Heute ist der 5. September 2018.
Auf den Tag genau vor drei Jahren wurden tausende erschöpfte Flüchtlinge mit Willkommensschildern und mit über die Absperrungen gereichten Orangen, Keksen und Teddybären am Münchner Hauptbahnhof warmherzig in Empfang genommen. Das war der Beginn der deutschen Willkommenskultur. Wenige Monate später brach sie in der denkwürdigen Silvesternacht von Köln jäh zusammen. Bedenken gegen die Zuwanderung wurden lauter und Überforderungsängste nahmen überhand.
Heute, drei Jahre später, lässt sich feststellen, dass die befürchtete wirtschaftliche Verschlechterung ausgeblieben ist. Die Staats- und Sozialkassen sind voll wie nie. Dessen ungeachtet ist die Stimmung im Land miserabel.
Chemnitz ist heute die meistgenannte Stadt Deutschlands. Chemnitz steht für Flüchtlingshetze und Radikalisierung weiter Bevölkerungsteile. Doch es ist absehbar, dass sich schon in wenigen Wochen der Schleier des Vergessens über Chemnitz und die Flüchtlingspogrome des Frühherbstes 2018 ausbreiten wird. Chemnitz wird dann Teil einer unrühmlichen Liste von Städtenamen sein: Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen. Kaum ein Zwanzigjähriger verbindet diese Städte heute noch mit der mörderischen Ausländerfeindlichkeit der frühen 90er Jahre. Mehltau hat sich über das Unsägliche gelegt.
Die Frage ist jedoch, ob Chemnitz nicht trotzdem einen Wendepunkt in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands kennzeichnen wird, nämlich den Schulterschluss zwischen dem radikalen rechten Rand und dem braven Bürgertum, dem Aufstieg der AfD zur Volkspartei.
Verniedlichungen
Es ist zu erwarten, dass der AfD-Chefpropagandist Alexander Gauland demnächst behaupten wird, dass die rechtsextremen Massenaufmärsche von Chemnitz „nur ein Vogelschiss“ in der glorreichen Geschichte Sachsens seien. Damit wäre er in guter Gesellschaft.
Denn unübersehbar sind inzwischen auch staatstragende Politiker, die wegen ihrer grob fahrlässigen Verharmlosung des Rechtsradikalismus ein schlechtes Gewissen bekommen haben, dazu übergegangen, die Hassausbrüche der letzten Tage zu verniedlichen.
Sie betonen auffällig oft, dass die „Wutmenschen“ vor dem Karl-Marx-Monument nicht Chemnitz seien und dass Chemnitz nicht Sachsen und schon gleich gar nicht Deutschland sei. Das ist richtig und falsch zugleich. Richtig ist natürlich, dass nicht alle 250.000 Chemnitzer rechtsradikal sind, das hat auch niemand behauptet. Falsch und gefährlich sind solche Relativierungen, weil sie verschleiern, dass die Chemnitzer Massenaufmärsche von einer klammheimlichen Sympathiewelle beachtlicher Teile der deutschen Gesellschaft getragen werden.
Biedermänner und Brandstifter
Positiv ist zu bewerten, dass fast 3.000 Menschen der von Kirchen und Verbänden organisierten Kundgebung „Herz statt Hetze“ folgten. Das Bild trübt sich jedoch ein, wenn man bedenkt, dass sich gleichzeitig dreimal so viele zu einer von AfD, Pegida und Pro Chemnitz proklamierten „Trauerveranstaltung“ versammelten. Was soll man davon halten, wenn sich in den Trauermarsch tausende „besorgter“ Bürger einreihten, obwohl dort rassistische Parolen gebrüllt wurden und vor den Augen der Polizei der Hitlergruß gezeigt wurde?
Angesichts dieser Umstände muss sich jeder Mitmarschierer den Vorwurf gefallen lassen, dass er sich mit den Rassisten und Chaoten vom rechten Rand gemein gemacht hat. Denn Trauer über eine abscheuliche Bluttat und Unmut über Merkels Flüchtlingspolitik kann man auf bessere Art zum Ausdruck bringen; dazu bedarf es nicht der AfD und Gleichgesinnter. Martin Kohlmann vom Mitveranstalter Pro Chemnitz bekannte entwaffnend ehrlich: „Trauer allein reicht nicht nach einem bösartigen Mord“.
Dahinter verbirgt sich ein unverblümter Aufruf zur Randale. Deren Angriffsziele waren die öffentliche Sicherheit und Ordnung und in letzter Konsequenz der Rechtsstaat. Obwohl das offen zutage lag, sind den Brandstiftern viele Biedermänner auf den Leim gegangen. Sie machten sich zum Teil einer Bewegung. Allein das hebt Chemnitz über die Kategorie „Vogelschiss“ hinaus.
