Der deutsche Journalist Ulrich Heyden lebt seit über dreißig Jahren in Moskau und hat die Ukraine, insbesondere die östlichen Gebiete im Donbass, seit Anfang 2014 mehrfach besucht und von der Situation der Menschen vor Ort berichtet.
In seinem neuen Buch „Der längste Krieg in Europa seit 1945“ präsentiert er eine lange Reihe lebensnaher Darstellungen, die einen ganz besonderen Rückblick auf die letzten Konfliktjahre ermöglichen. Heydens eigene Beiträge setzen ihren Schwerpunkt auf das Erleben und die Sichtweise jener Menschen, die am meisten von den Konflikten in der Ukraine betroffen waren und sind, den Bewohnern der selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk.
In klassischer journalistischer Manier vermittelt Heyden die jeweils aktuellen politischen Fakten und lässt verschiedene Interviewpartner mit ganz unterschiedlichen Ansichten und Erfahrungen zu Wort kommen.
Wie kaum anders zu erwarten, ergibt sich beim Lesen als Erstes die Erkenntnis: Die Sache ist komplex. Für einseitige Schuldzuweisungen ist hier kein Platz, das Geschehen lässt es einfach nicht zu.
Die Sammlung der journalistischen Beiträge aus acht Jahren ermöglicht dem Leser gerade durch ihre Abfolge einen aufschlussreichen Rückblick. Im ersten Kapitel werden wir zunächst mit dem Alltag eines Krieges konfrontiert, der seit 2014 im Donbass zur belastenden „Gewohnheit“ geworden ist. Einfache Menschen, Bewohner der Region, eine Journalistin, eine Lehrerin und andere berichten vom Leben unter den Artilleriebeschüssen der ukrainischen Armee. Menschen, auf die weder das Wort „Separatist“ oder gar „Terrorist“ zutrifft, die selbst kaum wissen, wie sie eigentlich in diesen Krieg geraten sind. Dass Artilleriefeuer auf zivile Einrichtungen nicht geeignet ist, um das Vertrauen in die neue Regierung in Kiew zu stärken, wird schnell nachvollziehbar.
Nach diesem ersten Eindruck nimmt uns Heyden mit auf eine Reise durch die letzten acht Jahre Konflikt im Donbass und macht mit Fakten und Umständen vertraut, die vielen Lesern neu sein dürften. In diesem Buch geht es einmal nicht um Spekulationen über lang gehegte geheime Nato-Pläne, ebenso wenig um vermeintlich historisch gewachsene russische Machtansprüche. Heyden verfolgt Monat um Monat und Jahr um Jahr die Entstehung und Aufrechterhaltung eines militärischen Konfliktes, dessen friedliche Lösung in immer weitere Ferne zu geraten schien.
Die meisten westlichen Medien haben sich bei der Bezeichnung der Regionen im Donbass für einen wertenden Begriff entschieden, es ist von „Separatistengebieten“ die Rede, an deren Spitze fast ausschließlich Russen stünden, die zudem vom russischen Geheimdienst gesteuert würden. Die Darstellungen legen nahe, die russische Armee sei in diese Gebiete einmarschiert und würde dort kriminelle russische Warlords unterstützen, die ihre Bevölkerung terrorisieren.
Schon im Vorwort schildert Heyden hier eine wesentliche Problematik: Deutschland hat seine Journalisten aus dem umkämpften Gebiet zurückgezogen. Der Journalist Heyden selbst war langjähriger Russland-Korrespondent für mehrere deutsche Tageszeitungen, die ihm alle 2014 die Zusammenarbeit kündigten.
Die offiziellen deutschen Medien beziehen ihre Nachrichten über die selbst ernannten Volksrepubliken aus Kiew, das heißt vom Pressezentrum einer Konfliktpartei. Für unabhängige Vorortberichte gibt es de facto eine Nachrichtensperre. Damit, so Heyden, hat sich Deutschland selbst in gewissem Sinne zur Kriegspartei gemacht.
Neutralität würde beinhalten, einen neutralen Beobachterstatus für alle Regionen der Ukraine zu wahren. Wie soll man friedliche Lösungen finden, wenn man sich objektiven Nachrichten und Informationen aus der Gegenseite verweigert?
