zuständig für Zivil-militärische Zusammenarbeit (CIMIC). Er bringt es auf den Punkt: „CIMIC ist nicht das, was sie aus dem Cosmo gehört haben, dass wir irgendwelche Dachlatten nehmen, irgendwelche Schulen bauen oder Brunnen bauen. Vergessen Sie es bitte, wir sind keine Wiederaufbauhelfer in Uniform.“ Im Anschluss des Vortrags ergänzt er als Antwort auf eine Frage: „Wenn wir Projekte oder Maßnahmen machen, sind sie aus operativ-taktischer Notwendigkeit geschehen“ (12).
Auch Jürgen Todenhöfer widerlegt das Narrativ vom militärischen Wiederaufbauhelfer beim Brunnen- und Schulenbau:
„Ich habe mit vielen führenden deutschen Politikern über den Afghanistankrieg diskutiert. Privat und öffentlich. Ich habe sie gebeten, mir zu erklären, warum Deutschland sich wirklich an diesem Krieg beteiligt. Nicht ein einziger Politiker konnte mir eine Antwort darauf geben. Unter vier Augen ging es keinem um die Rechte afghanischer Schulmädchen, von denen sie in der Öffentlichkeit so oft sprachen. Kaum ein führender Politiker weiß heute, wie es afghanischen Schulmädchen geht. Es interessiert sie auch nicht. Sie haben ihre Kriegslügen längst vergessen“ (13).
Zwei Drittel der afghanischen Mädchen gingen laut UNICEF und Human Rights Watch nach wie vor nicht zur Schule, so Tödenhöfer in „Die große Heuchelei“. „Dreißig Prozent der Schulen haben kein sauberes Trinkwasser, sechzig Prozent keine Toilette. Vierzig Prozent der Schulen verfügen nicht einmal über ein Gebäude“ (14). In den Landesteilen, die von den Taliban kontrolliert werden, sei es um den Schulbesuch nicht anders bestellt als in den Regierungsgebieten. „Afghanistan ist komplizierter, als westliche Politiker denken.“ Todenhöfer kommt zu dem Schluss: „Es ging nie um Schulmädchen“ (15).
Zur Erinnerung: Die Kosten der Mandatsverlängerung kalkuliert die Bundesregierung für den Zeitraum vom 1. April 2021 bis zum 31. Januar 2022 mit insgesamt rund 382 Millionen Euro, Schulen- und Brunnenbau scheinen in Anbetracht solcher Summen in der Vergangenheit nicht im Fokus gewesen zu sein.
Warum gehen Soldaten nach Afghanistan?
Mich hat interessiert, was die Soldaten selbst darüber sagen. Die Soldatin Nariman Hammouti-Reineke war von Februar bis Juni 2008 als Kommandant eines Dingo-Radpanzers und Übersetzerin im ISAF-Einsatz in Kundus sowie von Februar bis Juli 2011 als Übersetzerin in Kundus und Masar-e Scharif: „Während meines ersten Einsatzes bestand meine Aufgabe als Expertin für elektronische Kampfführung darin, aus dem Dingo heraus elektromagnetische Signale zu senden, um zu verhindern, dass ferngesteuerte Sprengsätze gezündet werden konnten“, berichtet sie in ihrem Buch „Ich diene Deutschland“, und weiter: „Ich löste die Signale aus, sodass eventuell auf dem Weg platzierte Sprengfallen nicht gezündet werden konnten“ (16).
Hammouti-Reineke berichtet auch davon, dass Bundeswehrsoldaten hierzulande wegen der Auslandseinsätze beschimpft und angegriffen werden. „Diejenigen, die über die Einsätze der Bundeswehr entscheiden, sind ja nicht wir selbst“ (17), stellt sie dem entgegen, und erklärt ihren Standpunkt:
„Es geht für mich als Soldatin nicht darum, ob ich einen Einsatz gut oder schlecht finde. Ich werde danach nicht gefragt, und die Entscheidung dafür liegt nicht in meiner Verantwortung. Es ist eine politische Entscheidung des Bundestags, sich an internationalen Missionen zu beteiligen oder eben nicht. Ich vertraue darauf – — und muss das auch – — dass die demokratisch beschlossenen Einsätze sinnvoll und notwendig sind“ (18).
Viele Bundeswehrsoldaten, die nach Afghanistan gehen, sind zumindest anfangs klar der Ansicht, dort wirklich Gutes zu tun. Diesem Eindruck steht vor Ort zunächst vielleicht nichts entgegen, zumal alle Operationen zusammen mit den afghanischen Einheiten stattfinden, das sind Militär, Polizei und lokale Sicherheitskräfte. Genannt wird das Partnering.
