Was sind überhaupt Daten und wie kommen sie zustande ? Daten sind mehr als Information, denn sie existieren nur, wenn diese Informationen in digitale Bestandteile zerlegt und gespeichert wurden. Insofern sind Daten eigentlich weniger als Information, denn die Zerlegung in ihre Bestandteile löst die Information aus ihrem Zusammenhang. Es geht bei der Generierung von Daten also um die Zurichtung von Information, um diese überhaupt speicherbar und verarbeitbar zu machen. Durch ihre Zusammenführung kann zwar Komplexität erlangt werden, allerdings nicht der Kontext. Die enthaltene Information ist im Zuge der Datenverarbeitung eine Ware geworden. Wer über sie verfügt, kann sie definieren, also ihre Bedeutung festlegen, und sie in seinem Interesse nutzen.
Computer und elektronische Datenverarbeitung sind dafür nicht unbedingt erforderlich. Moderne Staaten, Organisationen und Unternehmen haben die für sie relevanten Daten auch schon vor der Digitalisierung gesammelt und für ihre Zwecke benutzt. Erhebungsbögen, Statistiken, Personalakten, Geschäftsbücher dienten als Datenspeicher und wurden rechnerisch ausgewertet. Sofern sie erhalten sind, stehen sie auch heute in Papierform in Archiven zur Verfügung.
Im Weiteren stehen die digitalen Daten im Computerzeitalter zur Debatte. Sie fallen überall an, wo Menschen in digitalen Anwendungen ihre Spuren hinterlassen. Also nicht nur dort, wo explizit und ad personam Informationen erhoben werden, ohne die die Teilnahme beziehungsweise die Dienstleistung nicht zugänglich ist, wie bei Behörden, Versicherungen, Bestellungen, Banktransaktionen, Gesundheitseinrichtungen, Gerichts- und Notariatsangelegenheiten, Verlassenschaften und vieles andere mehr, sondern auch bei jenen digitalen Anwendungen, wo vordergründig niemand an persönlichen Daten interessiert zu sein scheint.
Das betrifft die Spuren der Kommunikation und Bearbeitung, die Menschen bei ihren Arbeitsprozessen ebenso hinterlassen wie im privaten und im öffentlichen Bereich. Der Click auf die Taste des Computers symbolisiert den Akt der Datenablieferung, auch wenn sich die User (die menschlichen Akteure an den Tastaturen anglifizieren sich in diesem Moment zu Usern) dessen nicht bewusst sind : Der Click bei der Suche im Internet, bei der Auskunft, beim Online-Kauf, bei der digitalen Bezahlung, beim Computerspiel, beim Mailverkehr, beim Chat, beim Eintritt in die Welt der „Social Media“ oder beim Zutritt zu Online-Veranstaltungen aller Art.
Die Daten werden bereitwillig zur Verfügung gestellt, sofern man etwas als bereit- beziehungsweise freiwillig bezeichnen kann, zu dem es in vielen Fällen keine Alternative gibt, wenn man am sozialen Leben teilnehmen will. Wer stimmt nicht der Verwendung von Cookies bereitwillig zu, um rasch zum Suchergebnis zu gelangen ? Vielfach machen es die Menschen jedoch gerne, genießen die Möglichkeiten der einfachen Interaktion und Kommunikation oder finden es einfach selbstverständlich und denken sich nichts weiter dabei.
Zum Zwang wird die Datenablieferung erst dann, wenn alternative Formen der Transaktion nicht mehr erlaubt sind, etwa wenn Bargeldzahlung durch verpflichtende bargeldlose Online-Überweisung verunmöglicht wird oder Fahrkarten sowie gebührenpflichtiges Parken nur mit dem Mobiltelefon bezahlt werden können.
Der Wirtschaftsjournalist Norbert Häring hat sein im deutschen Grundgesetz verbrieftes Recht, die Rundfunkgebühren mit Bargeld zu bezahlen, in den Jahren 2015 bis 2022 bis zum Europäischen Gerichtshof verteidigt. Er wurde mit dem Spruch beschieden, dass dieses Recht nur dann gelte, wenn er beweisen könne, dass er kein Bankkonto besitze und kein Bankinstitut bereit wäre, ihm ein Konto zu eröffnen (1).
