Bei näherer Betrachtung des Prinzips, kurz R2P genannt, stellen sich jedoch Fragen, die zwar nicht das Prinzip als solches in Frage stellen, sondern die Probleme, die bei dessen Umsetzung auftreten, für diskussionswürdig halten. Diese Probleme beziehungsweise Fragen sind unter anderem folgende:
Erstens: Welche staatliche oder internationale Instanz ist angemessen unparteilich, um zu beurteilen, wann die Umsetzung des Prinzips R2P gerechtfertigt ist? Schon ein kurzer Überblick über die Kandidaten zeigt, dass nur wenige und überwiegend kleinere Staaten das Vertrauen der Weltgemeinschaft verdienen, unparteiisch und uneigennützig im internationalen Bereich zu handeln. Diese sind aber nicht in der Lage, wirksam in das internationale Geschehen einzugreifen.
Zweitens: Der Versuch, das Prinzip R2P in einen normativen Rahmen einzubetten, zum Beispiel dessen Umsetzung ausschließlich zum Schutz auf die vier Kategorien Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und ethnische Säuberung zu begrenzen, muss schon im Ansatz scheitern. Um festzustellen, dass bestimmte Handlungen das Ausmaß dieser Kategorien annehmen, genügen keine Mutmaßungen, sondern es bedarf einer unabhängigen Untersuchung, die typischerweise nicht stattfindet oder stattfinden kann. Zahlreiche Beispiele in der Vergangenheit zeigen, wie oft Gräueltaten erfunden wurden, um Eingriffe zu rechtfertigen. Bis heute haben politische Instanzen wie der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UNO) es abgelehnt, sich auf unabhängige Urteile wie solche des Internationalen Gerichtshofes zu verlassen. Der UN-Sicherheitsrat beharrt darauf, selbst die Fakten zu bestimmen. Entscheidungen des UN-Sicherheitsrates sind aber politisch und nicht empirisch begründet. Der UN-Sicherheitsrat ist auch wegen seiner systemimmanenten Eigenschaften zu einer objektiven Feststellung von politischen Vorgängen ungeeignet.
Fehlende Unterschriften bezüglich der Konvention und des Zusatzprotokolls
Darüber hinaus gibt es weitere Gründe, die die Vermutung nahelegen, dass die Verbreitung dieses Prinzips nicht auf unanfechtbaren Motiven beruht. In erster Linie sollte man wissen, dass die USA bis heute nicht einmal die Amerikanische Konvention über Menschenrechte vom 22. November 1969 (AMRK), die sich auf die Staaten Nord- und Südamerikas bezieht, unterzeichnet haben und auch nicht die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofes anerkennen. Wie kann ein Staat damit beauftragt werden, die Menschenrechte fremder Staatsbürger zu schützen, der noch nicht einmal den Schutz der Menschenrechte seiner eigenen Staatsbürger gewährleistet?
Die europäischen Staaten erkennen zwar die Rechte und Pflichten, die sich aus der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK) ergeben, gegenüber ihren eigenen Staatsbürgern an. Bei der Umsetzung dieser und anderer Konventionen tun sich jedoch erhebliche Lücken auf. Diese treten besonders eklatant bei Auslandseinsätzen der europäischen Staaten im Bereich der Menschenrechte auf und stellen ihre Glaubwürdigkeit in Frage. Im Fall Bankovic zum Beispiel hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein Urteil gefällt, dass europäische Staaten nicht gezwungen sind, die Menschenrechte außerhalb ihres Hoheitsgebietes, beispielsweise bei Militäreinsätzen, zu respektieren. Die zivilen Opfer von Bombenangriffen durch europäische Staaten wie im ehemaligen Jugoslawien oder in Afghanistan haben daher keinen Anspruch auf Gehör vor dem Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg.
Europäischen Staaten ist es durch diese Rechtsprechung erlaubt, gegen Völker überall auf der Welt ungeniert nicht nur Menschenrechtsverletzungen zu begehen, sondern sie auch zu töten, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden. Zahlreiche europäische Staaten haben sich auch bis heute geweigert, die Verabschiedung des Zusatzprotokolls zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR) zu unterschreiben. Dieses Zusatzprotokoll würde Opfern weltweit die Gelegenheit eröffnen, auf der UN-Ebene ihre sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechte bei Verletzungen geltend zu machen. Bürger der „dritten Welt” könnten sich durch ein solches Zusatzprotokoll eine gerechtere Umsetzung ihres Rechtes auf Nahrung, Bildung, Gesundheit und Sozialleistungen erhoffen. Die Verweigerung, dieses Zusatzprotokoll zu bekräftigen, geht in erster Linie von mächtigen westlichen Staaten aus. Sie ist vermutlich eng mit den wirtschaftlichen Interessen westlicher Konzerne verknüpft. Dieses Verhalten zeigt, dass diese Staaten sich nicht für die Menschenrechte einsetzen wollen, die ihren Interessen und denen der mit ihnen kooperierenden reichen Eliten widersprechen könnten.
