Die Menschheit der Zukunft — wie könnte sie aussehen? Lange vor Yuval Noah Harari hat sich der Philosoph Friedrich Nietzsche mit dieser Frage befasst. Seine diesbezüglichen Prophezeiungen sind für die nach ihm Kommenden wenig schmeichelhaft. „Wehe! Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann“, so Nietzsches Zarathustra. Dieser spricht mit Blick auf die Zukünftigen von „den letzten Menschen“.
„‚Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?‘ — so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten. ‚Wir haben das Glück erfunden‘, sagen die letzten Menschen und blinzeln. Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. (…) Krankwerden und Misstrauen haben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. (…) Ein wenig Gift ab und zu: Das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben. Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, dass die Unterhaltung nicht angreife.“
An einer anderen Stelle heißt es: „Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht — aber man ehrt die Gesundheit.“
Freiheit, Gleichheit, Überempfindlichkeit
Glückssüchtig, verweichlicht und bar jeder Resilienz — so wird der „letzte Mensch“ geschildert. Er will es bequem haben und vermeidet Anstrengung sowie jede Erfahrung von Schmerz, die ihn zu einer stärkeren Persönlichkeit schmieden könnte. Auch politische und ökonomische Vorhersagen trifft Nietzsche. Er träumt nämlich in der Manier von John Lennons „Imagine“ von einer Gesellschaft ohne Hierarchien und nennenswertes Einkommensgefälle: „Man wird nicht mehr arm und reich: Beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich. Kein Hirt und eine Herde! Jeder will das Gleiche, jeder ist gleich: Wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus.“
Interessanterweise bewertet Nietzsche diese libertäre und egalitäre Utopie negativ. Aus denselben Gründen, aus denen er die Sedativa, Schmerzmittel und Fantasie-Fluchtträume ablehnt, die sich die Zukunftsmenschen nach seiner Vorhersage gönnen werden. Sich aktiv harten Erfahrungen zu stellen, macht uns — wenn es uns nicht umbringt — stärker; solche Erfahrungen zu vermeiden, schwächt uns. So jedenfalls der Philosoph, der eher ein Extremist des wohlformulierten Gedankens war als ein wirklich harter Kerl.
Sich weglügen aus der Wirklichkeit
Trifft die poetische Vorhersage Nietzsches auf uns heutige Bewohner der relativ wohlhabenden westlichen Welt zu? Was die Bequemlichkeit und das Erfahrungs-Drückebergertum betrifft, ja. Weniger ist allerdings die Aufhebung eines Macht- und Reichtumsgefälles zu beobachten. Der Mensch der Gegenwart ist bequem nicht nur, was die Vermeidung von Leiden betrifft, die ihn stärker machen könnten — er lässt sich auch widerstandslos in die von oben verordnete Ungleichheit des Lebensstandards und der Privilegien hineinsinken. Er ist ebenso „weichlich“, wie es Nietzsche vorausgesagt hat — jedoch auf andere Weise. Der Philosoph des 19. Jahrhunderts konnte noch nichts von der hypnotischen, den menschlichen Geist in nie zuvor gekanntem Maße vereinnahmenden Macht der Unterhaltungselektronik ahnen. Allenfalls sah er Psychopharmaka voraus, die auch in Aldous Huxleys Entwurf einer Zukunftsmenschheit, „Schöne neue Welt“, eine entscheidende Rolle spielen.
Die Vorstellung Nietzsches von der Zukunft ist jedenfalls eine des Niedergangs. Klassisch ist seine Décadence-Definition, die sich vor allem aus seiner Religionskritik ableitet: „Jene ganze Fiktionswelt hat ihre Wurzel im Hass gegen das Natürliche (die Wirklichkeit), sie ist Ausdruck eines tiefen Missbehagens am Wirklichen.“ Schuld daran ist jedoch nicht die Realität selbst, sondern der Mensch, der zu schwach ist, um sie zu ertragen. „Wer allein hat Gründe, sich wegzulügen aus der Wirklichkeit? Wer an ihr leidet. Aber an der Wirklichkeit zu leiden heißt eine verunglückte Wirklichkeit sein. Das Übergewicht der Unlustgefühle über die Lustgefühle ist die Ursache jener fiktiven Moral und Religion: Ein solches Übergewicht aber gibt die Formel ab für ‚décadence’“.
