Das Flow-Phänomen, jenes sagenhafte Glücksgefühl, in das Menschen geraten, die ganz in einer Tätigkeit aufgehen, beschrieb im Jahre 1975 der ungarisch-amerikanische Psychologieprofessor Mihály Csikszentmihályi. Er definierte Flow als einen enorm befriedigenden Zustand, bei dem man sich völlig in eine Beschäftigung vertieft, sich in einem sanft-hypnotischen Rausch wiederfindet, scheinbar alles von alleine geht, sich Zeit und Raum als störende Faktoren verabschieden wie auch Zweifel, Ängste und Selbstbeschränkungen.
Für eine bestimmte Zeit lebt man in einer entrückten Sphäre reiner Freude, befindet sich in einer eigenen Welt, in der Denken, Fühlen und Handeln ineinanderfließen, und alles wie magisch strömt.
Wer dem Flow folgt, ist ganz bei sich und doch selbstvergessen. Die Harmonie dieses Zustands gibt uns eine Ahnung davon, wie sich das Leben im schönsten Falle ereignen könnte.
Wie sich diese Seligkeit erreichen lässt?
„Um in den Zustand des Flows zu gelangen, muss man sich einer Tätigkeit voll hingeben Er schenkt uns Freude am Tun, Hingabe und Euphorie — und man kann ihn erlernen. Ein Hoch auf den Flow, jenen herrlichen Zustand schöpferischer Selbstvergessenheit und ebenso muss die Anforderung unsere volle Konzentration beanspruchen“, so Mihály Csikszentmihályi.
Also nichts da mit Rumsitzen und auf göttliche Eingebung warten!
Zum Flow gehört ein spannendes Wechselspiel, bei dem man es inmitten zielgerichteter Beschäftigung schafft, auf die Spielebene zu flanieren. Man kontrolliert sein Handeln und empfindet es doch als entgrenzt und vogelfrei, was ein wenig an die buddhistischen Paradoxe erinnert.
„Flow“, glaubt Csikszentmihályi, „weist immer auf einen Versuch hin, etwas so gut wie möglich zu machen, aber im Bewusstsein, dass man genau das niemals voll im Griff hat.“
Mag sein, dass genau so innere Freiheit entsteht und die üblichen Kreativitätskiller, also Zweifel, Ängste und perfektionistische Ansprüche, durch Abwesenheit glänzen. Wer in diesen Flow geraten ist, kümmert sich nicht darum, was andere von ihm denken, welche Figur er abgibt und was am Ende als Lohn, Vorteil oder Anerkennung herauskommt.
Man betreibt, endlich, eine Sache nur ihrer selbst wegen. Der Fluss des Tuns befreit einen von seelischen und körperlichen Schwerkräften.
Nur so ist erklärbar, dass manche Menschen mit fast absurder Lässigkeit höchst komplexe Dinge angehen: ein vertracktes Miles-Davis-Saxophonsolo, eine Himalaya-Besteigung oder eine weltmeisterliche Dreiband-Billardpartie. Flow erscheint als inneres Abenteuer, eine Reise in intuitive Leichtigkeit und inspirierende Selbsterfahrung.
„Ich liebe alles, was fließt,“ erklärte der Schriftsteller Henry Miller seine assoziativ-wilde Arbeitsweise, „Flüsse, Kanäle, Lava, Blut, Galle, Worte, Sätze.“
Da wir in einer Hochzeit der calvinistischen Arbeitsethik leben, haben Coaches und Consulter, Workshop-Propheten und BWL-Apostel natürlich längst entdeckt, wie produktiv der Flow machen kann. Also wird das Hamsterrad des Joballtags als glückstiftende Selbstverwirklichung umgedeutet, und der Flow genau analysiert, konserviert und präpariert — ganz so, als ob man den Ozean in handliche Flakons umfüllen könnte. Wäre doch gelacht, wenn sich dieses Phänomen nicht auf profitable Art und Weise ausschlachten und clever vermarkten ließe!
Und tatsächlich bietet sich uns heute so einiges als raffinierte Methode zur Steigerung des Selbstmanagements und Produktivitätsflusses an: Think positiv, neue Gelassenheit, Simplify alles, Klug-Atmen, Yoga und Pilates …
Und doch: Flow kann man lernen, meint Deutschlands führender Experte Gerhard Huhn:
„Der Beruf kann so gestaltet sein, dass das Gefühl immer wieder kommt. Sogar am Fließband ist das möglich. Denn wer sich langweilt, wird niemals Flow empfinden.“
Wunderbar, doch wie genau kann man diesen Zustand herstellen? Lässt er sich einfach verschreiben wie eine Packung Prozac, die bei Depressionen auf Knopfdruck Heiterkeit verheißt?
