Zu Beginn des 9. Jahrhunderts wurde Karl der Große zum Kaiser des Fränkischen Reichs ernannt. Im selben Jahrhundert erforschte und umschiffte der schwedische Wikinger Gardarr Svavarrson als Erster Island. Das Frühmittelalter war also keinesfalls arm an Ereignissen. Aus der selben Epoche stammt auch das älteste überlieferte deutsche Sprichwort. „Mit dem Speer soll der Mann Gabe empfangen, Spitze gegen Spitze.“
Es ist ein Auszug aus dem „Hildebrandslied“ — einem althochdeutschen Heldenlied, das Karl der Große selbst angeordnet haben soll. Die Schweizer Sprachwissenschaftlerin und Expertin für Phraseologie, Professor Dr. Annelies Häcki Buhofer, erklärt den Auszug wie folgt:
„Vater und Sohn begegnen sich im Kampf, erkennen sich nicht, der Vater findet aber durch Fragen heraus, dass sein Sohn als Feind vor ihm steht und will den Kampf verhindern, indem er ihm goldene Armreifen schenkt. Der Sohn hält dieses Geschenk für eine List und sagt: 'Mit dem Speer soll der Mann die Gabe empfangen — Spitze gegen Spitze.' Das könnte ungefähr damit umschrieben werden, dass man in der Auseinandersetzung kämpfen und sich nicht durch Listen wie Gaben und Geschenke täuschen oder ablenken lassen soll.“
Nur wenige Jahrhunderte später erschien unter dem Titel Fecunda ratis — das vollbeladene Schiff — die älteste deutsche Sprichwortsammlung. Zusammengetragen wurde diese um 1023 von Egbert von Lüttich, einem weltgeistlichen Lehrer an der Domschule Lüttich. Entstanden als Materialsammlung für den Unterricht enthält das Werk Inhalte antiker Autoren, der Bibel sowie Überlieferungen der Volkssprache. 1862 verkündete Abraham Lincoln mit der Emanzipationserklärung das Ende der Sklaverei in den Südstaaten der USA. Im gleichen Jahr entstand schließlich die bis heute größte Sammlung deutschsprachiger Sprichwörter.
Der schlesische Germanist und Pädagoge Karl Friedrich Wilhelm Wander erfasste in seinem sprachwissenschaftlichen Lebenswerk über 250.000 Einträge. Zwar legte Wanders in seinem doch kommen darin auch ausländische Idiome vor.
Die Ursache, warum sich Redewendungen derart lange im Sprachgebrauch halten, erklärt die Schweizer Phraseologin folgendermaßen:
“Wichtig ist bei einem Sprichwort oder einer Redensart immer die präzise und definierte sprachliche Form, die in einer Sprache gefunden und beibehalten wird. Es sind oft bildliche und bildhafte Ausdrucksweisen, unter denen man sich etwas vorstellen kann. Sie fallen auf und sind beliebt und daher auch dauerhaft.“
Biblische Zeiten
Zu den wohl ältesten Redewendungen, die sich im heutigen deutschen Sprachgebrauch befinden, zählen Zitate aus der Bibel. Dies bestätigt auch Professor Dr. Häcki Buhofer. “Wir können sagen, dass viele Redewendungen der Sprachen, in die die Bibel übersetzt wurde, die auch eine christliche Geschichte haben, auf biblischen Situationen und Textstellen beruhen.“ Dies gilt selbstverständlich auch für die deutsche Sprache. Sätze wie „Hochmut kommt vor dem Fall“, „Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein“ kennt vermutlich jeder deutschsprachige Mensch.
„Die Bibelkontexte zeigen, dass die Bedeutungen, wonach etwas Übles, das man einem Dritten zufügt, sich gegen einen selbst wenden kann und Selbstüberschätzung zum Scheitern führen kann, seit den biblischen Zeiten in die modernen Sprachen übernommen wurden.“, erklärt Häcki Buhofer weiter.
Viele Ursprünge in der Bibel
Wer ein wildes Durcheinander vorfindet, bezeichnet es somit oft als „Tohuwabohu“, ohne die Wortherkunft zu kennen. Denn „tohu wa bohu“ ist hebräisch und bedeutet wüst und leer. Nach der ersten Schöpfungserzählung, der Genesis, soll die Erde anfangs so ausgehen haben. Wer sich einem Menschen anvertraut schüttet ihm redensartlich sein Herz aus. Auch hier lässt sich der Ursprung in der Bibel finden. Genauer gesagt, im ersten Buch Samuel der Lutherbibel. Dort heißt es: “Hanna aber antwortete und sprach: 'Nein, mein Herr, ich bin ein betrübtes Weib. Wein und starkes Getränk habe ich nicht getrunken, sondern habe mein Herz vor dem Herrn ausgeschüttet.'“
Mögen sich zwei Menschen besonders, sagt man gerne, dass sie „ein Herz und eine Seele“ seien. Ihren Ursprung findet diese Bezeichnung in der Apostelgeschichte, in der es um die Gründung der Kirche und die Verbreitung des Christentums im Römischen Reich geht. Dort sagt Lukas: “Die Menge aber der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Auch keiner sagte von seinen Gütern, daß sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemein.“
Ein weiteres Beispiel steht bereits im Alten Testament: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Ein viel umstrittener und vor allem aber fehlinterpretierter Auszug, wenn es nach Professor Dr. Manfred Oeming geht. Der Theologe und Ordinarius für alttestamentliche Theologie erklärt in seiner Publikation der Universität Heidelberg, dass sich “das Verständnis der alttestamentlichen Formel und ihrer rechtsgeschichtlichen Bedeutung in der neueren Bibelwissenschaft gewandelt hat. Die sprichwörtlich gewordene moderne Verwendung wird dem biblischen Befund in keinem Falle gerecht, sondern stellt eine Verzerrung, ja böswillige Verdrehung ihres wahren Sinnes dar“, so der Theologe. Das Zitat sei also nicht, wie heutzutage oftmals missverstanden, als Relativierung von Gegengewalt zu sehen.