Nariman Hammouti-Reineke beschreibt in „Ich diene Deutschland“ unter anderem die Stimmung der Kameraden vor ihrem Einsatz in Afghanistan:
„Vor meinem zweiten Einsatz hatte einer meiner Kameraden die Idee, ein anderes Waisenhaus zu unterstützen. Er erstellte eine Liste der am dringendsten benötigten Kleidungsstücke ― Jacken, Strumpfhosen, Windeln und so weiter, vor allem Dinge, die sich gut zusammenquetschen ließen. (...) Aus unserem Marschgepäck holten wir dann alles raus, was wir nicht unbedingt und sofort benötigen würden, und stopften stattdessen die Klamotten von der Liste hinein. Unsere eigenen persönlichen Sachen schickten wir uns per Feldpost nach Afghanistan hinterher“ (19).
Der Journalist Thilo Jung stellte 2017 einigen Bundeswehrsoldaten in Afghanistan ― inzwischen heißt die Mission „Resolut Support“ ― folgende Frage: „Findest du es sinnvoll, was Deutschland in Afghanistan macht?“ Einer der Soldat zeigt Jung einen Militärhubschrauber und antwortet ihm:
„Die Sinnhaftigkeit kann ich insofern unterstützen, dass wir für die Sicherheit in unserem Bereich hier zuständig sind und die Afghanen in ihrem Auftrag, für die sichere Umwelt zu sorgen, auch weiter unterstützen.“
Der Pilot einer Aufklärungsdrohne erklärt:
„Wir versuchen, die afghanische Armee entsprechend auszubilden, sodass sie (...) die Sicherheit ihres Landes selbst in die Hand nehmen können.“
Als Motivation der Soldaten, in Afghanistan zu bleiben, begegnete mir auch wiederholt das Argument, etwas einmal Begonnenes zu Ende führen zu müssen. Hammouti-Reineke spricht sich 2019 in ihrem Buch auch gegen einen Teilabzug der Bundeswehr aus:
„Man kann über vieles klagen, was in Afghanistan schiefläuft. Aber dass wir uns einfach so aus dem Staub machen ― das wäre doch genau das Falsche. Wir haben den Einsatz begonnen, also sollten wir ihn auch richtig zu Ende bringen“ (20).
Wo aber führt eine solche Logik langfristig hin?
Es stimmt, dass nicht die Bundeswehr über Auslandseinsätze und den Afghanistankrieg entscheidet, sondern wir als Demokratie. In der Verantwortung der Journalisten, Wissenschaftler und Publizisten liegt es, die Dinge wahrheitsgetreu zu berichten beziehungsweise trotz der politischen Machtkämpfe und Lügen die Wahrheit herauszufinden. Das ist eine Grundlage für demokratische Entscheidungen. In der Tat ist das ein Aufgabenbereich, den ich nicht primär bei den Leistungssportlern und Technikern der Bundeswehr sehe. Anders gesagt: Wir werden zu internationalen Konflikten und Kriegen alle belogen. Ich denke, ohne historische Zusammenhänge ist es praktisch unmöglich, sich vor Ort in einem zerrütteten und gespaltenen Land ein stimmiges Bild zu machen.
Dennoch: In der heutigen Zeit wird uns als Gesellschaft mehr denn je und auch schmerzhaft bewusst, wie sehr jeder Einzelne für seine Entscheidungen verantwortlich ist und auch dafür, welche Folgen das haben kann.
Manch einer will vielleicht Teil der Lösung sein und wird dabei Teil des Problems. So antwortet eine Soldatin, die bis zum Vortag Senior Advisor in einem Medienzentrum war, Thilo Jung im Interview: „Wir sind zuständig hier für ein Medienhaus in der Stadt, in Masar-e Scharif mit 72 zivilen angestellten Journalisten“.. Auf die Frage, was Deutschland hier mache, nennt sie als „Hauptauftrag“ Train, Assist and Advise, also Trainieren, Unterstützen und Beraten, und ergänzt:
„Deswegen sind wir als Army Team die Counterparts für das Mediencenter, und wir advisen (beraten) mit unserem Wissen, das wir haben, beim Medienbereich, und wie man die Medien so einsetzen kann, dass sie die Sicherheitskräfte hier in Afghanistan unterstützen.“
Was finden Soldaten tatsächlich in Afghanistan vor?
Afghanistan ist nach jahrzehntelangen Kriegen gespalten, ins Chaos und in Armut gestürzt. Dieser traurige Zustand spiegelt sich auch in den Berichten der Soldaten wieder. In meinem Vergleich mit Feuerwehrleuten löschen sie dort einen Brand, den die Feuerwehrzentrale vorher in Auftrag gegeben hat. Damit spiele ich nicht auf die Bundeswehr an, sondern auf das zweite Kapitel meines Artikels, die Vorgeschichte. Ein Brand kann nicht mit Feuerwaffen gelöscht werden.