Er darf seine Gebühr also nicht bar bezahlen. Häring misst den Maßnahmen, die das bargeldlose Zahlen zuerst zur Gewohnheit und dann zur Norm zu machen, der sich nur mehr deviante Personen entziehen können, eine Schrittmacherrolle hin zur Abschaffung des Bargelds zu (2). Damit wäre im Zahlungsverkehr der Punkt der absoluten Transparenz erreicht, mit der die Bank, und wer aller sonst auf ihre Daten zugreifen kann, totale Einsicht in Konsum-, Bewegungs- und Beziehungsprofile des Kunden beziehungsweise Bürgers erlangen würde : eine Vollverdatung von Geld und Handel mit Auswirkungen auf alle Felder, die in einer kommerzialisierten Gesellschaft mit Bezahlung verbunden sind. Dass Kriminalität damit nicht verhinderbar wäre, zeigt die bereits heute sichtbare Zunahme von digitalem Missbrauch und Datendiebstahl. Eher ist das Gegenteil der Fall.
Rekapitulieren wir mithilfe der US-amerikanischen Ökonomin Shoshana Zuboff den Aufstieg der Datenwirtschaft und die Veränderung, die Daten im Zuge ihres Höhenflugs erleben (3). Zunächst sind digital speicherbare Daten notwendig, um Rechenprozesse, die die Digitalisierung von Steuerungsprozessen ermöglichen, überhaupt durchführen zu können. Die massenhafte Verfügbarkeit von Nutzerdaten wird erst mit der Popularisierung des Internets in den 1990er-Jahren und in weit größerem Ausmaß mit der Verbreitung des Smartphones relevant, einem Mobiltelefon mit umfangreichen Computer- und Internetfunktionen. Der Begriff wurde erstmals 1999 vom schwedischen Mobiltelefonhersteller Ericsson geprägt, für die Verbreitung sorgte das iPhone von Apple ab 2007 (4).
Sammlung, Auswertung und Zusammenführung von Nutzerdaten sind also unmittelbar mit der Gründung der neuen digitalen Kommunikationsunternehmen verbunden, allen voran dem PC- und Smartphone-Hersteller Apple, der Suchmaschine Google, dem Online-Händler Amazon, dem Bezahldienst PayPal, den Kommunikationsdiensten Facebook, Twitter und Instagram sowie dem älteren Technologie-Unternehmen Microsoft (gegründet 1974), das verspätet ins Datenbusiness einstieg. Die Unternehmensphilosophien zum Gründungszeitpunkt lauteten vollmundig : horizontale Vernetzung, keine Hierarchien, kein Kommerz, keine Werbefinanzierung, reine Information und Kommunikation (5).
Die von den Usern bereitgestellten Daten seien ausschließlich dazu bestimmt, die Ergebnisse der Suchanfragen und Aufgabenstellungen durch höhere Auswahl und bessere Verknüpfungsmöglichkeit zu verbessern und sich auf diese Weise der immer perfekteren Abbildung der Welt zu nähern und die Nutzer in ihr zu orientieren. Als ideologische Bekenntnisse dienten die Magna Charta for the Knowledge Age aus dem Jahr 1994 (6) oder die Declaration of the Independence of Cyberspace, die John Perry Barlow, einer der Gründer der Electronic Frontier Foundation, am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos 1996 verkündete. In den Manifesten wurde das Internet als dezentrales, selbstreguliertes Medium jenseits staatlicher Vorgaben vorgestellt.
„Regierungen der Industriellen Welt, ihr müden Riesen aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, dem neuen Zuhause des Geistes. Als Vertreter der Zukunft bitte ich euch aus der Vergangenheit, uns in Ruhe zu lassen. Ihr seid nicht willkommen unter uns. Ihr habt keine Souveränität, wo wir uns versammeln. (…) Wir erschaffen eine Welt, die alle betreten können ohne Bevorzugung oder Vorurteil bezüglich Rasse, Wohlstand, militärischer Macht und Herkunft. (…) Wir erschaffen eine Welt, in der jeder Einzelne an jedem Ort seine oder ihre Überzeugungen ausdrücken darf, wie individuell sie auch sind, ohne Angst davor, im Schweigen der Konformität aufgehen zu müssen“ (7).