Es erscheint doch eher so, dass dem Flow eine gewisse Unschuld anhaftet, und auch eine gewisse Unberechenbarkeit. Wie ein Mysterium treibt er sich im mächtigen All herum und agiert auf einer Frequenz, auf die unser hochgelobtes Bewusstsein kaum Zugriff zu haben scheint. Dem passionierten Langstreckenläufer schenkt er sich großzügig, demjenigen, der sich am Schreibtisch durch seine Steuererklärung quält, entzieht er sich spröde. Er kommt und geht, wie es ihm beliebt, vertreibt uns nach seiner Anwesenheit jedes Mal wieder aus dem Paradies und wirft uns auf Anfang zurück.
Mir fällt da jener mythische Kugelmensch ein, von dem Platon erzählte: ein rollendes Wesen, das beide Geschlechter miteinander verband, paradiesisch glücklich, in dauernder Vereinigung, im ewigen Flow. Mit der Zeit wurde dieses Eros-Wesen übermütig und anmaßend und fasste den Entschluss, den Olymp zu erstürmen. Zeus zürnte und trennte die Kugel mit einem Hieb in zwei Hälften. Zurück blieben wir: gespaltene, traumatisierte, verlorene Einzelmenschen. Lediglich im temporären Glück der erotischen Nähe können wir unsere Sehnsucht nach dem Urglück und der einstigen Ganzheit erfüllen. Momentweise tut es vielleicht auch der rare Coup eines sensationellen Sechsers im Lotto. Ganz sicher aber kann uns auch das kleine Glück des Flows wieder das Gefühl schenken, ganz mit uns im Reinen zu sein — komplett, zufrieden, in Balance.
Wir ahnen, dass der Flow als Energiequelle und musische Inspiration immer da ist, stets in unserer Nähe, rund um die Uhr, wie die Götter, der Geist und die heiligen Winde. Alles fließt.
Nur wo? Wie stellen wir es an, dem ersehnten Zustand Tür und Tor zu öffnen, ihn anzulocken? Damit er mit seiner Leichtigkeit beflügelt, was wir gerade zu tun haben, sei es arbeiten, kochen, stricken, Kajakfahren, tanzen, Tagträumen, Skifahren, Ameisenbeobachten oder Schachspielen?
Wenn wir dem Psychoanalytiker Viktor Frankl Glauben schenken, lässt sich die Sache nicht erzwingen:
„Peile keinen Erfolg an — je mehr du es darauf anlegst und ihn zum Ziel erklärst, umso mehr wirst du ihn verfehlen. Denn Erfolg kann wie Glück nicht verfolgt werden; er muss erfolgen (...) als unbeabsichtigte Nebenwirkung, wenn sich ein Mensch einer Sache widmet, die größer ist als er selber.“
Offenbar geht es also darum, dass wir uns absichtslos benehmen und einen Sog erzeugen, damit der Flow erfolgen kann. Auch diese Absichtslosigkeit erfordert ein gewisses Talent: Neugier, Lust, Menschenliebe, Wissen um und vor allem Begeisterung für eine — wie auch immer geartete — ganz bestimmte Sache, der wir uns verschreiben. Sind alle diese Elemente beisammen, bewegen sie sich in uns, werden denkend und handelnd kombiniert, umgeworfen, sortiert, vergessen und wieder neugemischt wie rotierende Würfel in einem Becher. Einfach anfangen und die Dinge in innere Bewegung versetzen, das ist der erste Schritt.
Ebenso wichtig ist, dass wir uns dabei frei machen von Logik, Zensur, Bewertung, Regeln, Pflichten und auch von dämlicher Eitelkeit. Zum Flirt mit dem Flow kommt es sicherlich nicht, wenn wir uns selbst dabei beobachten.
Das wusste schon Professor Csikszentmihályi:
„Um das Leben spielerisch anzugehen, ist es notwendig, nicht allzu sehr mit sich selbst beschäftigt zu sei und sich dauernd über sich selbst Sorgen zu machen. Das Ego schließt so viele Dinge mit ein, die für ein Flow-Erlebnis völlig irrelevant sind, der Name, der Job, gewisse Verpflichtungen, die Alltagssorgen.“
Erst, wenn es uns gelingt, dem zu entrinnen, entfaltet eine Tätigkeit ihren wahren Zauber und macht uns glücklich. Die ausgeschütteten Glückshormone Noradrenalin und Serotonin, von denen drahtige Outdoor-Hipster fabulieren, als ob es sich um jüngste Urlaubsbekanntschaften handeln würde. Haben damit nur am Rande zu tun. Auch nicht die Endorphine, von denen Hobbysportler mit Red-Bull-Mützen schwärmen, Hunderttausende von ambitionierten Mitbürgern, die ihre Körper ans Limit treiben, ob beim Triple-Triathlon, beim hochalpinen Mountainbikerennen oder bei sonstigen suizidären Gewaltakten.
Angeblicher Flow, wo man hinschaut, Highgefühle, wo man hinhört: überall Belohnungsfluten und Gipfelorgasmen.