Heydens Buch „Der längste Krieg in Europa seit 1945“ dokumentiert, indem er die Lage der Bewohner im Donbass schildert, auch gescheiterte Ansätze von Friedensbemühungen, worunter vor allem die einfachen Menschen vor Ort leiden.
Die Gründung der „Volksrepubliken Donezk und Lugansk“
Das Völkerrecht sieht keine eindeutige Rechtslage für Abspaltungsbestrebungen — sogenannte Sezessionen — vor, so viel haben wir aus den Erfahrungen des Kosovo und der Krim gelernt. Was eine wie auch immer definierte „internationale Gemeinschaft“ in einem Fall schnell billigt, weist sie im anderen strikt zurück. Generell könnte man wenigstens anerkennen: Wenn die Bevölkerung einer ganzen Region den Versuch einer solchen politisch schwierigen Abspaltung unternimmt, dann sollte das handfeste Gründe haben.
In den Interviews von Ulrich Heyden wird schnell klar, welche Hoffnungen die Bewohner der heutigen „Volksrepubliken Donezk und Lugansk“ mit den umstrittenen Gründungen verbanden.
Dass das Assoziierungsabkommen der Ukraine mit der Europäischen Union, das die neue Kiewer Regierung unterzeichnete, einen Riss durch die Ukraine ziehen würde, ist sicher oft genug beschrieben worden. Heyden erinnert daran, wie selbst ukrainische Schriftsteller klar formuliert haben, dass die russischsprachige Bevölkerung im Osten der Ukraine eine völlig andere Beziehung zum großen Nachbarn Russland hat als die westlich orientierten Ukrainer. Zum einen auf sprachlich-kulturellem aber vor allem auch auf wirtschaftlichem Gebiet. Eine Abwendung von Russland, sprachlich, kulturell, ökonomisch und vor allem auch militärisch, wie es das Assoziierungsabkommen für die Ukraine vorsah, mussten die Menschen im Donbass zwangsläufig als existenzielle Bedrohung wahrnehmen.
Das Vorbild Maidan hatte sie gelehrt, für ihre Interessen auf die Straße zu gehen und auch Verwaltungsgebäude zu besetzen. Doch während man in Kiew den Sieg der Demokratie feierte, kam die Antwort auf die Selbstbestimmungsbestrebungen der Menschen im Donbass mit Panzern.
Zu den beeindruckendsten Schilderungen im Buch gehört eine Geschichte darüber, wie es anfangs gelang, den gewaltsamen Bruderzwist abzuwenden. Die Soldaten in den Panzern wurden mit Piroggen und Gurken empfangen und so der Abbruch einer militärischen Intervention erreicht.
Dass die neue Kiewer Regierung sich der Gewaltbereitschaft ukrainischer Nationalisten bediente, um den angestrebten militärischen Kurs dennoch weiterzuführen, haben deutsche Medien vielfach dementiert. Entsprechende Augenzeugenberichte, Bilder, Videos und sogar die „stolzen“ Selbstbekenntnisse der radikalen Einheiten lassen sich jedoch nicht mehr widerlegen.
Angesichts der eskalierenden Gewalt sollten die schnellen Gründungen der beiden Volksrepubliken eine friedliche Lösung des Konfliktes vorbereiten. So schilderten es dem deutschen Journalisten Heyden glaubhaft mehrere und ganz unterschiedliche Zeitzeugen.
Ähnlich der Separierung der Slowakei von Tschechien, bei der bekanntlich kein einziger Gewehrschuss gefallen ist, erhoffte man sich eine friedliche Abtrennung der vorwiegend russisch orientierten Ostukraine vom westlich orientierten Landesteil.
Die Volksabstimmungen zur Gründung der Volksrepubliken sowie die regelmäßigen Präsidentschaftswahlen zeigen, dass eine überwältigende Mehrheit (zwischen 80 und 90 Prozent) für die Existenz der eigenständigen Republiken war, dennoch werden sie nicht anerkannt.
Selbst wenn nach Jahren bewaffneter Auseinandersetzungen sowohl Zeitzeugen als auch Außenstehende es für ausgeschlossen halten, dass die Bevölkerung der Ostukraine jemals wieder zu einem Vertrauen in die Kiewer Regierung fähig sein könnte, lehnen EU und Nato die Anerkennung der Volksrepubliken kategorisch ab.
