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Der stille Alptraum

Der stille Alptraum

„Jugendflüsterer“ Carsten Stahl setzt sich für die Opfer des grassierenden Mobbing-Trends ein.

Anfang Februar dieses Jahres erschütterte der Tod einer elfjährigen Grundschülerin in Berlin die Republik: Das Mädchen unternahm nach Mobbing-Erfahrungen in ihrer Schule einen Suizidversuch und starb an dessen Folgen. Der Anti-Mobbing-Trainer Carsten Stahl brachte den tragischen Vorfall an die Öffentlichkeit. Vor Eltern der Grundschule führte er einige Tage später betroffen aus:

„Der Fisch stinkt vom Kopf her. Wie viele Menschen müssen sich noch wegen Mobbing das Leben nehmen? Wann kapieren unsere Politiker und Schulverantwortlichen endlich, dass hier etwas passieren muss?“ (1).

Mich selbst hat die Nachricht vom Tod der Schülerin zutiefst schockiert. Seit Jahren mache ich als Experte für die Prävention von Schulgewalt auf diese verborgene und tolerierte Gewalt aufmerksam — ohne irgendeine Reaktion seitens der Politik, der vorgesetzten Schulbehörden, Lehrer- und Elternverbänden oder TV-Magazine. Am 6. Februar stellte ich in einem Fachartikel die Frage:

„Wie viele Schülerselbstmorde verträgt eine Gesellschaft, bevor sich betroffene Eltern und Lehrkräfte dazu aufraffen, das Opferwerden durch Gewalt — diesen ‚stillen Alptraum‘ — nicht mehr zu tolerieren, sondern zu stoppen? (2).

Nachdem ich wiederum keine Reaktion erfuhr, wandte ich mich in einer kurzen E-Mail an Carsten Stahl. Er war der Einzige, der reagierte — und seitdem stehen wir täglich in Kontakt. Für den 11. April luden wir zu einem Hintergrundgespräch zum Thema „Stoppt Mobbing an Schulen“ ein. Über 80 Schulführungskräfte, Lehrpersonen, Schulpsychologinnen, Schüler, Journalisten, Kriminalbeamte und andere Interessierte kamen in die „Freie Schule Lindau“. Carsten Stahl erzählte offen von seiner Lebensgeschichte als Mobbingopfer, Krimineller, TV-Aktionsheld, Familienvater, Anti-Gewalt-Trainer und Initiator der nationalen Kampagne „Stoppt Mobbing“. Inzwischen engagiert er sich an Schulen in ganz Deutschland gegen Mobbing und Gewalt. In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ führte er 2017 an:

„Mobbing ist wie ein Krebsgeschwür. Es fängt ganz klein an und wird immer größer“ (3).

Carsten Stahl ist laut, humorvoll, direkt, einfühlsam und voller Energie. Die Teilnehmer des Treffens konnten in den zwei spannenden Stunden eine Vorstellung davon bekommen, wie er auch Schüler begeistert, wenn er sie über Mobbing aufklärt. Videos seiner Veranstaltungen bestätigen, wie offen sich die jungen Zuhörer ihm anvertrauen — ob Opfer, Täter oder Mitläufer. Er ist im wahrsten Sinne ein „Jugendflüsterer“.

Es ist seine Authentizität, weswegen man ihm gerne zuhört, ihm vertraut: Er steht zu seinen Stärken und Schwächen, er handelt nach seinen Werten und Überzeugungen und er ist aufrichtig. Er wirkt als Person echt und vermittelt ein Bild von sich, das der Betrachter als ehrlich, stimmig, urwüchsig, unverbogen und ungekünstelt wahrnimmt. Für die Jugendlichen ist er einer von ihnen: Einer, der ausgeteilt hat und einstecken musste. Einer, der weiß, was es heißt, Täter zu sein, aber auch Opfer.

In einem Offenen Brief vom 25. März mit dem Titel „Deutschland setzt ein Zeichen! Gemeinsam mit Respekt, Mut und Toleranz gegen Mobbing, Gewalt, Drogen und Vorurteile“ wendet er sich an die Politik und die Verantwortlichen aller Bundesländer. Darin wirbt er dafür, dass endlich

„nachhaltig und konsequent gegen Mobbing an Schulen vorgegangen wird. (…) Alle Kinder und Jugendlichen in unserer Gesellschaft haben ein Recht darauf, ohne Angst vor körperlichen und seelischen Torturen die Schule besuchen zu können (…) und einen Anspruch darauf, von Lehrern, Schulleitungen und den zuständigen Schulbehörden vor Mobbing und Gewalt beschützt zu werden“ (4).

In seinem aufrüttelnden Buch „Du Täter, du Opfer. Stark gegen Mobbing und Gewalt“ lautet das Schlusswort:

„Dieses Buch soll allen Mut machen, denen das Leben und das Schicksal schmerzhafte Erfahrungen und hartes Leid bereitet haben. Lasst euch bitte von nichts und niemandem von euren Träumen und Wünschen abbringen. Es ist eurer Leben, glaubt an euch!“ (5).

Egal, wo Carsten Stahl auftritt, die vielen jungen Zuhörer danken es ihm mit tosendem Applaus und anerkennenden Pfiffen. An Schulleiterinnen und Schulleiter gerichtet, meinte er einmal:

„Ich wünsche mir, dass das Tabu Mobbing bricht und keine Schule mehr Angst haben muss, als Problemschule dazustehen, nur weil sie die Wahrheit sagt“ (6).

Am Ende des Tages hat mich ein weiteres gemeinsames Erlebnis tief beeindruckt: Als wir zu später Stunde ein Fast-Food-Restaurant betreten, wird es plötzlich still unter den anwesenden Jugendlichen und jungen Männern. Sie starren meinen Gast an wie eine Erscheinung vom anderen Stern, vergewissern sich noch einmal auf ihren Handys und kommen dann strahlend und mit der Bitte um ein Selfie auf Carsten Stahl zu. Aber nicht nur das. Einige von ihnen drücken ihm die Hand, verbeugen sich und sagen voller Respekt und etwas verlegen: „Herr Stahl, ich danke Ihnen für ihr Engagement! Ich habe alle Ihre Videos heruntergeladen und gesehen.“ Carsten meint dazu lächelnd:

„Das sind alles meine Jugendlichen, die mit mir groß wurden.“


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://spiegel.de/lebenundlernen/schule/mobbing-an-schulen-...hilft-wirklich-gegen-gewalt-und-ausgrenzung-a-1252725-druck-html
(2) NRhZ Nr. 691 vom 06.02.2019
(3) „Mobbing ist ein Geschwür. Carsten Stahl im Interview mit der „Süddeutsche Zeitung“ vom 22.12.2017, in: Stahl, C., Lemke, J. (2018). Du Täter, du Opfer. Stark gegen Mobbing und Gewalt. München, S. 196-204
(4) Offener Brief vom 25. März 2019 „Deutschland setzt ein Zeichen!“, in: www.Stoppt-Mobbing.de
(5) Stahl, C., Lemke, J. (2018). Du Täter, du Opfer. Stark gegen Mobbing und Gewalt. München, S. 205
(6) https://merton-magazin/der-eisbrecher


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