Mit „Innentäter" bezeichnen Soldaten Täter „aus den eigenen Reihen", also afghanische Partner, mit denen sie vor Ort zusammenarbeiten oder die sie ausbilden. Konkret ist das die afghanische Polizei, die afghanische Armee, oder je nach Situation auch einfache lokale Sicherheitskräfte. Diese lokalen Milizen sind jedoch „in Teilen reintegrierte, ehemalige Gegner“, erklärt Marcel Bohnert 2012 in seinem Vortrag „200 Tage Kundus“. Es kann also passieren und kam auch schon vor, dass ein Soldat jemanden in einer Schulung wiedertrifft, dem er in der Vergangenheit in einem Gefecht auf der gegnerischer Seite gegenüberstand.
Der afghanische Polizeichef begleitete die Bundeswehr bei den Patrouillen. Zugleich war er jedoch auch „jemand, der nachweislich Taliban-Verbindungen hatte. Er habe einerseits mit Taliban telefoniert, andererseits im Jahr 2010 aufseiten der Deutschen Gefechte geführt. Gelegentlich habe er die Soldaten vor bestimmten Ortschaften zu bestimmten Zeiten gewarnt. Wer mit wem wann tatsächlich verbündet ist, ist also schwer nachvollziehbar.
So mancher NATO-Soldat fürchtet sich mehr vor heimlich bewaffneten Schülern in seiner Ausbildung als vor den Taliban. Ein Gruppenführer der Bundeswehr erzählte Thilo Jung im Interview von amerikanischen Special Forces, die afghanische Spezialkräfte ausgebildet hatten.
„Da sind die Amerikaner in ihre Autos eingestiegen, sind weggefahren, und einer von den Afghanen ist hinter eine Mauer gesprungen, hat seine RPG (Panzerbüchse) rausgeholt und hat auf die Amerikaner geschossen.“
Was sagt der harte Kern, das KSK zu dem Thema?
Auch KSK-Soldat Tom erzählt 2015 in seinem Focus-Interview von Innentätern:
„Mehrmals sind wir von Truppenteilen, unter denen stets auch Taliban-Sympathisanten waren, in Hinterhalte geführt worden.“
Heute sei er überzeugt, dass sich in den Reihen der Taliban Hunderte afghanische Soldaten und Ex-Polizisten befänden, die von deutschen Spezialeinheiten trainiert worden seien. „Wir haben ihnen quasi den Strick geliefert, mit dem sie uns alle, die nach dem großen Abzug in Afghanistan bleiben, am liebsten aufhängen würden.
Björn Schreiber, Kapitänleutnant der Reserve, sprach 2014 im Rahmen des Vortrags „Interkulturelle Kompetenz am Beispiel Afghanistan“ über die Gefahr durch Innentäter, aber auch über die Zersplitterung im Land und die Frage, ob dort überhaupt ein Zentralstaat entstehen könnte:
„Das Land ist so vielschichtig durch die verschiedenen Ethnien, durch die verschiedenen Regionen, dass in meiner persönlichen Bewertung in Afghanistan lediglich ein föderales System, also ein dezentrales System, erfolgversprechend wäre, um dort überhaupt eine stabile demokratische Regierungsfähigkeit hinzukriegen. Ich rede nicht von einem föderalen System, wie es Deutschland ist mit Bundesländern. (...) Aber ein Zentralstaatssystem in Afghanistan funktioniert definitiv nicht.“
Thilo Jung begegnet im Jahr 2017 in Afghanistan einem Soldaten, der zu einem ähnlichen Schluss kommt:
„Wir haben gewisse Voraussetzungen, die wir in unserem Denken haben. (...) Dass die Demokratie, so wie wir sie leben, auch überall anwendbar ist. Das ist aber hier nicht unbedingt der Fall, und auch nicht möglich. Weil die Afghanen nicht unbedingt in erster Linie Afghanen sind.“
Die Leute dort seien beispielsweise Hazara oder Tadschiken und identifizierten sich selbst eher mit dem Volksstamm, dem sie angehören.
„Und für die, so habe ich den Eindruck, zählt als allererstes mal die Familie, dann der Clan, dann das Dorf, dann die Provinz, und dann irgendwann mal Afghanistan selber.“
Der Soldat neben ihm stimmt ihm auf Nachfrage des Journalisten zu.
