Wie bei vielen anderen Menschen besteht mein Wissen über den Komplex Künstliche Intelligenz (KI) & Digitalisierung & Big Data aus Zufallsfragmenten. Man stößt zufällig auf einen kulturkritischen 4.0-Essay, dem folgt eine alarmierende Studie in Sachen 5G-Verseuchung, Tage später liest man eine Hymne über den grenzenlosen Optimismus im Silicon Valley und danach ein verschwurbeltes Plädoyer für eine transhumane KI-Utopie.
Unter dem Strich bleibt wenig hängen, und jeder weitere Beitrag fördert ein eher frustrierendes Fischen im Trüben. Es geht einem manchmal wie Angela Merkel, die vor einiger Zeit gegenüber dem abhörenden Freund Obama bekannte: „Das Internet ist für uns alle Neuland.“ Und so lässt die große Mehrheit lieber ihre Finger vom Datenthema und hofft, dass es Experten in den USA und China schon regeln werden, irgendwie, zum Guten, wenn möglich.
Die Bit-Revolution
Mitten in diesem Unbehagen fiel mir das eben erschienene Buch von Gernot Brauer in die Hand: „Die Bit-Revolution. KI steuert uns alle in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.“ Die Lektüre erwies sich als ein wahrer Glücksfall, auch weil Lesevergnügen, Wissensgewinn und Erklärung selbst hochkomplexester Sachverhalte Hand in Hand gehen. Zunächst führt Brauer die Leser Schritt für Schritt durch die Geschichte und die wichtigsten Entwicklungsschritte der Datenrevolution bis in die Gegenwart 2018.
Quasi parallel werden endlich einmal die halbgewussten Begrifflichkeiten wie Bots, Blockchains und Bitcoins erklärt, die Räume des Darknet beschrieben, wie auch das gespenstische Innenleben der Big-Five-Krake, also Google, Facebook, Amazon, Microsoft und Apple detailliert ausgebreitet. Dazu kommen reichlich Anekdoten, Hacker-Stories und eine breit gefächerte Zitatenpalette zwischen Einstein, Heisenberg, Jobs, Musk, Lanier und Curioni.
Mit jedem Kapitel mehr wird es klarer, dass wir hier und heute an der Schwelle zu einer Zeitenwende stehen, zu einer kognitiven Revolution und einem in dieser Rasanz noch nie dagewesenen Quantensprung der Menschheit. Und diese Intelligenzexplosion lässt uns allen keine Wahl:
Wir müssen KI zulassen, ob wir es wollen oder nicht, denn wir befinden uns auf der globalen Datenautobahn und rasen mit Lichtgeschwindigkeit mitten in eines der größten Abenteuer der Geschichte.
Es spricht für die Souveränität des Autors, dass er auch entschiedene Kritiker von KI zu Wort kommen lässt, wie etwa Doc Searls:
„Wenn wir Google und Facebook wie ein normale Infrastruktur behandeln würden, wie Straßen oder Kraftwerke, würden sie Beamte immer wieder inspizieren. Doch bei der Krake weiß niemand, was dort passiert, denn ihre Datenzentren sind absolut blickdicht.“
Und auch Brauer macht sich keinerlei Illusionen über deren imperiale und datengetriebene Bespitzelung ihrer Kunden bis tief ins Unterbewusste hinein, inklusive der Berechnung ihres zukünftigen Verhaltens.
Über digitale Mündigkeit
Doch die Horrorvisionen sollten uns nicht davon abhalten, entschieden für unsere digitale Mündigkeit zu kämpfen und uns ein selbstbewusstes Leben im virtuellen Universum zu ermöglichen.
Jeder sollte sich um eine kluge wie kreative Selbstverdatung kümmern und im kalten Neuland seine Würde und Privatheit bewahren. Um eine solche Deutungshoheit über eigene Daten und deren Interpretation zu erlangen, muss man sich aber mit den technischen Abläufen beschäftigen und die Mechanismen und Logik der Algorithmen durchschauen — und sie so clever wie möglich benutzen. Wie das geht, beschreibt Brauer und legt dem Leser nahe, sein Webmaster zu werden und zu bleiben.
Wenn nämlich selbstlernende Robot-Maschinen eines Tages ihren Programmierern entwischen, droht in der Tat die Degradierung des Menschen zum Cyborg und kybernetischen Spielzeug.
