Eine der Grundannahmen der Gesellschaft, in der wir leben, ist und war stets: Wer bereit ist, Leistung zu erbringen, der oder die brächte es auch zu etwas. Mühe, Engagement und Fleiß zahlten sich aus.
Dass dieser Gedanke längst als Mythos (1) zu Grabe getragen gehört, bewies nicht zuletzt die PISA-Erweiterungsstudie für Deutschland. Ihr zufolge ist die relative Wahrscheinlichkeit eines Gymnasialbesuchs für ein Akademikerkind in Deutschland 6,9 mal so hoch wie jene eines Facharbeiterkindes. Und, wohl gemerkt: Selbst bei gleicher individueller Lese- und Mathematikkompetenz beträgt dieses Verhältnis noch 4 zu 1 (2).
Fleiß also, könnte man meinen — und unlängst auch gut begründen — zahlt sich nicht aus, zumindest nicht für jeden und jede in unserer Gesellschaft. Ganz im Gegenteil: Mittels der vordergründigen Ideologie von „Leistungsgerechtigkeit“ reproduziert und verschärft sich — hintergründig und unbemerkt — gesellschaftliche Ungleichheit:
Ökonomisch Benachteiligte junge Menschen erhalten eben trotz guter beziehungsweise adäquater Leistungen faktisch schlechtere Beurteilungen als sozial „Höhergestellte“.
Im festen Glauben daran, die Messinstrumente des Bildungswesens hätten mit sozialer Herkunft, Habitus und dergleichen nichts gemein, wären also „objektiv“ und gerecht, können letzteren hierdurch schließlich in überwiegender Mehrheit die gesellschaftlichen Positionen ihrer Eltern weiter-„vererbt“ werden.
Und selbst die Ausgegrenzten, Verarmten und Unterdrückten wissen dagegen nichts mehr zu sagen: Schule ist ja gerecht und sie sind, das haben sie selbst erlebt, dümmer als die Eliten, die ihre besseren Jobs, das höhere Einkommen deswegen natürlich verdienen — im direkten und vermeintlich objektiven Leistungsvergleich waren sie die Verlierer und wurden für ihr Versagen zurecht beschämt.
Leistung ist nicht Verstehen
Wie aber funktioniert diese „Gehirnwäsche“, die Menschen glauben lässt, sie seien mehr oder weniger wert als andere? Schauen wir uns das Notensystem einmal genauer an:
„Wie und warum kommt eigentlich jemand auf die Idee, gelerntes Wissen, also Qualität, in einer Zahl, also Quantität, zum Ausdruck bringen zu wollen? Beim Cello-Lernen braucht man doch auch keine Zensur: Wenn man (...) (hier) Fehler macht, wird einem dieser Fehler erklärt, damit man (...) (ihn) beseitigen kann. Man beseitigt also (...) Fehler und als Resultat hat man dann gelernt, die Bach-Suite zu spielen. Was soll da die Note?! Schließlich will man (...) etwas verstehen beziehungsweise sich eine bestimmte Spieltechnik aneignen, und darüber sagt eine Note gar nichts aus. (…) Für den konkreten Lerninhalt tut die Note also gar nichts zur Sache. Warum hält sie dann jeder für selbstverständlich, sobald es um schulisches Lernen geht? Und wenn die Note dem Lerninhalt äußerlich ist, warum gibt es sie dann überhaupt?“ (3).
Schauen wir uns das einmal am Beispiel einer schulischen Klassenarbeit an: Ein bestimmtes Thema wird im Unterricht durchgenommen und soll gelernt werden. Ab und an lässt der Lehrer oder die Lehrerin Klassenarbeiten schreiben, in denen er „das Gelernte abfragen“ will. Doch die Klassenarbeit ist in Wirklichkeit gar keine Lernerfolgskontrolle. Der oder die Lehrende ist sich ja gar nicht unsicher, ob ihm der eine oder andere Mangel bei den Schülerinnen und Schülern entgangen ist, sondern hat vielmehr die Gewissheit, dass in der Klasse nach dem Durchnehmen des Stoffes noch eine ganze Menge Unkenntnis besteht.
Es ist schulischer Usus, ein Thema nicht dann abzuschließen, wenn es jeder und jede verstanden hat, sondern bereits zuvor: Völlig unabhängig vom Kenntnisstand, vom Lerntempo, von den unterschiedlichen Interessen, den besonderen Lernproblemen und Schwierigkeiten der Schülerinnen und Schüler ist im staatlich vorgeschriebenen Lehrplan festgelegt, dass in einer bestimmten Zeit eine bestimmte Stoffmenge „durchgenommen“ werden muss.
Auf diese Weise wird Wissen zu einem ihm völlig äußerlichen Kriterium ins Verhältnis gesetzt: der Zeit. Denn: Wenn nach dem Schreiben der Klassenarbeiten das Thema beziehungsweise die Lernphase bewusst ab- und zu neuen Ufern aufgebrochen wird, dann interessiert das Lernen selbst nur insoweit, als es eine Leistungsverausgabung darstellt und als solche zu messen ist:
Lernen in Zeit ist dann die geforderte Leistung — nicht Lernen, Verstehen an sich. Nicht also das, was Bildung meint.