Später ergänzt der Erzählende:
„Die (Amerikaner) sind halt noch draußen und kämpfen. Mit den Afghanen zusammen. Das haben wir bis 2014 ja auch gemacht. Also ich selber nicht. Aber wie gesagt, die Amerikaner machen halt andere Dinge.“
Auch der Soldat Johannes Clair berichtet über die Zusammenarbeit mit den afghanischen Polizisten. Er war 2010 und 2011 in Afghanistan.
„Eine weitere Schwierigkeit bestand darin (...), ihre Loyalität bestand halt nicht unbedingt mit der Regierung in Kabul.“
Clair erklärt ihre Situation:
„Die leben seit dreißig Jahren in diesem Land im Krieg, es geht drunter und drüber teilweise, viele Menschen geraten an vielen verschiedenen Punkten in diesem asymmetrischen Konflikt zwischen die Fronten. Und was macht dann so ein junger Mann? Vielleicht steht er auch auf der Gehaltsliste von so 'nem Warlord, klar, kann auch passieren.“
Zum Begriff der Taliban berichtet Clair:
„Die Taliban gibt es meiner Meinung nach sowieso nicht, sondern es gibt eine Vielzahl von Taliban Gruppierungen. Es gibt welche, die nur in Pakistan operieren. Es gibt welche, die von Pakistan nur in Afghanistan operieren, (...) welche, die nur in Afghanistan operieren, und in Afghanistan noch eine Vielzahl von Untergruppierungen, die sich teilweise auch in Konkurrenz gegenüberstehen. Das ist keine homogene Gruppe. Wir sagen dann immer, die Taliban greifen an. Oder so wurden wir ja ausgebildet. In Wirklichkeit wussten wir es nicht. Zumindest ich als einfacher Soldat, bei mir kam so was nicht an. Ich wusste nicht, wer auf mich schießt. Ich wusste nicht, wer den Sprengsatz zur Explosion gebracht hat. Weil es nicht erkennbar war. Weil sie keine Kennzeichnung benutzt haben, natürlich nicht, aber weil auch nicht klar war, wer ist Freund und wer ist Feind um mich herum. Und das macht es wahnsinnig schwierig.“
Björn Schreiber macht in seinem Vortrag deutlich, wie groß die Armut in Afghanistan ist, und warum das Gut-Böse-Schema, das nun in meinen Worten, vor Ort letztlich zusammenbrechen muss.
„Bedenken Sie mal dabei die persönliche Situation dieser Menschen, warum sie eventuell wechseln. Weil sie Angst um ihr Leben haben. Weil sie eventuell ihre Familie ernähren wollen. (...) Wir haben liebevoll vom 50-Dollar-Taliban geredet. Das waren sogenannte einfache Bauern. Die nichts ideologisch mit den Talibs zu tun hatten — nicht im Ansatz etwas. Da kamen die Talibs abends hin, und haben gesagt, hier hast du 25 Kilogramm, in ‘nem gelben Kanister, selbst gemachten Sprengstoff, hier hast du fünfzig Dollar, das buddelst du bitte heute Nacht dort und dort ein. Und das hat er gemacht. Warum? Weil er 50 Dollar hatte. Und er wusste, damit kann er die nächsten zwei Wochen seine Familie ernähren. (...) Und das sind die armen Vögel, die Sie dann nämlich auf der Straße gefangen nehmen.“
Es geht also für die Bauern in Afghanistan bisweilen darum, zu überleben oder zu verhungern.
Einsatzfolgen des Afghanistankriegs
Im April 2014 interviewt die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) einen ehemaligen KSK-Soldat. Zehn Jahre lang war er Elitesoldat im Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr in Calw. Damit wäre er zur Verschwiegenheit verpflichtet, spricht aber anonym.
Er gehörte der Task Force 47 an, „der geheimen Einheit der Bundeswehr, die in einem eigenen Camp im Feldlager Kundus stationiert war.“ Schon damals hätten sie den Auftrag gehabt, Aufständische auszuspähen und festzunehmen, berichtet der Elite-Soldat. „Später wurden diese Einsätze in der NATO ganz offiziell ‚Capture or Kill‘ genannt.“ Die Bundesregierung habe bisher zu keinem Einsatz des KSK offiziell Stellung genommen. „Die Missionen sind geheim, nur ein sehr kleiner Kreis von Bundestagsabgeordneten wird im Nachhinein informiert.“
Als der Mann Ende zwanzig war, spürte er bereits erste Verschleißerscheinungen, berichtet die FAZ. Elitesoldaten seien zäh, ausdauernd, höchst belastbar. Doch selbst an ihnen gehe nicht spurlos vorüber, dass sie in Einsätzen und auf Übungen ständig Ausrüstung mit einem Gewicht von bis zu siebzig Kilogramm schleppen müssen.