Brauers Plädoyer gilt einer vernunft- und wissensbasierten Mensch-und-Maschine-Synthese, in der künstliche und humane Intelligenz kooperieren. Aus den vielen gesellschaftlichen Aspekten, die Brauer im Sinne der KI abhandelt — Finanzmarkt, Gesundheit, Verkehr, Handel, Forschung, Industrie 4.0 — möchte ich nun einen sehr wichtigen Punkt herausgreifen. Und zwar das Kapitel, wie wir uns in Deutschland eigentlich gegenüber KI positionieren. De facto überwiegt eine offene wie verdeckte Skepsis. Ein nostalgisch-pseudoromantisches „Früher war alles besser“ durchzieht hierzulande das analoge Denken.
Quer durch die Generationen wächst eine Sehnsucht heran nach den fröhlichen Stimmen der Marktplätze, Volksfeste und Schulhöfe — Rousseau statt Smartphone. Befördert werden diese Ängste vor der Apokalypse von den aktuellen Statements früherer Facebook-Manager wie Sean Parker, Justin Rosenstein oder Chamath Palihapitiya, die reumütig auf die destruktiven Konsequenzen ihrer Schöpfung zurückblicken.
Auch wenn es nicht offen ausgesprochen wird, hoffen Abermillionen, dass sich der ganze digitale Spuk bald als Irrweg und technologische Sackgasse erweisen möge — wie Mondflüge oder Atombombe.
Und selbst jene, die vor einem Jahrzehnt die sozialen Medien als Tool einer neuen urdemokratischen und transparenten Gesellschaft feierten, betrachten die weit geöffnete Pandorabüchse mit wachsendem Erschrecken.
Ohne an dieser Stelle auf die Pro- und Contra-Argumente in Sachen Big Data einzugehen, zeigt es sich, dass KI in Deutschland ein mächtiges Imageproblem hat. Hin- und hergerissen zwischen Begeisterung und Nostalgie breitet sich eine geistige wie politische Stagnation aus. Man vertagt, vertröstet, grübelt, wägt ab, wartet ab, gründet Arbeitskreise und veranstaltet Tagungen, auf denen das Schlagwort der Digitalisierung aufs Neue durchgekaut wird.
Die weltweite KI-Explosion
Ohne deutsche Belehrungen abzuwarten, explodieren in Kalifornien ein hemmungslos-dynamisches und grenzüberschreitendes Frontier-Denken und in China das ungehinderte Fortschreiten einer staatskapitalistischen Totaldurchdringung. Nebenbei: Was man als KI bezeichnet, läuft nun bereits seit 50 Jahren. Und alle Betroffenen sind sich in dem Punkt einig, dass mit dem Jahr 2020 die diversen Prozesse des Erforschens und Experimentierens abgeschlossen sein werden und die Phase der praktischen Umsetzung dort eintritt, wo sich Konzerne, Staaten oder Gesellschaften darauf vorbereitet haben.
Laut Brauer begreift in Deutschland eine große Mehrheit die KI nicht als Fakt, sondern mehr oder weniger als einen Hype, Boom oder Modetrend. Während ein Fell nach dem anderen davon schwimmt, wandern die besten Köpfe in die USA ab. Nicht wenige dieser IT-Profis prophezeiten ganz offen, dass für die deutsche Autoindustrie auf dem Sektor des autonomen Fahrens demnächst nur noch das Liefern von Blech und Schrauben übrigbleiben wird.
Das Beispiel Prisma Analytics
Wiewohl Brauer an der deutschen Lethargie und Zaghaftigkeit manchmal verzweifelt, und dem für die Merkel-Ära so typischen Aussitzen, Hoffen und Verdrängen, findet er auch positive Beispiele. Und unter denen sticht besonders die Münchener Prisma Analytics hervor, ein kleines Team, welches weitgehend unbemerkt zu einem Global Player der Daten-Intelligenz wurde. In jahrelanger Entwicklungsarbeit hat man innovative Methoden der Echtzeit-Datenerfassung quasi im Alleingang umgekrempelt und zu einem weltweit führenden Unternehmen auf den Gebieten „Computer Sciences“, „Big Data“, „Artificial Intelligence“ und vor allem „Predictive Analytics“ geformt.