Dabei dokumentieren die Beiträge von Heyden eindeutig, dass diese Wahlen nicht unter Zwang, dafür aber unter akzeptabler ausländischer Kontrolle und Beobachtung standen.
In den Interviews, die Heyden mit Bewohnern der beiden Volksrepubliken gemacht hat, wird vor allem eine Frage überdeutlich: Wieso weigern sich die demokratischen Staaten, den Mehrheitswillen der lokalen Bevölkerung zu akzeptieren? Wieso nehmen sie diesen Weg für eine friedliche Lösung nicht an?
Die Abkommen Minsk-1 und Minsk-2
Einige Interviewpartner sprechen in diesem Buch von einem „rätselhaften“ Krieg und tatsächlich tun sich beim Lesen der Beiträge immer mehr Rätsel auf. Zum Beispiel fragt man sich, warum sich westliche Staaten und die ukrainische Regierung notorisch weigerten, mit Vertretern der Volksrepubliken zu sprechen, dafür aber die russische Regierung für die gesamte innerukrainische Entwicklung verantwortlich machten.
Obwohl ein regulärer Einmarsch der russischen Armee in die Gebiete der „Volksrepubliken“ nie bewiesen werden konnte, werden ausschließlich Vertreter Russlands zu Gesprächen akzeptiert, namentlich der russische Präsident Wladimir Putin und Außenminister Sergej Lawrow. Es scheint fast, als wäre den Vertretern der westlichen Länder von Anfang an klar gewesen, dass in der Ukraine „nur“ ein Stellvertreterkrieg stattfindet, in den die Nato bereits involviert war, was die nachgewiesene Beteiligung westlicher Militärs und bereitwillige Waffenlieferungen ja auch bestätigen.
Die Abkommen von Minsk und Gespräche im „Normandieformat“ sollten nach friedlichen Lösungen suchen. Heydens Buch erinnert an die vielversprechenden Ansätze, die vor allem von den Vertretern Deutschlands, Steinmeier und Merkel, mit Putin und Lawrow gefunden wurden. Er dokumentiert allerdings auch die offensichtliche Nicht-Verbindlichkeit der Vereinbarungen von Minsk. Seine Beiträge können glaubhaft vermitteln, dass sich die Kiewer Regierung nach solchen Vereinbarungen militärisch zwar zurückhielt, das Waffenstillstandsabkommen aber fortwährend verletzte und sich dem angestrebten Dialog mit Vertretern der Volksrepubliken verweigerte.
Besonders unklar bleibt, warum der Beschuss von Schulen, Kindergärten und Krankenhäusern notwendig gewesen sein sollte, um ukrainische Sicherheitsinteressen zu wahren. Ebenso rätselhaft bleibt, warum die deutschen Politiker immer wieder ignorierten, dass die Kiewer Regierung das paramilitärische Treiben bekennender Neonazis und Rechtsextremer im Osten der Ukraine zuließ. Man fragt sich: Wie ist das mit den Werten eines Deutschlands vereinbar, das im eigenen Land doch so aktiv jeden Ansatz rechtsextremen Gedankengutes zu verfolgen scheint?
Der Einfluss Russlands in den „Volksrepubliken“
Besonders aufschlussreich ist das Buch von Ulrich Heyden für diejenigen, die erfahren möchten, wie es denn mit der Rolle Russlands in den sogenannten „russischen Separatistengebieten“ bis Anfang 2022 wirklich bestellt war. Auf jeden Fall — aber das wird wohl kaum überraschen — scheint die Sache auch hier komplexer, als es in den meisten deutschen Medien dargestellt wurde. Damit ist nicht die Komplexität von Spekulationen über die Psyche eines Präsidenten, über historische Wunden und verspätete russische Herrschaftsfantasien gemeint. Die politische, gesellschaftliche und militärische Realität in den „Volksrepubliken“ ist komplex genug und die Einflussnahme Russlands findet auf verschiedenen Ebenen statt.
In erster Linie kommen die meisten Hilfsgüter für die notleidende Zivilbevölkerung in der Ostukraine aus Russland.