„Unter der Belastung von Waffen, Munition, Schutzweste, Funkgerät, Rucksack und Nahrungsmitteln begannen Rücken und Knie zu schmerzen. Der Schmerz blieb, und nicht nur ihm gehe das so, sagt der Mann.“
Das Durchschnittsalter der Kommandosoldaten liege bei Mitte dreißig, und fast alle von ihnen haben Probleme mit den Gelenken. Nur gebe das bei den regelmäßigen Gesundheitschecks niemand offen zu, so der Soldat: „Wir haben gelernt, Schmerzen auszuhalten.“
Heute will der Elitekämpfer normal leben und eine Familie gründen. Die FAZ fragte beim Verteidigungsministerium nach, ob es eine besondere Verantwortung für Soldaten sehe, die infolge ihrer harten Ausbildung und Einsätze nun mit körperlichen und seelischen Problemen zu kämpfen haben. „Eine Einflussnahme durch die Bundeswehr auf den zivilberuflichen Werdegang findet nicht statt“, antwortete das Ministerium.“
Die psychischen Folgen eines Kriegs lassen sich oft schwer verarbeiten. Allein 2018 erkrankten 182 Soldaten infolge ihres Einsatzes in Afghanistan an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Die Statistik dazu ist seit ISAF-Zeiten bis 2018 nicht wirklich gesunken.
„Die Anzahl der betroffenen Soldaten hat sich seit den Neunzigern kontinuierlich erhöht“, berichtet planet-wissen.de. „2018 wurden insgesamt 1875 PTBS-Fälle in der Bundeswehr behandelt, jedes Jahr kommen mehr als 100 Fälle hinzu.“ Zudem „soll es eine hohe Dunkelziffer von Soldaten geben, deren Erkrankung nicht erkannt und behandelt wird“. Seit Bundeswehrsoldaten im Ausland tätig sind und sich an Kampfhandlungen beteiligen, seien die Posttraumatischen Belastungsstörungen auch hier ein Thema.
Der Soldat Johannes Clair spricht offen über die PTBS, unter der er auch sechs Jahre nach seinem Afghanistan-Einsatz noch leidet:
„Ich war 216 Tage im Einsatz, wir hatten mit der Kompanie ungefähr 20 Gefechte, Sprengstoffanschläge hatte zum Schluss fast jeder von uns erlebt, jetzt mal an meinem Beispiel zwei Stück, sind vielleicht 190 Tage oder 200 Tage ungefähr, wo nichts passiert ist. Aber 200 Tage lang bei jedem Schritt damit zu rechnen, es könnte dein letzter sein, vielleicht knallt‘s, (...) ist ein unglaublicher Druck, der sich mit der Zeit aufbaut, und der uns auf jedem Schritt und Tritt begleitet.“
Auslöser für die wiederkehrende Panik war bei ihm dann ein Gefecht:
„Wir sind da eingekreist worden. Von allen Seiten aus nächster Nähe beschossen worden. (...) Aber in diesem Moment hat irgendwas in mir Klick gemacht, einen Schalter umgelegt, ich hatte Angst. Das war das erste Mal in diesem Einsatz, in dieser Nacht. Und diese Angst wurde immer schlimmer. (…) Und in diesen viertägigen Gefechten wurde diese Angst so schlimm, dass ich mich irgendwann nicht mehr getraut habe, über die Deckung drüber zu gucken. (...) Und das verfolgt mich bis heute.“
Die unsichtbaren Veteranen
Marcel Bohnert und Björn Schreiber gaben im Jahr 2016 einen Sammelband heraus mit dem Titel „Die unsichtbaren Veteranen ― Kriegsheimkehrer in der deutschen Gesellschaft“. Darin finden sich Berichte unterschiedlicher Autoren, von Soldaten, ihren Angehörigen, von Akademikern und Journalisten. Einer der Berichte ist auch von Johannes Clair.
„Ein demokratisches Gemeinwesen, das seine Streitkräfte in Einsätze entsendet, hat auch die Pflicht, jene zu hören, die von dieser Entscheidung betroffen sind“, heißt es in einem Geleitwort von Roderich Kiesewetter (21). In diesem Punkt stimme ich ihm zu. Insbesondere wenn wir Parteien wählen, die diesen Krieg befürworten, dürfen uns doch sowohl die Ursachen als auch die Folgen des Krieges nicht unbekannt bleiben. Gregor Weber, Feldwebel der Reserve, berichtet in dem Sammelband über seinen Afghanistaneinsatz. Eingangs merkt er an:
„Die Landeinsätze wurden über die Jahre gefährlicher, die Mandate robuster. Doch erst 2009 nahm der damalige Verteidigungsminister zu Guttenberg das Wort ‚Krieg‘ in den Mund. Wenn auch nur irgendwie und immer noch gewunden“ (22).