Ein Übergewicht der Unlustgefühle
Etwas ungnädig kann man das finden.
Denn ein „Übergewicht der Unlustgefühle über die Lustgefühle“ — dafür ist nicht immer nur die Dekadenzneigung der Einzelmenschen verantwortlich; es kann auch genügen, von Robert Habeck, Karl Lauterbach und Nancy Faeser regiert zu werden.
Braucht es wirklich nur robustere Bürger oder doch eher bessere Politiker? Statt „anstrengungslosem Wohlstand“ ermöglichen uns unsere Regierenden derzeit eher einen quälend-anstrengenden Prozess des Wohlstandsverlusts.
Entscheidend für das Verständnis der Jetztzeit ist vor allem die Tendenz, „sich wegzulügen aus der Wirklichkeit“. Sie findet aber nicht nur in — von Gläubigen ja durchaus ernst gemeinten — religiösen Vorstellungen über ein „Jenseits“ seinen Ausdruck. Auch die durch moderne Technik ermöglichten Traumwelten des Films oder des Computerspiels sind in ihrem Wesen eskapistisch. Das heißt, die diesen Welten Verfallenen tauchen gern in sie ein, um sich der Realität nicht — oder nicht zu oft — stellen zu müssen. Die Filmreihe „Avatar“, die in diesem Winter fortgesetzt wird, ist ein Musterbeispiel einer synthetischen Traumwelt: Sie übertrifft unsere Alltagsrealität an Leuchtkraft so sehr, dass für nicht wenige jede Notwendigkeit entfällt, sich länger als nötig in Letzterer aufzuhalten. Gut, „Avatar“ zwingt uns wegen der begrenzten Anzahl und Laufzeit der Filme in kurzer Zeit zurück auf den Boden der Tatsachen. Bei Endlosserien, denen immer mehr Weltflüchtlinge „bingewatchend“ erliegen, ist das anders. Erst recht bei den immer größer und ausgefeilter werdenden künstlichen Welten der Online-Spiele.
Die Zukunft: verschärfte Medienverwahrlosung
Ein treffendes Porträt des „letzten Menschen“, das jedoch im Vergleich mit Nietzsches lyrischem Verkündigungsstil ganz andere Stilmittel verwendete, entwarf der Zeichentrickfilm „Wall-E“ von 2008. Dessen Protagonist ist ein kleiner Roboter, dazu bestimmt, die nach einer Katastrophe verwüstete Erde aufzuräumen. Wall-E gerät in ein Raumschiff, das von einer Menschheit degenerierter Technik-Nerds bewohnt wird. Diese — allesamt übergewichtig — vegetieren hingefläzt auf fliegenden Sesseln, unablässig auf einen vor ihnen installierten Bildschirm starrend und währenddessen ständig Snacks in sich hineinfressend. Mit ihren neben ihnen dahingleitenden Mitmenschen kommunizieren sie nur per Videochat. Softdrinks fliegen auf Wunsch in ihre Hände — ein wahres Schlaraffenland. Jedoch: Während sich die Münder der Raumschiffbewohner schnell plappernd bewegen, sind ihre Blicke vollkommen leer — so wie ihr völlig sinnloses Leben. Die Menschen haben es buchstäblich verlernt, auf ihren eigenen Füßen zu stehen. Fallen sie einmal von ihren fliegenden Multimedia-Sesseln herunter, müssen Roboter ihnen wieder aufhelfen. Mechanische Wesen sind zugleich ihre einzigen realen „Ansprechpartner“.