Urteile statt Unterstützung
Diese Gleichbehandlung aller Schülerinnen und Schüler — gleicher Stoff in gleicher Zeit — sieht von deren Unterschieden vollkommen ab: Ob sich jemand für das Thema interessiert, ob jemand Nachhilfe bekommt oder Eltern hat, die ihm oder ihr die Hausarbeiten erklären oder insgesamt eine positive Einstellung zum Lernen sowie gegebenenfalls „Lerndisziplin“ vermitteln, bleibt völlig außer Acht.
Da die Schülerinnen und Schüler also verschiedene Motivationen und Einstellungen zum jeweiligen Stoff sowie verschiedene Lerntempi haben, ist es notwendige Folge einer solchen Gleichbehandlung, dass sie am Ende der jeweiligen Einheiten auch über verschiedene Wissensstände verfügen:
„Der Unterschied im Wissensstand, der dann in der Klausur deutlich wird, ist somit ein Resultat der Gleichbehandlung der ungleich schnellen Schüler. Auf diese Art werden Unterschiede im Wissen der Schüler hergestellt, die in der Note dokumentiert werden. An dieser Stelle zeigt sich schon, dass es nicht darum geht, dass alle Schüler den Gegenstand, der da im Unterricht erklärt wird, begreifen sollen, sonst würde wohl kaum der Lernprozess abgebrochen, bevor alle den Stoff begriffen haben“ (4).
Die Herstellung solcher Leistungsunterschiede ist dabei alles andere als ein unglücklicher Zufall, sondern politisch gewollt.
Entwertung tatsächlicher Leistungen
Das zeigt sich daran, dass die Lehrer gezwungen sind, nach der sogenannten Gauß‘schen Normalverteilung zu benoten. Ganz egal also, wie viel ein Schüler jeweils gelernt und womöglich auch verstanden haben mag, qua Normalverteilung darf und wird es stets nur wenige sehr gute und wenige sehr schlechte Schülerinnen und Schüler geben, während das Gros derselben vermeintlich mittelmäßige Leistungen erbringt.
„Normalverteilung“ nach Gauß, entsprechend den Noten A 10%, B 25%, C 35%, D 25%, E 10% (Quelle: „Ideologieproduktion in der Prüfungsordnung“)
Konkret bedeutet dies: Wenn ich mich in einer Lerngruppe befinde, in der die Schülerinnen und Schüler zwischen sechs und fünfzig Fehler gemacht haben, habe ich mit sechs Fehlern eine „sehr gute“ Leistung erbracht. Hätte die gleiche Gruppe hingegen null bis sechs Fehler gemacht, wäre meine Note mit sechs Fehlern ein „mangelhaft“ oder „ungenügend“.
Oder, um ein anderes Schlaglicht zu werfen: Hat der Lehrer oder die Lehrerin „einmal ein Thema so ausführlich erklärt, (...) dass alle Schüler es verstanden haben und unter normalen Bedingungen in der nächsten Klausur eine 1 schreiben würden, so muss er (oder sie) zum Beispiel die Zeit, die für die Klausur angesetzt ist, verkürzen beziehungsweise mehr Aufgaben in derselben Zeit den Schülern aufs Auge drücken, so dass wieder nur die flinkesten Schüler alles schaffen. So wird sichergestellt, dass über die Gleichbehandlung aller auf keinen Fall sich bei allen dasselbe Resultat herausstellt: Schließlich heißt Chancengleichheit nicht Resultategleichheit, sondern soll vielmehr eine Konkurrenz ins Werk setzen, die Gewinner und Verlierer produziert“ (5).
Produktion und Reproduktion der Klassengesellschaft
Stellen wir also zusammenfassend fest:
- Die Institution Schule versteht Leistung als Wissen pro Zeit unter den Bedingungen gegenseitiger Konkurrenz, was Lernen und Verstehen nicht fördert, sondern massiv erschwert, wenn nicht unmöglich macht. Schulen bilden also nicht, sondern verhindern Bildung als auch Emanzipation (8, 9).
- Qua Notenvergabe, welche der Gauß‘schen Normalverteilung unterliegt, bürgt sie zudem dafür, dass lediglich für einige wenige Schülerinnen und Schüler „sehr gute“ Leistungen überhaupt möglich sind. Für die überwiegende Mehrheit derselben wird sie zwingend zum Separationsinstrument — ganz unabhängig davon, welche Leistungen diese Mehrheit wirklich erbringt.
- Die Bewertung mittels Noten begründet sich nicht aus Leistung, sondern bedient sich derselben nur. Leistung ist insofern zwar Voraussetzung, nicht aber Garant für gute Noten und schulischen Erfolg — sowie darüber hinaus als relativ definiert, da sie sich stets an der vorhandenen Gesamtverteilung bemisst.