Gewaltmonopol und Kontrollverlust
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer versicherte in der Talkshow „Anne Will“, dass der Staat zu jeder Zeit das Gewaltmonopol innehatte – „Wir hatten das im Griff“. Ob das auch für den Tag des Massenaufmarsches von 7.500 hochemotionalisierten Demonstranten bei gerade mal 591 Polizisten stimmt, kann bezweifelt werden. Beruhigend ist, dass der Staat zumindest in den Folgetagen wieder Herr des Geschehens war.
Allerdings ist das mit Blick auf die Zukunft nicht die entscheidende Frage. Viel wichtiger ist, ob es der AfD und ihren Kampfgenossen gelingt, ihre Strategie durchzusetzen.
Die Rechtsradikalen wollen unter allen Umständen den Eindruck erwecken, dass der Staat in der Flüchtlingsfrage jegliche Kontrolle verloren hat. Das dadurch entstandene Machtvakuum könne nur dadurch ausgefüllt werden, dass vaterländisch gesinnte Bürger anstelle des schwachen Staates für Ordnung sorgen und Deutschland von den Immigranten und von einer islamischen Unterwanderung zurückerobern.
„Deutschland den Deutschen!“ lautet der Kampfruf.
Chemnitz deutet darauf hin, dass die selbsternannten Vaterlandsretter zumindest einen Teilerfolg erzielt haben. Ihnen kommt zugute, dass es völlig egal ist, ob die Behauptung eines staatlichen Kontrollverlusts stimmt oder nicht; entscheidend ist allein, dass das Klientel daran glaubt. Zu diesem Zweck wurde das vermutlich von Flüchtlingen begangene Tötungsdelikt nach allen Regeln der Kunst instrumentalisiert. Die bewusst inszenierte Pogromstimmung wirkte hierbei als Prozessbeschleuniger.
Begünstigt wurde der Verunsicherungsprozess zum einen dadurch, dass in Sachsen die Gefahr von rechts über Jahre hinweg verdrängt oder bagatellisiert wurde, zum andern dadurch, dass sich die Bundespolitik den unübersehbaren Problemen der Zuwanderung nicht seriös gestellt hat. Beides ist mit einem Verlust an Glaubwürdigkeit und Vertrauen verbunden.
Politikversagen
Ist Chemnitz ein Einzelfall, gewissermaßen ein Ausrutscher der Geschichte? Die Antwort ist noch offen. Chemnitz war ein Brennglas, unter dem die zunehmende Hysterisierung unserer Republik sichtbar wurde. Der historische Wendepunkt war das Jahr 2015. Damals sagte eine überforderte Kanzlerin unter dem Eindruck eines bisher ungekannten Ansturms geflüchteter Menschen und anderweitig Schutzsuchender lapidar: „Wir schaffen das“.
Sie unterließ es jedoch sträflich, ihrem verunsicherten Volk zu erklären, wie wir es schaffen können. Sie unterließ es auch, den Menschen zu sagen, dass das Nachkriegsdeutschland schon weitaus größere Herausforderungen gemeistert hat. Unter diesen Versäumnissen leidet das Land bis heute. In die gefühlte Lücke stießen Neonazis und Fremdenhasser und – in ihrem Gefolge – auch viele normale Menschen, die ihren Überforderungsängsten Luft machen wollten. Das macht Chemnitz besonders.
Schulterschluss
Chemnitz hat überdies gezeigt, dass die Trennschärfe zwischen den „normalen“ besorgten Bürgern und ausländerfeindlichen Hetzern immer mehr abnimmt.
Wo bisher Berührungsängste das Verhalten bestimmten, marschieren heute brave Bürger unverdrossen im Gleichschritt mit Hasspredigern.
Alleiniger Profiteur dieses Schulterschlusses ist der parlamentarische Arm der vereinten Vaterlandsretter, die AfD. Die anstehenden Landtagswahlen werden es zeigen.
Unzulässige Gleichsetzung
Für erhebliche Verwirrung sorgt, dass in vielen Reportagen und Kommentaren die Aufmärsche der Rechten mit den Demonstrationen der Linken gleichgesetzt werden. Hierin liegt ein grobes Missverständnis. Die Zielrichtung der Rechtsradikalen ist klar: Sie hetzen gegen alles Fremde. Sie wollen Verunsicherung. Und sie wollen den Rechtsstaat verächtlich machen.
Ziel ihrer Gegner auf der anderen Straßenseite war es nicht, in Sachsen eine linke Mehrheit zu befördern, sondern sie wollten sich den Hetzjagden der Rassisten entgegenstellen und den Bedrohten Schutz bieten. Sie verteidigten den Rechtsstaat.
Das ist weder rechts noch links, es ist das Kernanliegen aller echten Demokraten.