Der Zeichentrick hält unserer jetzigen Lebensweise gekonnt einen Spiegel vor. Ohne Bezug zum realen Leben, körperlich im Zustand der Verwahrlosung, jedoch den ganzen Tag auf sinnlose virtuelle Konsum- und Kommunikationsprozesse konzentriert, ist diese Menschheit komplett von technischen Krücken abhängig. Die Realisation einer solchen Vision wäre mit den jetzigen technischen Möglichkeiten denkbar. Vielleicht hält uns derzeit nur der Entschluss der Mächtigen auf Trab, es für uns möglichst unbequem zu machen und künstliche Bewährungsszenarios zu inszenieren — Armut, Bürgergeld, Seuchenangst, globale Konflikte, Energiemangel und zunehmend sogar Hunger. Der Liedermacher Estéban Cortez beschreibt die derzeitige Stimmung in Deutschland in seinem Lied „Gnadenbrot“ mit drastischen Worten:
„Wir stinken, wir verzichten und wir hungern, uns ist kalt. Aber darin sind wir spitze, und es gibt uns weiter Halt. Wir sind ängstlich und pleite und warten auf den Tod. Denn wir knabbern am Leben so wie am Gnadenbrot.“
Dekadenz — ein Oberschichtenphänomen?
Um nun den etwas gewagten Bogen zurück zu Guido Westerwelle zu schlagen: „Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.“ So lautete wörtlich das Zitat des smarten Liberalen, dessen aktive Schaffensperiode uns — gemessen am derzeitigen politischen Personal — geradezu wie die „gute alte Zeit“ erscheint. Als Dekadenz bezeichnen verschiedene Menschen jeweils diejenigen Zeittendenzen, die ihnen nicht gefallen. Der Buchautor Marc Friedrich etwa benutzt dasselbe Wort in Bezug auf die relativ wenigen derzeit als „divers“ eingetragenen Menschen, für die eifrige Grüne gern Toiletten für das „dritte Geschlecht“ einrichten würden. „Diese spätrömische Dekadenz, die wir erleben, dass wir halt Nebenkriegsschauplätze haben, die wir dann beackern und nicht die wahren Probleme — die fallen uns dann auf die Füße.“ Friedrich nennt hier als reale Probleme eine „fehlgeleitete Energiepolitik“ und die Inflation. Er schließt seinen Gedankengang: „Und dann reden wir über Gendern, über Pronomen und über ein Selbstbestimmungsgesetz.“ Dekadenz also als das Kreisen der öffentlichen Debatte um vielleicht nur scheinbare Probleme von Randgruppen bei gleichzeitiger Vernachlässigung des Wohls der großen Mehrheit.
In einem Punkt kann man sowohl Westerwelle als auch Friedrich kritisieren: Für den einen sind Hartz-IV-Empfänger schuld, für den anderen bestimmte Randgruppen; die reiche Oberschicht jedoch bleibt in beiden Fällen unbehelligt. Normalerweise ist Dekadenz nicht in den Wohnsilos der Armen und Prekären zu Hause. Sie benötigt zu ihrer Entfaltung ein Minimum an Wohlstand und fühlt sich in Kreisen des Adels und der „Society“ pudelwohl. Die Verfeinerung der Sinne setzt voraus, dass man von den gröberen Notwendigkeiten des Broterwerbs befreit ist. Dasselbe gilt für das Urbild jeder Dekadenz, die Schlussphase des römischen Reiches. Fettleibige Römer mit geschminkten Damen, die sich an maßlosen Fressorgien oder „Schlimmerem“ ergötzen — dieses Klischeebild, das wir in den Filmen Fellinis oder in dem Heft „Asterix bei den Schweizern“ wiederfinden, porträtiert immer die Upper Class. Heute hat sich diese Koppelung von Dekadenz an die reiche Oberschicht jedoch stark relativiert. Denn fast jeder kann sich heute den Beitrag zu einem Gruppenabo für Netflix oder ein gebrauchtes Fantasy-Role-Game leisten, hat Zugang zu Chips, Pralinen und abgekühlten, in Pappschachteln ins Haus gelieferten Pizzen.