Darüber hinaus ist das Prinzip R2P auch unvereinbar mit der bekannten Hierarchie von Menschenrechten. Die erste Ebene des Menschenrechtsschutzes ist die Verpflichtung aller Staaten, bestimmte Menschenrechte unter keinen Umständen zu verletzen. Diese sogenannte negative Verpflichtung beinhaltet zum Beispiel das Folterverbot, das Verbot des Völkermordes, Sklavenhandel und außergesetzliche Tötung. Diese Verbote werden auch als ius cogens bezeichnet, das heißt, es handelt sich um Normen, die weder Abweichungen noch Ausnahmen zulassen. Die nächste Ebene beinhaltet eine lange Reihe von negativen Menschenrechten, die zwar nicht dem ius cogens zugeschrieben werden, dennoch nur in besonderen Ausnahmefällen außer Kraft gesetzt werden dürfen; darunter fallen zahlreiche zivile und politische Rechte wie das Recht auf Meinungsfreiheit, das Recht auf Freizügigkeit und so weiter.
Eine dritte Ebene beinhaltet die positive Verpflichtung der Staaten, durch konkrete Maßnahmen bestimmte Rechte zu fördern. Dazu zählen die meisten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte. Staaten verpflichten sich, diese Rechte so weit wie möglich zu gewähren. Diese Verpflichtungen gelten nicht absolut, denn sie fordern von den Staaten erhebliche Ausgaben, die nicht von allen aufgebracht werden können. Die Staaten müssen nur glaubhaft machen, dass sie sich ehrlich für die Förderung dieser Rechte einsetzen. Die Verpflichtung der Staaten, ihren Bürgern Sicherheit zu gewährleisten, wie Polizeischutz, ist eine solche positive Verpflichtung, die aber nur bedingt – je nach finanzieller Möglichkeit eines Staates – erfüllt werden kann.
Die sogenannten negativen Menschenrechte
Bevor das Prinzip R2P im internationalen Bereich überhaupt in Erwägung gezogen werden kann, müsste die Staatengemeinschaft zumindest ihre Pflicht förmlich akzeptieren, die sogenannten negativen Menschenrechte nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb ihrer Grenzen nicht zu verletzen. Ein Vorschlag für eine internationale Anerkennung dieser Pflicht wurde vom Autor vorgelegt, ist aber bis heute ein Wunschtraum geblieben. Staaten, die sich nicht verpflichtet haben, die voraussehbaren Folgen ihrer Handlungen in Bezug auf Menschenrechte in anderen Ländern in Betracht zu ziehen und Opfern nicht das Recht auf Entschädigung ermöglichen, können auch nicht glaubhaft mit dem Schutz von Menschenrechten in anderen Ländern beauftragt werden oder diese Schutzfunktion sich selber zuschreiben.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die Menschheit solche schrecklichen Ereignisse, wie in Ruanda oder in Kamputschea geschehen, verhindern kann. Eine kurze Antwort könnte lauten, dass solche Ereignisse in einer dezentralen Weltordnung nicht völlig verhindert werden können. Solche Ereignisse könnte nur eine zentrale Weltregierung mit eigenen Streitkräften, sprich eine Weltdiktatur, verhindern. Eine solche Weltdiktatur würde aber gleichzeitig nicht nur über die politischen und militärischen Mittel verfügen, sondern durchaus auch die Motive besitzen, Völkermorde zu begehen beziehungsweise zu billigen.
Der UN-Sicherheitsrat hat schon einmal einen Vorgeschmack auf ein solches Verhalten geliefert, als er in den 1990er Jahren Wirtschaftssanktionen gegen den Irak verhängt hat, durch die 500.000 irakische Kinder ums Leben gekommen sind. Diese Tötung wurde selbstverständlich nicht mit dem Begriff „Völkermord“ belegt, sondern als die ungewollte Folge der Wirtschaftssanktionen bezeichnet. Die damalige Außenministerin der USA, Madeleine Albright, hat aber zugegeben, das Sterben der Kinder sei der Preis gewesen, mit welchem „wir uns abfinden müssten”. Im Strafrecht werden solche Mordtaten als „bedingter Vorsatz” bezeichnet. Man könnte sich daher durchaus vorstellen, dass eine Weltdiktatur für das „Wohl der Menschheit“ bestimmte Völker direkt oder indirekt vernichten könnte. Dafür würden Juristen schon „Argumente“ finden, wie die Geschichte lehrt.
Es gibt aber Möglichkeiten, das Risiko schrecklicher Ereignisse zu verringern, ohne dadurch die Souveränität von Nationen zu beeinträchtigen. Als ein erster Schritt müssten dafür die mächtigsten Nationen demokratisiert werden; auch müssten sie gegenüber den Völkern der Welt ihre Außenpolitik und ihre Tätigkeit in internationalen Gremien völlig transparent machen. Sie sollten sich unter allen Umständen verpflichten, sowohl in ihrer Innen- als auch Außenpolitik die Menschenrechte zu respektieren und nichts zu unternehmen, das voraussichtlich die Menschenrechte – auch im sozialen und wirtschaftlichen Bereich – beeinträchtigen würde; sie müssten sich verpflichten, keine Waffen zu exportieren und ihre Atomwaffen zu vernichten; und last but not least sollten sie ihre menschenverachtende Politik in der Vergangenheit – darunter Sklavenhandel, Ausbeutung der Bodenschätze Afrikas und Asiens, Unterstützung von Tyrannen sowie ihre todbringenden Wirtschaftsmaßnahmen – erkennen. Diese Maßnahmen würden die Gefahr von Völkermorden reduzieren und damit den Boden für imperialistische Abenteuer entziehen.
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