In Wahrheit scheint es sich eher um einen narzisstischen Kick zu handeln. Nach acht Stunden Kraulen im Chlorwasser ist man einfach froh, dass es vorbei ist. Man hat „etwas getan“ und die Big-Data-Werte des Pulsmessers — auch eine Form der Selbstbeobachtung, die den Flow verhindert! — verschaffen eine gewisse Selbstbestätigung. Schon gleich danach allerdings muss der Junkie seinen Akku für den nächsten Foltertag aufladen, an dem hoffentlich wieder ein narzisstischer Kick wartet, die nächste Höchstleistung, die nächste Vermessung.
Der ganze Extremsport-Spuk ist wohl eher ein Fall für die Suchthilfe. Die einen treiben sich damit zu Job-Hochleistungen an, die anderen bedienen krampfhaft ihren Ego-Server und der Rest besitzt genügend Selbsterkenntnis, um beim Therapeuten die atemlose Jagd nach noch mehr hohler Selbstbegeisterung und sonstigem Leerlauf zu beklagen. Nein, mit Flow hat all dies wenig zu tun.
Vorschlag: Man könnte es vielleicht stattdessen einmal mit ziellosem Herumstreifen zu Fuß probieren — mit Spaziergängen oder mit meditativem Wandern frei nach dem „Solvitur ambulando“-Wahlspruch des Heiligen Augustus: „Alles löst sich durch das Gehen“.
Tatsächlich schenken uns die rhythmischen Schritte nach einer gewissen Zeit neue Ideen, unerwartete Einfälle und sich urplötzlich abzeichnende Lösungen für lange schwelende, verdeckte Probleme. Allerdings werden die meisten von uns ein offenes Problem haben, wenn sie ihrem Vorgesetzten beiläufig mitteilen, dass sie jetzt zu einer kleinen spirituellen Wanderung aufbrechen werden.
Die selbstständigen Frauen und Männer der schönen Künste haben es da etwas leichter. Sie sind es auch, denen wir überraschende Mitteilungen über jene besonderen Erleuchtungsmomente verdanken, in denen sich das Lied von selbst komponiert, das Bild sich von alleine zeichnet oder sich die chemische Formel mühelos aus dem Nichts herauslöst.
Als Bob Dylan auf seine wohl kreativste Schaffensphase Mitte der Sechzigerjahre zurückblickte, meinte er:
„Ich weiß wirklich nicht, wie ich zu diesen Liedern kam, ich habe nicht die geringste Ahnung. Sie entstanden auf magische Art und Weise, so als ob sie schon immer da gewesen wären.”
Michelangelo soll zur Entstehung seiner größten Skulpturen gesagt haben:
„Ich habe diese Werke nicht geschaffen, ich habe sie nur aus dem Marmor befreit.”
Pablo Picasso räsonierte:
„Ich konnte schon früh zeichnen wie Raffael, aber ich habe ein Leben lang dazu gebraucht, wieder zeichnen zu lernen wie ein Kind.”
Und auch der Schriftsteller Michael Ende kennt das Wunder der künstlerischen Eingebung:
„Ich glaube, dass die Werke der großen Dichter, Künstler und Musiker dem Spiel des ewigen und göttlichen Kindes in ihnen entstammen, dieses Kindes, das nie die Fähigkeit verliert zu staunen, zu fragen und sich zu begeistern.”
Aber auch diese schöpferischsten Vertreter der Menschheit können ihr Brainfracking nicht einfach per Knopfdruck anwerfen. Es bedarf stets einer konkreten Vorbereitung, einer klaren Fragestellung, eines deutlichen Signals. Und ja: Jeder von uns kann sich davon inspirieren lassen. Beginnen wir doch ab sofort mit einer allmorgendlichen Übung. Unser „Flowritual“ könnte darin bestehen, zu einem ganz bestimmten Wort oder Gedanken oder Thema einfach loszulegen, die Einfälle und Assoziationen weiterzuspinnen, schreibend, malend, komponierend, singend, ganz egal. Und natürlich ohne Verbot, Urteil, Abwertung, Scham und Konformismus! Geben Sie sich der puren gedanklichen Kindheit hin, einem wilden Fluss aus Bildern, Blitzen, Erinnerungen, Traumsequenzen. Mit jedem Ausflug dorthin werden Sie Ihrer verborgenen Kreativität näherkommen.
Mich überkommt der Flow gerne beim Autofahren, vor allem, wenn ich alleine cruise, egal, in welchem Land, gerne ohne konkretes Ziel, ob über die Dörfer, durch die Wälder oder an einer Küste entlang. Irgendwann übernimmt der hellwache Autopilot die Vorgänge des Fahrens, und die Bilder des Kopf- und Herzkinos beginnen abzulaufen. Zeit und Raum verlieren ihre Bedeutung, eine sanfte Macht übernimmt die Regie, zoomt sich die Gedanken zurecht und hinterlässt plötzlich geschärfte Einsichten und Erkenntnisse, sogar unverhoffte Lösungen.
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