Diese Mischung aus Antiautoritarismus und libertärem Geist, Anti-Etatismus und Vertrauen in die regulierende Kraft des Marktes vermischte sich in den 1990er-Jahren in den digitalen Werkstätten in und um die kalifornischen Universitäten zu einer Aufbruchstimmung, die ― nicht nur dort ― als Silicon-Valley-Ideologie firmiert (8). Nehmen wir an, es habe sich um hehre Absichten der jungen Gründer gehandelt. Sehr rasch sind diese Ansprüche auf der Strecke geblieben. Sie haben den Erwartungen der Risikokapitalinvestoren, die die Informations- und Kommunikationsbranche als vielversprechende Anlagesphäre erkannten, nicht standgehalten. Der techno-libertären Philosophie, die die ersten Manifeste inspirierte, sind die IT-Unternehmen im Zuge ihrer beeindruckenden Börsenkapitalisierung jedoch treu geblieben. Sie sind einfach den Erfordernissen der Kapitalverwertung gefolgt.
Ein zentraler Grund für den Sinneswandel, der genau genommen gar keiner ist, ist der Wachstumszwang : Im Geschäftsfeld Kommunikation und Information erfordert das immer mehr User, immer mehr Daten, immer mehr Transaktionen, immer größere Aufgabenstellungen.
So wie ein Seidenräupchen mit jedem Tag eine größere Menge an Maulbeerbaumblättern zum Wachstum benötigt und die Landwirte zur Ausdehnung der Baumkulturen zwingt, müssen den Algorithmen des Internets täglich mehr Daten zum Fraß vorgeworfen werden. An diesem Punkt kommt es zu jenem Phänomen, das Zuboff als „Verhaltensüberschuss“ bezeichnet (9). Jeder Click bringt dem Betreiber der Plattform Daten, die Auskünfte über die Wünsche und Begierden, das Konsum- und Kommunikationsverhalten der Nutzer bereitstellt, kurzum : Verhaltensdaten, in Daten kondensierte Erfahrung. Diese werden weiterhin zur Verbesserung der Qualität von Suche und Information eingesetzt. Sie werden durch den Einbau von Mikroprozessoren in Alltagsgegenstände und Messgeräte auch zur effizienten Nutzung von Ressourcen verwendet.
Die Daten liefern jedoch mehr als das, was notwendig ist, um Suche oder Effizienz zu verbessern. Sie werden vom Betreiber angeeignet, verarbeitet, verknüpft, vermarktet und verwandeln sich damit von einem Betriebsmittel zu einer Ware. Durch den Verkauf der Ware Daten an Werbekunden wird die Nutzung des Verhaltensüberschusses für deren Unternehmenszwecke möglich. Als User erleben wir, wie bei der Suche die Angebote von Unternehmen (Werbung) am Bildschirm aufpoppen, die durch den Kauf der Ergebnisse früherer Suchanfragen von unseren Wünschen erfahren haben. Befinden wir uns im Kaufhaus auf der Suche nach einem bestimmten Produkt, kann dieser Wunsch mithilfe einer Einkaufsapp, die unter Umständen auch den Bezahlvorgang durch Abbuchung ersetzt, zu direkten Angeboten führen.
Die Nutzung der Verhaltensdaten geht jedoch weiter als das Platzieren von Werbeankündigungen auf den mobilen Endgeräten. Die Daten eignen sich auch für Vorhersage und Planung. Das nach Nutzergruppen geordnete Wissen um Wünsche, Sorgen und Konsumverhalten bildet die Grundlage für die Anpassung alter und die Entwicklung neuer Produkte an die Kundenwünsche, bis hin zur Entwicklung neuer Begierden, für die Befriedigung angeboten wird. Die Grenze zwischen den Begierden (Wants) und den Bedürfnissen (Needs) ist wie schon bisher üblich durchlässig (10).
Bessere Nutzerdaten sind möglicherweise tatsächlich geeignet, zum Beispiel die Effizienz von Stromverbrauch steigern. Wenn die Daten jedoch gleichzeitig der Schaffung neuer Produktbereiche dienen, geht es nicht mehr darum, Wachstum zu verringern, sondern das Wachstum in neue Sektoren zu verlagern. In einem nächsten Schritt kann im Zusammenhang mit Bewertungs- und Kontrollverfahren, die wünschenswertes (Konsum-)Verhalten belohnen und unerwünschtes Verhalten sanktionieren, Verhalten modifiziert werden.
Anstelle von Zwang, wie dies bisher in totalitären Systemen üblich ist, werden mit dem Überwachungskapitalismus Daten zu Instrumenten der Macht, die das menschliche Verhalten anleiten, wie dies zum Beispiel unter dem Banner von Sozialkreditsystemen bereits getestet wird (11).