Spätherbst einer Kultur
Generell bezeichnet der Begriff Dekadenz die Wesensart von Menschen, die in einer Epoche nachlassender Lebenskraft zu Hause sind. Dekadent ist dann auch die Kultur — also zum Beispiel Dichtung, Musik oder Architektur —, die Ausdruck dieses Zeitgeists ist. Jede Kultur unterliegt nach den Worten des im 20. Jahrhundert tätigen Philosophen Oswald Spengler einem Zyklus von Aufstieg und Verfall. Nach der vitalen Gründungsphase wird eine Hochblüte erreicht, auf diese folgt unweigerlich eine Periode des Abstiegs. „Decadere“ ist das lateinische Wort für „fallen, sinken“. In seinem Hauptwerk „Der Untergang des Abendlands“ von 1918 behauptete Spengler: „Allzu viel Bewusstheit tötet den echten Willen, den instinktiven Drang zur Tat.“ Mit wachsender Verfeinerung einer Kultur und ihrer Fähigkeit zu immer abstrakteren Geisteserzeugnissen schwindet zugleich die Lebenskraft. Die Welt als Willenslähmung und Vorstellung.
Im übertragenen Sinn sitzt in dekadenten Epochen der Gedanken-Wasserkopf des Zeitgeists auf einem viel zu dünnen, anämischen Körper. Dekadenz ist somit keine historische Epoche, der sich bestimmte Jahreszahlen zuordnen ließen, sondern eine Kulturtendenz, die sich in der Spätphase jeder Zivilisation zeigt.
Der Verfall der römischen Weltmacht hing von einigen politischen und ökonomischen Bedingungen ab: Einmal war da die Überdehnung des Weltreichs, Soldaten mussten an allen Enden der bekannten Welt die Kontrolle aufrechterhalten, was zunehmend schwerfiel. Dazu kam der Verfall der Gründungsideale, die das Weltreichs einmal konstituiert hatten. Ein Nachlassen des Selbstbehauptungswillens der führenden Schicht war festzustellen, eine fortschreitende Verweichlichung auf der ökonomischen Basis einer Sklavenhaltergesellschaft. Edward Gibbon formulierte schon Ende des 18. Jahrhunderts in seinem Buch „The History of the Decline and Fall of the Roman Empire“ die Theorie, Rom sei nicht durch äußere Angriffe, sondern durch inneren Verfall zugrunde gegangen. Auch dem Christentum, seit Kaiser Konstantin Staatsreligion im Reich, gab Gibbon eine Mitschuld daran. Neuere Untersuchungen über die spätrömische Epoche betonen demgegenüber eher die Finanzierungsprobleme des gealterten Weltreichs. Ein Schelm, wer dabei an heutige Verhältnisse denkt.
Die Überdehnung des Weltreichs
Die entscheidende Frage ist aber: Gibt es auch heute Hinweise darauf, dass wir in einer dekadenten Epoche leben? Schon die galoppierende Umweltzerstörung auf unserem Planeten hat dazu geführt, dass unsere Epoche vielfach als Endzeit und Ära des Verfalls beschrieben wird, verbunden auch mit einer tiefgreifenden Entfremdung des Menschen von einer Zug um Zug zurückgedrängten Natur. Auch der nahende Untergang des amerikanischen Imperiums mit seinen Satellitenstaaten — darunter Deutschland — ist mehr als einmal beschworen worden: durchaus mit Bezügen zur Spätphase des römischen Reiches. Ökonomisch-sozial betrachtet, haben wir es gewiss mit einer „Überdehnung des Weltreichs“ wie auch mit einem Abfall von jenen Werten zu tun, die den Gründungsmythos der angloamerikanisch dominierten Kultur konstituierten: Freiheit, Gleichheit, Pluralismus, Demokratie. Dieses Phänomen wurde in unzähligen Artikeln zum Thema „Die Heuchelei des Westens“ beschrieben.