- Da Schule mittels Notenvergabe ungleiche Menschen unter gleiche Bedingungen zwingt, wird nicht nur ein Eingehen auf und Ausgleichen von sozialen wie individuellen Unterschieden strukturell unmöglich gemacht, sondern werden vorhandene Bevor- und Benachteiligungen weiter ausgebaut. Eben weil die Notenbewertung relativ ist, wundert es dabei wenig, dass sich leistungsstarke Schülerinnen und Schüler aus sozial „besseren“ Elternhäusern am oberen Ende der Notenskala wiederzufinden vermögen.
Ungerechte Urteile zur Legitimation einer ungerechten Welt
Dieser sozial-selektiven Wirkungsmechanismen wird sich jedoch kaum ein Schüler oder eine Schülerin jemals bewusst. Das liegt vor allem daran, dass man dieses System fast unmöglich zu durchschauen vermag, hat es sich doch hinter dem Mythos der „Leistungs- und Chancengerechtigkeit“ (1) perfekt getarnt in Deckung gebracht.
Werden schließlich die Zeugnisse verteilt, welche ein gesellschaftlich gültiges Urteil über die „geistige Gesamtperson“ der Absolvierenden zu fällen vorgeben, kommen diese gar nicht umhin, dies als gültiges Urteil über sich selbst anzuerkennen.
Leider jedoch „handelt (es) sich (hierbei) um einen geistig verfertigten Selbstbetrug, der sich das Zurechtkommen mit Zwängen als selbstgesetzte Absicht des eigenen Willens und die Grade des Zurechtkommens als unterschiedlich gelungene Willensleistung erklärt. ,Jeder ist seines Glückes Schmied‘ ist ja gerade eine Lehre, die der Schüler nicht nur für sein Schülerdasein anwenden soll und anwendet, sondern eine Lehre fürs Leben: Egal, wie schlecht es einen trifft, ist Durchbeißen angesagt. Dass es einen getroffen hat, soll (...) (man) als eigenverschuldet akzeptieren, um dann doch noch alles zu geben, damit man am Ende als Gewinner dasteht“ (6).
Tatsächlich also sollte, wer in der Ausbildungs- und Berufswelt scheitert, nicht zuerst den Rückschluss auf sein eigenes — persönliches, „verdientes“ — Versagen ziehen. Eben weil es in der eingerichteten Konkurrenz stets und zwingend Verlierer gibt — ganz egal, wie sehr man sich verausgabt und angestrengt und welch gute Leistungen man wirklich erbracht hat. Und in massiver Abhängigkeit davon, wie reich und vermeintlich gebildet die eigenen Eltern waren oder sind.
Es ist Zeit, dieser „Untertanenfabrik“ den Kampf anzusagen, denn ohne andere Schulen wird eines immer unerreichbar sein: eine wirklich menschlichere, bessere, humanere Welt!
Freerk Huisken: „Ausbildung im Kapitalismus: Macht die Schule dumm?“
Redaktionelle Anmerkung: Es handelt sich um einen überarbeiteten Artikel, der zuerst im Jahr 2006 im Magazin „Studis Online“ erschien. Die PISA-Daten wurden nicht aktualisiert und sind daher nicht mehr aktuell. Nicht nur aber auch, weil inzwischen längst davon auszugehen ist, dass PISA selbst vermeintliche Gerechtigkeit misst, wo grassierende Ungerechtigkeit herrscht. Zur PISA-Kritik siehe beispielsweise diese Artikel hier, hier und hier.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Michael Hartmann: „Der Mythos von den Leistungseliten“
(2) Jens Wernicke: „Die ‚PISA-Studie‘: Was sich dahinter verbirgt“
(3) AG Wissenschaftliche Kritik des AStA der Universität Bremen: „Lernen unter dem Diktat der Note“, Seite 6
(4) ebenda, S. 7
(5) ebenda, S. 9
(6) ebenda, S. 11
(7) Ulrike Behrens: „Lernen statt Begabung: Vorschläge zu einer neuen Herangehensweise an das Problem individuell unterschiedlicher Leistungen“; in: Jens Wernicke/Michael Brodowski/Rita Herwig (Hrsg.): „Denkanstöße. Wider die neoliberale Zurichtung von Bildung, Hochschule und Wissenschaft“
(8) Freerk Huisken: „Erziehung im Kapitalismus. Von den Grundlügen der Pädagogik und dem unbestreitbaren Nutzen der bürgerlichen Lehranstalten“
(9) Ivan Illich: „Entschuldung der Gesellschaft. Entwurf eines demokratischen Bildungssystems“
Weiterführende Literatur:
- Jens Wernicke et al.: „Proben für den großen Krach. Handbuch zur studentischen Protestorganisation“
- Jens Wernicke: „Hochschule im historischen Prozess. Zum Verhältnis von Universitätsentwicklung, Klassengesellschaft und Macht“
- Karlheinz Ingenkamp: „Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung“
- Freerk Huisken (Podcast): „Notengebung: Jeder kritisiert sie, keiner will sie abschaffen!“
- Jürgen Oelkers: „Leistungsbeurteilung als Problem und Chance der Schulentwicklung“
- Schulstreik Bremen: „Lernen unter dem Diktat der Note“
- Gegenstandpunkt (Podcast): „Lernen unter dem Diktat der Note“
- Wissenschaftskritik: „Noten – schulpädagogisch bedacht“
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