Der Verkauf der Ware Daten schafft sowohl beim Verkäufer, der Kommunikationsplattform, als auch beim Käufer, dem Werbekunden, Wert, vulgo Profit. Der Schöpfer der Daten, die Lieferantin, hingegen geht leer aus. Mit dem Verhaltensüberschuss wurde ihr Verhalten, ihr Wissen, ihre Vorlieben, ihre Erfahrung enteignet und im Zuge der Vermarktung der Nutzung durch Dritte überantwortet.
(…)
Shoshana Zuboff zeigt in ihrem Buch „Überwachungskapitalismus“ nachdrücklich und detailreich auf, wie sich das Befreiungsversprechen der Internetunternehmen binnen kürzester Zeit in ein neues Geschäftsmodell verwandelt hat. Zum Beispiel die Internet-Suchmaschine Google (12): Gegründet 1998 von zwei Studierenden der kalifornischen Stanford-Universität, Larry Page und Sergey Brin, mit dem hehren Anspruch, der von ihnen entwickelte Page-Rank-Algorithmus diene einem reflexiven Lern- und Verbesserungsprozess der Suche, einem Verhaltens-Reinvestitionszyklus zum allseitigen Nutzen. Die Phase 2 von Google setzte mit dem Platzen der Dotcom-Blase im April 2000 ein. Google ging dazu über, den Verhaltensüberschuss seiner User an Werbekunden zu verkaufen. Dies markierte den Beginn der Click-Ökonomie : Der Preis der Daten richtete sich nach der Häufigkeit des Angeclicktwerdens der Werbungen neben den Suchergebnissen. Dabei entstand eine neue Terminologie :
AdWords: Das Schlüsselwort des Werbekunden erscheint bei der entsprechenden Suche
Matching: Übersetzung einer Suchanfrage in eine Werbeanzeige
User Profile Information: Datensätze, die die Treffsicherheit der Vorhersagen erhöhen
AdSense : Erweiterung der zielgerichteten Werbung über Googles Suchseiten hinaus auf das gesamte Internet
Der Nachschub an Daten wurde zum entscheidenden Antrieb. Die Nachfrage erzeugte einen „Extraktionsimperativ“ und begleitete die Kehrtwende vom Dienst am Nutzer zu seiner Überwachung. Hal R. Varian, seit 2002 Chefökonom bei Google und als „Adam Smith der Googleeconomics“ gepriesen, stellte in seinen Schriften die entsprechende Legitimation für die Aneignung des Verhaltensüberschusses bereit (13).
Mit dem Börsengang 2004 startete Google Phase 3, die den spektakulären Durchbruch brachte. Die Aktien wurden nach Stimmrecht in zwei bis drei Klassen gestaffelt, weitere Geschäftsfelder erschlossen, Konkurrenten aufgekauft und das Modell der User-Datenverwertung von der gesamten Branche übernommen. Es entbrannte ein Wettbewerb um Daten, der das Unternehmen dazu trieb, weitere Felder der Extraktion zu erschließen, wie Text, Foto, Video, Telefon, E-Mail, Geolocation, Streetview, Playstore, soziale Netzwerk-Plattformen (Google Buzz) oder das Brillenformat (Google Glass), das die Hände für andere Operationen freihält. Die Konkurrenten Apple, Facebook oder Microsoft agierten ebenso, und auch Telekommunikations- und Kabelunternehmen wie Verizon, AT&T, AOL oder Yahoo gingen zur Monetarisierung des Verhaltensüberschusses über (14).
Verizon und AT&T etwa ordneten 2014 jedem Nutzer eine nicht-löschbare Tracking-ID zu, um dessen Verhalten dauerhaft verfolgen zu können ― eine Entwicklung, die in der Telekom-Branche zum Standard wurde. Die Konkurrenz hatte gegenseitige Klagen zur Folge, dazu kamen die Einsprüche von Datenschutzorganisationen, Datenwissenschaftlern und Regierungen, den ungeregelten Zugriff Regularien zu unterwerfen. Da erwies sich das enge Bündnis zwischen Google und US-Regierungsinstitutionen als nützlich. Google kooperierte nach 9/11 mit NSA und CIA. „Die CIA muss im Valley (gemeint ist : Silicon Valley) mitschwimmen“, postulierte ihr Direktor George Tenet bereits 1997 und eröffnete dort selbst 1999 mit „In-Q-Tel“ ein von der CIA finanziertes Risikokapitalunternehmen (15).