Zu schaffen macht uns außerdem eine eskalierende Unterfinanzierung jener Gemeinschaftsaufgaben, die zur Aufrechterhaltung unserer kulturellen Errungenschaften nötig wären. Dazu kommt eine zunehmende soziale Spaltung, die das „Reich“ von innen bedroht, während von außen gleichsam ökonomische „Vandalenstürme“ drohen — jedenfalls stellt sich dies aus der Perspektive der erfolgsgewohnten westlichen Länder so dar. Es hat den Anschein, als wollten weniger satte und ausgebrannte Völker aus der islamischen Welt, aus Indien, Südamerika oder Afrika „uns“ die globale Führungsstellung streitig machen. Russland und China werden sowieso in letzter Zeit notorisch frech.
Steinmeier härtet uns ab
Westliche Selbstkritik ist gewiss angebracht; wenn wir Bürger jedoch ausgerechnet von Politikern oft vor andrängenden globalen Konkurrenten gewarnt werden, könnte dahinter auch eine Manipulations- und Disziplinierungsstrategie der neoliberalen „Elite“ stecken. Der Vorwurf, „die Deutschen“ seien zu weich, zu satt, hätten zu viel Freizeit und so weiter, zielt darauf ab, weitere Leistungsreserven im Dienst der globalen Zwingherren zu mobilisieren. Nur durch Härte gegen sich selbst könnten, so heißt es dann, die in Trägheit Versumpfenden im Wettbewerb mit den leistungswilligen und genügsamen Völkern des Ostens bestehen.
Die Erfahrung zeigt: Auf Phasen hemmungsloser Dekadenz einer breiteren Mehrheit folgten in der Geschichte immer wieder Zeiten künstlich inszenierter Härte, Not und Entbehrung. Denn gerade Letztes liegt im Interesse von „Eliten“.
„Es kommen härtere Jahre, raue Jahre auf uns zu“, schwor Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seine allzu verweichlichten Mitbürger unlängst ein. Die aktuelle Krise erfordere es, „dass wir wieder lernen, uns zu bescheiden. Jeder muss beitragen, wo er kann“. Man kann es auch so sagen: Die Regierenden, assistiert von eingebetteter Opposition und präsidialen Mitläufern, scheint entschlossen, unseren Wohlstand durch gezieltes politisches Fehlverhalten mutwillig zu zerstören. Und ein Volk, dessen Mentalität nicht zu den Konzepten der Austeritätsprediger passt, wird eben passend gemacht. Es wird einfach durch Schock-Inflation und Kriegsgeschrei zur Bescheidenheit gezwungen.
Abtrainierte Instinkte
Gleichzeitig mit dem Verarmungstrend ist noch eine andere Entwicklung zu beobachten, die schon Nietzsche geißelte: die Verdrängung des Natürlichen durch das Artifizielle. Die Realität nimmt in Zeiten wuchernder Großstadt-Moloche, wo sterile Architektur und technische Apparaturen das Bild beherrschen, immer mehr den Charakter des Künstlichen an. Das von Menschen Gemachte verdrängt das Natürliche, wodurch selbst der Körper als Relikt unserer Tierhaftigkeit „verdächtig“ wird. Schon streben „Transhumanisten“ eine zunehmende Verschmelzung des Organischen mit dem Technischen an. Die Zukunft, so scheint es, gehört dem Cyborg. Aber sind wir nicht längst Mensch-Maschinen, auch wenn unsere Körper — noch — nicht verdrahtet und von Implantaten entstellt sind? Haben wir nicht den Maschinen und den von ihnen erzeugten synthetischen Träumen die Kontrolle über unser Leben in einem Ausmaß überlassen, das schon an Dystopien wie „The Matrix“ oder „Wall-E“ erinnert? Die Flucht in Scheinwelten aus Unbehagen am Wirklichen — in dieser Dekadenz-Definition nach Nietzsche treffen sich Religionen und Cyberspace auf ebenso groteske wie beängstigende Weise.