Das zu begreifen, sollte zumindest Journalisten möglich sein.
Anbiederung
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey besuchte Chemnitz und legte am Ort des Tötungsdeliktes Blumen nieder. Das ist auf den ersten Blick eine schöne Geste der Anteilnahme. Doch es werfen sich Fragen auf: Warum kam nicht der für die innere Sicherheit zuständige Minister Horst Seehofer? Oder die Justizministerin Katarina Barley? Vor allem aber: Warum kam überhaupt ein Mitglied der Bundesregierung nach Chemnitz?
Nach dem Statistik-Portal statista gab es 2017 in Deutschland 1.858 Tötungsdelikte. Jedes der Opfer ist zu betrauern. Angesichts der großen Zahl versteht sich von selbst, dass Regierungsmitglieder nur in besonderen Ausnahmefällenden Opfern von Gewaltverbrechen vor Ort Reverenz erweisen können; andernfalls wären die Kabinettsmitglieder mit Kondolenzbesuchen zeitlich voll ausgelastet.
Bei der Auswahl der Trauerbesuche darf es keine Rolle spielen, ob der Getötete Deutscher oder Ausländer war, auch nicht die Frage, ob der Täter Flüchtling oder Biodeutscher ist. Konkret heißt das: So beklagenswert der Tod des Chemnitzers Daniel H. auch sein mag, es ist ein ganz „normales“ – ich bin mir der sprachlichen Gratwanderung bewusst! – Tötungsdelikt unter gut tausend im Jahr.
Das legt die Annahme nahe, dass der Besuch der Ministerin in erster Linie der aufgeheizten Stimmung geschuldet war. Giffeys Auftritt war nicht nur eine pietätvolle Verbeugung vor dem Mordopfer. Er war das, ungewollte, Eingeständnis, dass die Wutausbrüche von Chemnitz auch Berlin beeindruckt haben. Die Provokateure von Rechtsaußen können und werden sich bestätigt fühlen.
So gesehen hat die Blumenniederlegung der Ministerin einen leichten Beigeschmack von Anbiederung.
Hilfreicher gewesen wäre eine unmissverständliche Botschaft der Bundesregierung an die Wutbürger, dass der Staat nicht das geringste Verständnis für hassgeleitete und menschenfeindliche „Trauermärsche“ à la Chemnitz hat und dass er sich ihnen mit seiner ganzen Macht entgegenstellen wird. „Wir überlassen dem Nazi-Mob nicht unsere Straßen. Und wir überlassen denen vor allem nicht unsere Demokratie", sagte Giffeys Parteifreundin Andrea Nahles am Montag im niederbayerischen Abensberg. So einfach ist es.
Lehrstück Chemnitz
Wenn die hohe Politik versagt, ist das einfache Volk gefragt. Der Wahrnehmungspsychologe Professor Rainer Mausfeld sagte: „Rechtsextremismus wächst weiter, wenn die Lämmer schweigen“.
Wir alle sind die Lämmer. Wir müssen die Bequemlichkeit des Fernsehsessels verlassen, entschlossen aufstehen, hinausgehen und den Mund aufmachen. Ganz besonders müssen wir mit denen reden, die vom Staat jahrelang vernachlässigt wurden und die sich deshalb „abgehängt“ fühlen.
Wir sollten auf die zugehen, die sich allein aus diesem Grund mit den Brandstiftern solidarisiert haben. Die Abgehängten müssen fühlen, dass wir an ihrer Seite stehen. Dafür müssen diese aber einsehen, dass es kein Widerspruch ist, außerdem an der Seite all derer zu stehen, die aus den unterschiedlichsten Notlagen auf unsere Solidarität angewiesen sind. Auch fremde Habenichtse haben Anspruch auf Mitmenschlichkeit.
Die Äußerung Seehofers „Die Ängste und Sorgen der Bevölkerung haben zugenommen“ ist zwar richtig. Sie ist aber unzureichend, weil sie verschweigt, dass diese Befindlichkeiten durch die deutsche Wirklichkeit nicht gestützt werden.
Es darf in Deutschland nicht wieder vorkommen, dass Menschen gejagt werden, nur weil sie anders aussehen, sonst hätten wir aus unserer Geschichte nichts gelernt.
Das Konzert „Wir sind mehr“ vom Montagabend ist ein Mutmacher zur rechten Zeit. Nach den Berichten von Teilnehmern kamen die meisten der 65.000 Besucher nicht wegen der Rockmusik, sondern weil sie ein Signal geben wollten. Sie machten deutlich, dass sie das Volk sind und nicht die Botschafter des Hasses, die glauben mit Parolen wie „abhauen!“ und „absaufen!“ den Volkswillen auszudrücken.
So gesehen könnte Chemnitz ein Lehrstück für die Zukunft sein.
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