Mit der Firma „Keyhole“ erwarb Google 2004 ein Unternehmen der In-Q-Tel-Gruppe der CIA, das auf Satellitenkartografie spezialisiert war und legte damit das Fundament von Google Earth, Google Maps und Google Streetview. Weitere Kooperationen folgten. Umgekehrt wurde Google mit der Entwicklung von Sicherheits- und Überwachungstechnologien für den Staat beauftragt, so 2006 für das „Pentagon-Highland-Forum“ oder für das „Defense Innovation Advisory Board“.
Zuboff arbeitet die enge personelle Involvierung von Google-Managern und Forschungsleitern in staatliche Institutionen und Programme heraus. Manager Eric Schmidt etwa war führend in den Wahlkampagnen für die US-Präsidentschaft von Barack Obama 2008 und 2012 involviert. Im Gegenzug lieferten die Regierungen einen gesetzlichen Rahmen, der die Konzerne, die sie selbst für ihre Agenden einspannten, vor dem Druck der Öffentlichkeit schützte. Dennoch war und ist jede Aktivität von ständigen, auch für die Unternehmen kostspieligen Gerichtsprozessen begleitet, die gelegentlich einen Rückzieher bewirken, in der Folge aber in der Regel eine Umgehungsstrategie und/oder neue Aufrüstung bewirken.
Die Erschließung neuer Zugriffe ist aus betriebswirtschaftlicher Perspektive nicht immer profitabel. Kleinere Start-up-Unternehmen, die keinen langen Atem haben, bleiben dabei oft auf der Strecke. Die Strategie beruht auf der Querfinanzierung riskanter Bereiche durch bereits erprobte Dienste. Langfristig lohnen sich die scheinbar unrentablen Geschäftsfelder jedoch vor allem dadurch, dass jeder neue Dienst die Nutzer immer weiter in die Welt des Internets hineinzieht. Dort hinterlassen sie die Clicks, die ― gesammelt ― zur Wertschöpfung beitragen (16).
Daten können demnach als die Rohstoffe des Überwachungskapitalismus angesehen werden.
Zuboff bezieht sich mit dieser Einschätzung auf den Ökonomen Karl Polanyi, der in seinem Klassiker „Die große Transformation“ (1944) drei große Bereiche herausstreicht, die im Kapitalismus der Marktdynamik unterworfen wurden : Natur verwandelt sich in Grundbesitz, Leben in Arbeitskraft und Austausch in Geld (17). Auf der privaten Aneignung und Kommodifizierung dieser drei Bereiche beruhe die von Karl Marx so genannte „ursprüngliche Akkumulation“, die spätere ÖkonomInnen nicht als einmaligen, sondern als stets unter neuen räumlichen und sachlichen Konstellationen wiederkehrenden Akt der Aneignung von Werten durch das Kapital begriffen (18). Zuboff fügt diesen drei Extraktions- und Aneignungsbereichen, die Polanyi als „Warenfiktionen“ bezeichnet, einen vierten Bereich hinzu, der in der Click-Ökonomie des Plattform-Kapitalismus entstanden ist : Die menschliche Erfahrung, die über den Mechanismus des Überwachungskapitalismus als Verhalten wiedergeboren wird.
„Dieses Verhalten wird zu Daten, die ihren Platz in der endlosen Schlange von Daten einnehmen, mit denen man die Maschine füttert, um daraus Vorhersagen zu fabrizieren, die schließlich auf den Verhaltenskontraktmärkten gehandelt werden“ (19).
Die von Google selbst aufgestellten sechs Deklarationen verdeutlichen den Stellenwert, den ihre Erfinder den Daten beigemessen haben, hier die beiden ersten, von Shoshana Zuboff auf den Punkt gebracht :
„1. Wir beanspruchen menschliche Erfahrung als herrenlosen Rohstoff. Auf Basis dieses Anspruchs können wir Rechte, Interessen, Kenntnisnahmen und Verständnis der Betroffenen ignorieren.
2. Auf der Basis unseres Anspruchs bestehen wir auf das Recht, die Erfahrung des Einzelnen in Verhaltensdaten umzuwandeln“ (20).