Denn so soll Jesus in der Bergpredigt des Matthäus folgende Worte gesagt haben: “Ihr habt gehört, dass den Alten gesagt ist: ,Auge um Auge, Zahn um Zahn'. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“
Das finstere Mittelalter
Gewalt war im Mittelalter omnipräsent. Demnach ist die Liste an schaurigen Überlieferungen, die jedem förmlich Gänsehaut bescheren, sehr lang: Hexenverfolgung, Seuchen, Kriege und Folter. Als hoch- und spätmittelalterliches Instrument der gewaltsamen Wahrheitsfindung galt zum Beispiel die gefürchtete Streckbank. Oder auch Folterbank genannt. Menschen, denen man ein Geständnis entlocken wollte, fesselte man schlichtweg darauf.
Nicht selten zog man dann so lange an den Schlingen, die um ihre Extremitäten gewickelt waren, bis die Knochen aus den Gelenken sprangen. Dieser Grausamkeit entstammt auch der bekannte Spruch „Jemanden auf die Folter spannen“. Heute bedeutet er, dass man jemanden im Unklaren lässt, was man gerne wissen möchte. Ihn also mit informativer Spannung quält.
Glücklicherweise haben wir uns von Grausamkeiten wie Folter im Mittelalter verabschiedet und mit Redewendungen Dinge behalten, die unseren Sprachgebrauch und somit auch unseren Alltag doch eher bereichern. Folglich dürfen wir heute „reden, wie uns der Schnabel gewachsen ist.“ Eine weitere allseitsbekannte Redewendung, die ihre ersten Vorläufer bereits im 13. Jahrhundert gehabt haben soll.
In dieser Zeit, dem Spätmittelalter, galt Hunger neben Pestilenz, Tod und Krieg als einer der „apokalyptischen Reiter“. So starben während der Hungersnot von 1315 bis 1317 in Europa Millionen Menschen. Man kann sich also denken, dass es die Menschen des Mittelalters eilig hatten, verfügbare Lebensmittel in einem Topf zu erhitzen und verzehrbar zu machen.
Daher handelt es sich auch beim Spruch „einen Zahn zulegen“ um eine Redensart dieser Zeit. Damals wurde in den Küchen noch über dem Feuer gekocht. Und da man die Temperatur nicht regulieren konnte, platzierte man über dem Feuer ein Kochgestell in das man die Töpfe hängen konnte. Man befestigte diese Töpfe an Zacken, die man auch als Zähne bezeichnet. Wollten die Menschen den Kochvorgang also beschleunigen, so hingen sie den Topf etwas tiefer ein und legte somit einen Zahn zu.
Wer an Krankheit oder Hungersnot verstarb, hatte „den Löffel abgegeben“. Eine auch heute noch häufig verwendete Redensart, die aus dem Mittelalter stammt. Damals war es in bäuerlichen Hausgemeinschaften üblich, den eigenen Esslöffel dekorativ an die Wand zu hängen. Konnte ein Verstorbener ihn nicht mehr zum Essen abnehmen, hatte dieser ihn also sprichwörtlich abgegeben.
Übrigens verwendeten meist arme Menschen Löffel als einziges Besteck, da sie sich öfter von breiartigen Speisen ernährten und hierfür weder Gabel noch Messer benötigten.
Wohlhabende Menschen hatten dagegen häufiger die Möglichkeit sich ausgewogener zu ernähren. Sie konnten ihre Häuser auch aus Stein bauen, woher die Redewendung „steinreich sein“, kommt.
Die Steine für den Hausbau mussten nämlich erst abgetragen, transportiert und bearbeitet werden. Im Gegensatz zu den einfachen Leuten, die ihre Häuser überwiegend aus Holz bauten, war dies nur sehr vermögenden Menschen möglich.
Wohin die Reise geht
Redewendungen sind nicht nur Hilfsmittel des sprachlichen Ausdrucks. Redewendungen sind ein sprachliches Kulturgut. Und ein Kulturgut ist schützens- und auch erhaltenswert. Viele fürchten im Angesicht einer massenhaften Zunahme von Anglizismen jedoch um die deutsche Sprache und ihre Vielfalt.
Ist etwas auf dem neuesten Stand, sagt man heute „State of the Art“ oder „up to date“. Praxisorientiertes Lernen wird als „learning by doing“ bezeichnet, Personalverantwortliche nennt man „Head of Recruiting“. Professor Dr. Häcki Buhofer nennt diese Entwicklung jedoch völlig normal „Alle Sprachen ändern sich im Kontext der geschichtlichen Veränderung.
Einflüsse von anderen Sprachen hat es immer gegeben und wird es immer geben. Das gilt auch für die deutsche Sprache, die eine lange Geschichte des Einflusses des Lateinischen, des Italienischen, des Französischen hinter sich hat und heute stark vom Englischen beeinflusst wird.“
Auch das Englische wäre in weiten Bereichen zur Hälfte vom Französischen beeinflusst, wie zum Beispiel im Wortschatz der Lebensmittel oder des Kochens, erklärt die Sprachwissenschaftlerin. Das Fazit also lautet, Sprachen entwickeln sich fortdauernd und ungehindert. Zudem ergänzen und bereichern sie sich gegenseitig.
Und noch ein letztes Beispiel aus dem Deutschen: Der frühe Vogel fängt den Wurm. Dass es sich dabei allerdings um eine Entlehnung aus dem Englischen — the early bird catches the worm — handelt, wissen nur wenige.
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