Konkret liefert man Großbanken, Konzernen, Regierungen, Non-Governmental-Organisations (NGOs) und Verwaltungen solide Vorhersagen zu finanziellen, politischen und sozialen Entwicklungen, Infos zur Minderung von Risiken in Geopolitik und Makroökonomie, ständig sich aktualisierende Prognosen zu wirtschaftlichen und politischen Trends, sowie Krisenprävention, zum Beispiel bei Migrationsbewegungen, Wetterkatastrophen, Hungersnöten, Seuchen oder drohendem Kollaps von Märkten. Seit Prisma Analytics mit der Datenbank von Blackstone fusioniert hat, wurden Verträge mit Regierungen der Golfregion, einigen Betreibern der weltgrößten Hafenterminals und dem Staat Malaysia geschlossen.
Um mehr über den Spirit bei Prisma Analytics zu erfahren, hat sich Brauer einige Male mit dem Chefdenker Hardy F. Schloer (62) besprochen. Bevor sich dieser in das Big-Data-Reich stürzte, studierte er als Autodidakt Mathematik, Psychologie, Soziologie und Philosophie — über Griechen und Römer bis hin zu Kant, Hegel, Nietzsche, Schopenhauer und Wittgenstein. Und so entstand im Sinne angewandter Philosophie sein Ansatz für KI, nämlich die mentalen und die physischen Realitäten in einer universellen Software zu vernetzen. Um Realität aber so objektiv wie möglich zu erkennen und zu interpretieren, bedarf es nach der Erfassung noch eines finalen Maschinenfilters, denn — so Schloer:
„Kein Computer wird jemals so unberechenbar und gefährlich agieren wie Menschen. KI ist um Längen sicherer, verantwortlicher, berechenbarer und letztlich humaner, als es der Mensch jemals in der Geschichte war. Denn viel zu oft reißt die dünne Haut der Zivilisation und der so seltsam verklärte Mensch erweist sich als mordendes Raubtier, geprägt von Gier, Heuchelei, Eitelkeit, Hass. Selbst sein Mitleid erzeugt immer wieder grauenvolle Resultate.“
Alleine schon aus diesem Grund wird der Mensch dort scheitern, wo die Algorithmen der KI emotionsbefreit und unermüdlich ihre Arbeit machen. Man kann das imaginieren als global über zig Milliarden Sensoren vernetzte Supercomputer und kooperierende Wissenszentren auf der Basis einer einheitlichen Sprache, kostenlos zugänglich und politisch-ideologisch unabhängig.
Damit trägt KI dazu bei, einen intelligenten Planeten mit einer neuen Weltmentalität zu etablieren, mit einer optimierten Lebensweise für alle Teilnehmer, die dank des Delegierens von Routine- und Bullshit-Jobs an Big Data die Rückeroberung der menschlichen Freiheit genießen.
Der deutsche Aspekt
Zurück zum deutschen Aspekt. Wäre es nicht so dramatisch, könnte man es als rührend bezeichnen, wenn gebetsmühlenartig von großen Teilen der Politik und Wirtschaft ertönt, dass man auch in Sachen KI auf eine europäische Lösung hin arbeite. Wir erinnern uns: Vor genau einem Jahr diktierte der nassforsche Facebook-CEO Mark Zuckerberg mit sichtbarer Verachtung dem EU-Parlament mit seinen 28 Mitgliedsstaaten und 500 Millionen Bürgern die Frageliste für seinen 15-minütigen Antwortenmonolog.
Dankbar-verzaubert hing die Altherrenriege an den Lippen des Daten-Tycoons. Wer bei der „Digitalisierung“ auf Brüssel zählt, kann auch gleich auf den Messias warten. Europa ist ein viel zu heterogener Flickenteppich mit unterschiedlichen Sprachen, Kulturen, Volkswirtschaften und Rechtssystemen. Zudem wuchern dort unzählige interne Ressentiments, die in absehbarer Zeit keinen einheitlichen Markt im Sinn haben, sondern eher ein lustvoll zelebriertes Gemetzel.
Doch es gibt in Sachen KI keine Zeit mehr zu verlieren! Und darüber hinaus blockieren die Bedenken der Datenschützer ein schnelles Handeln.