Theoretisch hat die Konzeption von Daten als Rohstoff weitreichende Folgen. Um welche Art von Rohstoff handelt es sich bei Daten und wie unterscheiden sie sich von Rohstoffen, die aus der Natur gewonnen werden ? Gemeinsam ist Daten und mineralischen, land- oder forstwirtschaftlichen Ressourcen die Verwandlung in Waren, die Aneignung durch einen Unternehmer zum Zwecke ihres Einsatzes als Produktionsmittel beziehungsweise zum Verkauf. Natürliche Ressourcen werden kostenlos der Natur entnommen und Verhaltensdaten sind ein Nebenprodukt der Informationsindustrie. Sowohl bei Daten als auch bei Ressourcen fallen jedoch Kosten an, um diese zu erschließen : bei der Förderung von Ressourcen im Bergbau, in der Feld-, Vieh- und Waldwirtschaft, bei der Generierung von Daten durch die Finanzierung der Dienste, bei deren Nutzung Verhaltensdaten entstehen. Bei den natürlichen Ressourcen spielt das Eigentum am Berg und seinen Schätzen, am Jagdwild sowie am Boden und seinen Früchten eine Rolle, die bereits zu Beginn der Güterkette Marktwerte schafft.
In diesem Punkt unterscheiden sich Nutzerdaten von natürlichen Rohstoffen : Sie entstehen absichtslos im Zuge der Internetnutzung und werden von ihren Trägern nicht zu Markte getragen. Es gibt keinen Tausch von Nutzerdaten gegen digitale Dienstleistungen. Das mitunter vorgebrachte Argument, diese Erfahrungsdaten werden dem Menschen in ähnlicher Weise entnommen wie Rohstoffe der Natur, wird dem spezifischen Verhältnis der NutzerInnen zu den digitalen Verrichtungen nicht gerecht. Die Daten verwandeln sich erst dann in Waren, nachdem sie von den Plattformen als Verhaltensüberschuss abgeschöpft und ― zu vermarktbaren Paketen aufbereitet ― an Werbekunden verkauft wurden. Während ein Bodenbesitzer für den Verkauf von Mineralien und Agrargütern einen Gegenwert erhält (es handelt sich um die Bodenrente), gibt es für die abgeschöpften Daten keinen Gegenwert.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Häring Norbert, Bundesverwaltungsgericht : Ausnahmsloses Bargeldverbot in Rundfunkbeitragssatzung ist rechtswidrig, 1. Mai 2022 : https://norberthaering.de/bargeld-widerstand/bverwg2/; aufgerufen am 19. Juli 2022.
(2) Häring Norbert (2018) : Schönes neues Geld. PayPal, WeChat, Amazon Go ― Uns droht die totale Kontrolle. Frankfurt/Main.
(3) Zuboff 2018, Seite 116 bis 121.
(4) https://de.wikipedia.org/wiki/Smartphone, aufgerufen: 18. Juli 2022.
(5) Zuboff 2018, Seite 90.
(6) Dyson Esther/Gilder George/Keyworth George/Toffler Alvin (1994) : Cyberspace and the American Dream : A Magna Carta for the Knowledge Age : http://www.pff.org/issues-pubs/futureinsights/fi1.2magnacarta.html, aufgerufen: 20. Juli 2022.
(7) Barlow John Perry, Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace, Telepolis, 29. Februar 1996 : https://www.heise.de/tp/features/Unabhaengigkeitserklaerung-des-Cyberspace-3410887.html, aufgerufen: 20. Juli 2022.
(8) Barbrook Richard/Cameron Andy (1996) : The Californian Ideology, in : Science as Culture 6/1, Seite 44 bis 72, Deutsch : Die kalifornische Ideologie, Telepolis, 5. Februar 1997 : https://www.heise.de/tp/features/Die-kalifornische-Ideologie-3229213.html, aufgerufen: 10. August 2022.
(9) Zuboff 2018, Seite 121.
(10) Skidelsky Robert/ Skidelsky Edward (2013) : How much is enough ? Money and the Good Life. London : 25.
(11) https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialkredit-System, aufgerufen: 18. Juli 2022.
(12) Zuboff 2018, Seite 85 bis 116 ; vergleiche auch Levy Steven (2012) : Google Inside. Wie Google denkt, arbeitet und unser Leben verändert. Heidelberg ; Schmidt Eric/Cohen Jared (2013) : Die Vernetzung der Welt. Ein Blick in unsere Zukunft. Hamburg.
(13) Zuboff 2018, Seite 210 folgende.
(14) Zuboff 2018, Seite 195 bis 200.
(15) Zuboff 2018, Seite 141 bis 145.
(16) Srnicek 2018, Seite 46.
(17) Polanyi Karl (2019) : The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt/Main ; vergleiche auch Zuboff 2018, Seite 124.
(18) Komlosy 2015, Seite 77 bis 84.
(19) Zuboff 2018, Seite 125.
(20) Zuboff 2018, Seite 210 ; vergleiche auch Schmidt/Cohen 2013, Seite 9 folgende.
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