Auch die Lust am Grausamen, Ekelhaften und Grotesken, die etwa in der Schauerromantik des 19. Jahrhunderts noch in ästhetisch hochwertiger und durchdachter Form auftrat, kehrt heute wieder: in Gestalt seichter Horrorfilme, die den Zuschauer durch Abtrainieren des Mitgefühls für seine Rolle als Rädchen im Produktionsgetriebe abrichten.
Dekadenz — ist das nicht auch das Absterben der natürlichen Instinkte dafür, was der Seele noch guttut? Wir müssen vorsichtig sein, dass der Flirt mit dem Dunklen, die Lust am Denaturierten sowie hochgezüchtetes Realitätsdrückebergertum nicht einen Sog in den Abgrund erzeugen — letztlich ein Einverstandensein mit dem eigenen Untergang.
Xavier Naidoo, vielgescholtener Exponent der Unterhaltungskultur, hat es prophetisch vorweggenommen: „Diese Welt war verlogen. Diese Welt war nie rein. Sie liegt am Boden, um zu sterben, und ich lass sie sterben, denn ich weiß, so soll es sein.“ So weit dürfen wir es nie kommen lassen. Diese Welt ist alles andere als perfekt. Das Schöne an ihr zu bewahren, lohnt aber allemal unseren Einsatz. Dann kann auf den Niedergang mit der Dynamik der Wellenbewegung auch wieder eine Aufwärtsentwicklung folgen. Wichtig ist es hierfür, den Feinden des Lebens die Stirn zu bieten.
Die Aufbewahrung der Überflüssigen
Noch einmal zu der Frage: Neigt diese Zeit dazu, uns eher zu verweichlichen — in der Art dekadenter Niedergangsepochen —, oder härtetet sie uns eher ab in den neu entfachten Stürmen des Schicksals? Tatsächlich trifft beides zu: Die Mächtigen versuchen uns materiell systematisch auf den Status von „Working Poor“ zurechtzustutzen; gleichzeitig locken sie uns in virtuelle Fluchträume, die die Funktion von Sedativa und Halluzinogenen einnehmen. Innerhalb dieser Räume dürfen wir dekadent sein, wie es noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit möglich war. Die Entschlossenheit der Regierenden, breite Bevölkerungsschichten in die Verarmung zu zwingen, wird vielleicht an dem Punkt enden, wo der „Genuss“ von Fernsehen, Laptop und Smartphone für diese unerschwinglich wird. Sie werden uns vielleicht Urlaubsreisen, Kulturveranstaltungen und Restaurantbesuche nehmen wollen — Zugang zu den Verdummungs- und Ablenkungsdienstleistungen muss aber immer gewährleistet bleiben.
Ein großes Problem unserer Zeit, so wissen wir es ja von Yuval Noah Harari, dem Philosophen des Great Reset, stellt die sozialverträgliche Aufbewahrung von im Produktionsprozess nicht mehr benötigtem Menschenmaterial dar. „Nicht mehr benötigte Menschen könnten immer mehr Zeit in virtuellen 3-D-Welten verbringen, die viel mehr Aufregung und emotionale Beteiligung zu bieten haben als die trostlose Wirklichkeit da draußen.“ So Harari in seinem Buch „Homo Deus“. Politik und Wirtschaft aber — an diesem Punkt können wir noch immer von Karl Marx lernen — haben die „trostlose Wirklichkeit da draußen“ erst erschaffen und somit mentale Fluchttendenzen bei den diesen Verhältnissen Unterworfenen ausgelöst. Damit „Aufregung und emotionale Beteiligung“ keinesfalls in den Umsturz dieser unhaltbaren Verhältnisse münden, gibt ja jetzt virtuelle 3-D-Welten und medial gepushte Beschwichtigungsnarrative in einer Vollendung, von der ein Friedrich Nietzsche wirklich nur träumen konnte. Unsere Zukunft ist insofern vorgezeichnet — es sei denn, wir lernen, als aktive Gestalter geschichtlicher Prozesse in Erscheinung zu treten anstatt andauernd nur als deren Opfer.
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