Viele davon sind berechtigt, doch erinnern die Warnungen in ihrem Anachronismus oft an Banner und Plakate der Matrosenaufstände. Flankiert von den Bonmots der von Big Data überforderten Politiker mündet das vielstimmige Veto in einen Mix aus ethischen Appellen, Fair-Trade-Anmahnungen und Gesprächsangeboten.
Brauer wie Schloer sehen die große Chance für Deutschland nun genau darin, diese deutsche Skepsis und das Erbe des humanistischen Idealismus ins Spiel zu bringen. Das heißt grob gesagt, zwischen dem hochriskanten kalifornischen Wahn und der nicht minder grenzwertigen chinesischen Hybris die ethische Karte zu spielen und sich freie KI-Nischen zu suchen, in denen Aufklärung und kritische Vernunft so nötig wie profitabel sind.
Dazu ein Zitat aus einem Interview von Brandeins mit dem IT-Experten Richard Socher: „Was man auch nicht vergessen sollte, sind die Standortvorteile, die Deutschland in Sachen KI hat. Das Land verfügt über ein sehr gutes Gesundheitswesen. Warum kann man nicht eine landesweite, anonymisierte Datenbank anlegen, in die zum Beispiel alle Gehirn-Computertomografien eingespeist werden.
Das wäre ein enorm wertvoller Datensatz, um Systeme für maschinelles Lernen zu trainieren und zu verbessern. Damit wären diese Daten eine Art öffentliches Gut, mit deren Hilfe die Bundesrepublik zu einem Weltmarktführer für Medizin-KI werden könnte, weil sich anhand dieser Datensätze hervorragende Algorithmen entwickeln lassen. Das könnte die Basis für ein ganzes Ökosystem von Start-ups werden.“
Dass die Zukunft angenehmer aussehen kann als die Orwell-Vision des menschlichen Avatars im Käfig eines Maschinenregimes, machen die Manager von Prisma Analytics am Beispiel des Finanzmarkts deutlich:
„Big Data war lange Zeit auf dem Finanzmarkt das Mittel der Wahl, um den Hedge-Leuten und Banken ein paar Sekundenbruchteile Vorsprung zu schenken, um eben auf Kosten des etwas langsameren Wettbewerbers Milliardenprofite einzustreichen. Bis 2025 hat sich dieser Faktor in Luft aufgelöst. Denn bis dahin steht alles Wissen allen Interessenten auf einer globalen Plattform gleichzeitig zur Verfügung. Damit ist nicht nur die Basis für die destruktiven Spekulationen zerstört, sondern es wird ermöglicht, dass alle Erzeuger und Verbraucher sämtliche Produkte und Dienste einsehen und zum Nutzen aller umfunktionieren können.“
Tief durchatmen
Nach den knapp 300 Seiten wird mancher einmal tief durchatmen. Viel mehr kann ein Fachbuch nicht leisten — egal ob der Leser digitaler Neuling ist oder Insider. Enorm wohltuend ist auch die Abwesenheit vom nervigem Fachjargon der meisten Big-Data-Nerds, sowie Brauers Verzicht auf eine zur Schau gestellte Haltung und moralische Attitüde. Dafür liefert er Fakten, auch jede Menge ungemütliche und belegt diese mit ausführlichen Quellen, Hintergründen und einer umfangreichen Faktencheck-Webseite.
Wem das Gute näher ist als sein Gegenteil, dem gibt Brauer ein abschließendes Statement mit auf den Weg:
„KI hat das Vermögen, auf das zu reagieren und für das zu arbeiten, was allen Menschen auf der Erde hilft. Dazu bedarf es fortlaufender interkultureller Forschung, Dialoge und interaktiver Kooperationen. Wir haben alle Tools vor uns liegen, um unseren Planeten zu einer nachhaltigen friedlichen solidarischen Gemeinschaft zu formen.“
Und als Trost für all jene, die sich mit dem Pro und Contra von KI auseinandersetzen, sei noch angeführt, dass es keinen einzigen Menschen gibt, der auf diesem Bereich weiter als zwei Jahre in die Zukunft denken kann.
Quellen und Anmerkungen:
Gernot Brauer
Die Bit-Revolution:
Künstliche Intelligenz steuert uns alle in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft
UVK Verlag München, 2019
Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.
Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.