Im Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) wurde Ende des Jahres 2012 eine Studie zum Thema „Afghanistanrückkehrer“ initiiert, welche auch in diesem Sammelband beschrieben wird. „Das Einfinden in den Alltag ist vor allem für jene, die psychisch und physisch versehrt zurückkehren, eine gewaltige Herausforderung. Das gilt für etwa sieben Prozent der in unserer Studie befragten Afghanistanrückkehrer, die nach eigenen Angaben auch noch mehr als zwei Jahre später unter psychischen oder physischen Verletzungen in Folge des Einsatzes leiden. Darunter befinden sich übrigens viele, die im Einsatz in Gefechte involviert waren (zehn Prozent im Vergleich zu vier Prozent).
Kampfhandlungen sind für die daran Beteiligten, so belegen die Befunde unserer Studie, enorm belastend. Für sie und ihr Umfeld verändert sich das Leben mitunter von Grund auf.“ Für viele bricht das bisherige Leben zusammen, auch die Partnerschaft. Das gilt der Studie zufolge für fast ein Drittel der Partnerschaften von gefechtserfahrenen Einsatzrückkehrern. „Die Betroffenen müssen dann völlig neue Lebensperspektiven entwickeln und brauchen dabei Unterstützung“ (23).
Die Schlammschlacht in unseren Medien
Schon vor Jahren habe ich mich mit dem Thema Afghanistan beschäftigt. Ich versuchte, ehrliche Informationen darüber zu bekommen, was dort los ist, seit wir an diesem Krieg beteiligt sind. Konkret recherchierte ich auch die Diskrepanz von Realität und Mediendarstellung bezüglich der Gegenwart, nicht nur die politischen Hintergründe und die Vorgeschichte des Kriegs. Deshalb suchte ich nach Berichten der Bundeswehr. Dabei fand ich das oben zitierte Buch „Die unsichtbaren Veteranen“, das ich für einen wertvollen Beitrag halte, um das Thema Afghanistan überhaupt ins Bewusstsein unserer Gesellschaft zu rufen. Auch begegnete mir der oben zitierte Vortrag „200 Tage Kundus“. Während ich nun an diesem Artikel anlässlich der erneuten Abstimmung im Bundestag schreibe, wollte ich meinen Wissensstand aktualisieren und googelte daher den Offizier und Autor Marcel Bohnert. Ich fand heraus, dass er in leitender Funktion für das Social Media Team der Bundeswehr tätig war, aber nicht mehr ist.
Zudem fand ich über ihn eine erstaunliche Schlammschlacht in unseren Medien, welche ich im Folgenden kurz skizzieren möchte. Bohnert wurde voriges Jahr bei Panorama, in der Tagesschau, im Spiegel und in der Bildzeitung mit Vorwürfen konfrontiert, Kontakte zu Rechtsextremen gepflegt zu haben.
Es begann bei Panorama. Konkret ging es dabei zunächst um drei Likes von Posts auf Instagram, dessen Autor in rechtsextremen Kreisen zu verorten sei. Als die Schlammschlacht durch den NDR dann hochgefahren war, legten Tagesschau und Spiegel nach und berichteten über „Neue Vorwürfe“ gegen den Offizier. Gemeint sind zwei Vorträge von Bohnert, 2015 vor der Burschenschaft „Cimbria“ und 2014 im „Studienzentrum Weikersheim“. Was er dort jeweils erzählt hat, darauf wird nicht eingegangen.
Zum „Studienzentrum Weikersheim" erklärt Bohnert im Spiegel-Interview: „Auch auf diesen Auftritt bin ich nicht stolz. Damals hatte ich, ähnlich wie bei der Burschenschaft, nur kurz geschaut, was das für eine Stiftung ist. Als ich sah, dass dort unter anderem auch der frühere Bundespräsident Joachim Gauck, Wolfgang Schäuble, Gerhard Schröder oder Norbert Blüm Vorträge hielten, hatte ich keinen Zweifel an der Seriosität. Doch auch hier gilt: Ich hätte genauer schauen müssen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass ich zum Beispiel beim Darmstädter Signal vorgetragen habe, die gehören sicher nicht zum rechten Spektrum. Es war mir immer wichtig, Filterblasen aufzubrechen und mit Menschen verschiedener Ansichten innerhalb des demokratischen Spektrums in einen Diskurs einzutreten.“
Bezüglich der drei Likes auf Instagram ist es vielleicht sinnvoll, sich vor Augen zu halten, dass Bohnert Social-Media-Experte war und via Instagram Reichweite generierte. Die gängige, wenn auch nicht politisch korrekteste Methode hierfür ist regelmäßiges Liken, beispielsweise entlang eines eigenen Hashtags, das wird vermutlich jeder vom Fach bestätigen. Mir stellt sich also die Frage: Was hat Panorama dazu veranlasst, die unzähligen Likes eines Social Media Experten daraufhin zu untersuchen, ob ein Haar in der Suppe zu finden ist? Es muss aufwendig gewesen sein. Gibt es nichts Wichtigeres zu recherchieren und aufzudecken?
Damit will ich die Likes dieser Posts nicht entschuldigen, und Bohnert selbst hat dazu entsprechend Stellung genommen und den Fehler eingeräumt:
„Die Inhalte hätte ich mir in jedem Fall genauer ansehen müssen, stattdessen habe ich so gut wie alles mit einem Herz versehen, was unseren Hashtag erwähnte.“
Auch möchte ich hier auch keine Aussage zu Bohnerts politischer Haltung machen. Aber in den Vorwürfen sehe ich viel zu wenig Substanz in Relation zum erzeugten Wirbel. Wortwahl und Aufmachung bei Panorama sind vollkommen übertrieben. Warum wird ihm Sympathie mit „Rechtsradikalem“ unterstellt? „Irritierende Likes“ wäre eine wahrheitsgetreuere Formulierung, eine Randnotiz hätte vielleicht gereicht, und die wichtigste Frage bleibt wie immer: Nach welchen Kriterien wird entschieden, welche Fragen sich die Journalisten beim Recherchieren überhaupt stellen, und was in der ARD dann groß rauskommt?
Tabuthema Afghanistan im neuen Jahrzehnt
Bohnert hatte als Social-Media-Experte in leitender Funktion etwas zu sagen und Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung der Bundeswehr. Daher kann ich mir auch vorstellen, dass seine Veröffentlichungen nicht allen recht waren. Infolge der medialen Schlammschlacht ist nun davon auszugehen, dass Veranstalter und Medienleute künftig eher davon absehen, ihn nach dem Thema Afghanistan zu befragen oder eine Bühne dafür zu geben. Seine Reichweite beziehungsweise die der Informationen über den Afghanistan-Einsatz ist also eingeschränkt. Auch den Posten im Social-Media-Team musste er infolge der Vorwürfe räumen. Kurz und schmerzlos formuliert: Ein paar grüne Dschungelbilder genügen uns doch!
„Den Charakter eines Staates und Volkes erkennt man daran, wie er/es nach einem verlorenen Krieg mit seinen Soldaten umgeht.“ Das soll der ehemalige französische Staatspräsident Charles de Gaulle gesagt haben, und es steht auf dem Einband der „Unsichtbaren Veteranen“.
Mein Wunsch ist, dass wir keine Kriege mehr führen. Da wir das aktuell aber tun: Da ist etwas dran an de Gaulles Worten: Denn wenn wir jene Rückkehrer, die den Mund aufmachen und berichten, was los war, infolgedessen mundtot machen und ausgrenzen, weil wir ihre Geschichten nicht hören wollen, dann ist unsere Gesellschaft wirklich in keinem guten Zustand.
Weiter gefasst: Der Medienwirbel hier erscheint mir geeignet, das Tabu um den Afghanistankrieg aufrechtzuerhalten. Er verunsichert Menschen, die sich die Wirkungsweise von Tabus noch nicht bewusst gemacht haben, weil sie befürchten, selbst in dieselbe Ecke gestellt zu werden, sobald sie sich mit den tabuisierten Menschen und Themen befassen.
Schlussgedanke
Ich wünsche mir Frieden. Ich wünsche mir, dass wir aus Afghanistan abziehen. Ich wünsche mir auch, dass wir aus der NATO austreten.
Ich hätte mir gewünscht, dass weder die Taliban aufgerüstet werden noch das Land bombardiert wird, dass niemand dort Öl- und Gaskriege anzettelt. Ich wünsche mir, dass nicht mehr versucht wird, eine Zentralregierung zu installieren, die die Ressourcendeals des Westens mitmacht. Ohne die ausländische Einmischung seit dem Jahr 2001 wäre das Land wahrscheinlich längst wieder zur Ruhe gekommen. Es gab in Afghanistan Zeiten, in denen Frauen keine Burkas, aber Miniröcke trugen. Das war noch in den 1960er-Jahren so. Afghanistan ist ein eigentlich reiches und war ein eigentlich fortschrittliches Land.
Um die Gewaltspirale und die Armut zu stoppen, sollte die NATO aus Afghanistan abziehen. Wie können wir dann gegebenenfalls Aufbauhilfe leisten? Mit Gewalt geht es nicht. Es gibt Ansätze von Friedensforschern, wie in Krisengebieten Unternehmen aufgebaut werden könnten und diese von hier aus zu unterstützen wären. Vielleicht lässt sich dieser Gedanke auf Afghanistan übertragen. Man müsste also das Geld nicht mehr in den Krieg investieren und eine Zentralregierung installieren, sondern wirklich in den zivilen Aufbau, mit völlig anderen grundlegenden Absichten. Eine bessere wirtschaftliche Lage fördert ein friedlicheres Verhalten aller.
Das Ende der Gewaltspirale, so meine Meinung, wird auch das Abnehmen der Radikalisierung und Gewaltbereitschaft der Taliban mit sich bringen. Damit meine ich auch die religiöse Radikalisierung und das Beherrschen der Frauen. Kulturelle Angebote kann man einem fremden Land nur machen, so weit das mit friedlichen Mitteln möglich ist. Wenn wir den Terror-Frame gedanklich verlassen und der geschürte Hass ein Ende findet, dann wird man in Afghanistan wieder als Ethnologe arbeiten können, ohne beim Militär zu sein. So können auch Ideen für kulturelle Hilfsprojekte entwickelt werden.
Ich wünsche mir auch, dass wir als Gesellschaft nicht mehr auf mediale Hinrichtungen einzelner öffentlicher Personen hereinfallen, auch dann nicht, wenn wir deren politische Positionen nicht teilen. Solange jemand nicht selbst Unmögliches von sich gibt oder Schlimmes tut, gibt es keinen Grund, ihn medial hinzurichten. Und zu guter Letzt wünsche ich mir, dass wir die Scheinheiligkeit von Politik und Medien zunehmend durchschauen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Moore, Michael: Volle Deckung Mr. Bush, Piper Verlag, München, 2003, Seite 136 folgende.
(2) Todenhöfer, Jürgen: Die große Heuchelei: Wie Politik und Medien unsere Werte verraten, Ullstein Verlag, 2019, Seite 118 folgende.
(3) Ganser, Daniele: Illegale Kriege, Orell Füssli Verlag 2018, Seite 199.
(4) Ebenda, Seite 197.
(5) Ebenda, Seite 198.
(6) Ebenda, Seite 189.
(7) Ebenda, Seite 189.
(8) Ebenda, Seite 196.
(9) Ganser, Daniele: Europa im Erdölrausch, Orell Füssli Verlag 2017, Seite 293.
(10) Todenhöfer, Jürgen: Die große Heuchelei: Wie Politik und Medien unsere Werte verraten, Ullstein Verlag 2019, Seite 147.
(11) Ebenda, Seite 118 folgende.
(12)Anmerkung: Die in diesem Artikel zitierten Soldaten gaben in Vorträgen, Büchern oder Interviews auf YouTube ihre persönliche Meinung zu bestimmten Themen wieder und nicht die offiziellen Standpunkte der Bundeswehr.
(13) Todenhöfer, Jürgen: Die große Heuchelei: Wie Politik und Medien unsere Werte verraten, Ullstein Verlag 2019, Seite 144.
(14) Ebenda, Seite 144 folgende.
(15) Ebenda, Seite 145.
(16) Hammouti-Reineke, Nariman: Ich diene Deutschland: Ein Plädoyer für die Bundeswehr ― und warum sie sich ändern muss, Rowohlt Verlag 2019, Seite 74.
(17) Ebenda, Seite 71.
(18) Ebenda, Seite 78.
(19) Ebenda, Seite 81.
(20) Ebenda, Seite 78.
(21) Kiesewetter, Roderich: Geleitwort, in: Bohnert, Marcel Bohnert und Schreiber, Björn: Die unsichtbaren Veteranen, Kriegsheimkehrer in der deutschen Gesellschaft, Seite 15.
(22) Weber, Gregor: Coming Home, in: Bohnert, Marcel Bohnert und Schreiber, Björn: Die unsichtbaren Veteranen, Kriegsheimkehrer in der deutschen Gesellschaft, Miles-Verlag 2016, Seite 46.
(23) Seiffert, Anja: „Das Problem, wieder hier anzukommen“ ― Einsatzrückkehrer und Gesellschaft, in: Bohnert, Marcel Bohnert und Schreiber, Björn: Die unsichtbaren Veteranen, Kriegsheimkehrer in der deutschen Gesellschaft, Miles-Verlag 2016, Seite 130.
(24) Die unsichtbaren Veteranen, Kriegsheimkehrer in der deutschen Gesellschaft, Miles-Verlag 2016, Klappentext.
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