Deutlich wird auch, dass Russland in diesen Gebieten im Laufe der Jahre eine immer größere Rolle spielte, was kaum verwundert, es handelt sich immerhin um das Grenzgebiet zu Russland. Und eine ukrainische Regierung, die von der Nato zwar nicht zum Mitglied aber doch zum offiziellen Verbündeten erklärt wurde, ist in diesen Gebieten militärisch aktiv.
Das Bild, das sich aus den Interviews und Fakten ergibt, widerspricht aber der Vorstellung, die Gebiete seien 2014 offiziell von Russland besetzt worden. Unbestritten ist, dass russische Freiwillige im Donbass aktiv sind, von denen einige Vertreter in diesem Buch zu Wort kommen. Auch dass es insbesondere zu Anfang des Konfliktes auf beiden Seiten zu unkontrollierten Eskalationen kam, wird deutlich. Was die aktive Beteiligung Russlands angeht, bezeugt dieses Buch allerdings, dass die russische Regierung bis Anfang 2022 vor allem versuchte, im Sinne des Minsker Abkommens auf die Streitkräfte der Volksrepubliken einzuwirken, etwa mit Ermahnungen, selbst bei ukrainischem Beschuss möglichst nicht zurückzuschießen.
Die politische Einflussnahme Russlands erinnert am ehesten an die Einflussversuche des Westens beim Kiewer Maidan. So wie eine Victoria Nuland in ihrem berühmten „fuck the EU“-Telefonat bestimmen konnte, wer der neue ukrainische Präsident werden sollte, scheint die russische Regierung für den politischen Erfolg ihrer Wunschkandidaten in den Volksrepubliken gesorgt zu haben.
Dass das russische Vertrauen in eine friedliche Lösung durch das Minsk-2-Abkommen gesunken war, zeigte sich mit dem Angebot Russlands, den Bürgern der Volksrepubliken einen russischen Pass anzubieten, was viele dankbar annahmen. Politisch wurden sie damit zu Bürgern, die nun unter dem Schutz Russlands standen.
Eine Aufklärung über die ganze Rolle Russlands in diesem Konflikt liefert das Buch von Ulrich Heyden nicht, das ist auch nicht sein Anspruch. Zumindest aber kann es glaubwürdig vermitteln, dass niemand die vermeintlich allgegenwärtige Präsenz des russischen Militärs in den Volksrepubliken bestätigte.
Von Oligarchen und Kohleschmuggel
Neben der Realität der ständigen militärischen Bedrohung zeichnet Heyden in mehreren Beiträgen den Alltag in den selbsternannten Volksrepubliken. Man ist überrascht, dass gerade hier, wo man es vielleicht am wenigsten erwartet hätte, der Aufstand gegen die Oligarchen noch immer ein brisantes Thema ist, hätte man das doch eigentlich von den Maidan-Politikern gedacht. Der Leser erfährt, dass die Volksrepubliken einen Teil der Kohlebergwerke unter staatliche Verwaltung stellten, gleichwohl aber auch Oligarchen, wie der reichste Ukrainer Rinat Achmetow bis 2017, versuchten, ihren Einfluss im Donbass geltend zu machen.
Ebenso aufschlussreich ist, wie wirtschaftliche Erfordernisse sowohl die Zentral- als auch die Ostukraine zwingen, die Kriegslogik zu durchbrechen, und die jeweils eigene Boykott-Politik zu unterlaufen. Mehr als einmal wünscht man sich beim Lesen, alle Beteiligten könnten aus reiner ökonomischer Vernunft alsbald auf eine Friedenslogik umsteigen.
Doch solche Gedanken werden zunichte gemacht, wenn man liest, dass Regierungspolitiker in Kiew bereits seit April 2021 die militärische Einnahme der Volksrepubliken ankündigten und klar machten, dass es nicht mehr um die Frage des „ob“ sondern nur noch des „wann“ gehen würde. Die Rede ist von einem russisch-ukrainischen Grenzgebiet, das nach einem solchen militärischen Einmarsch unter der direkten Kontrolle der Nato stehen würde.
Die Frage, auf welcher Seite das größere Potenzial zur Verhinderung der aktuellen Eskalation dieses Konfliktes gelegen hat, wird sich mit dem Buch von Ulrich Heyden nicht beantworten lassen. Dafür ist es zu sehr aus der Sicht der Bewohner der Ostukraine geschrieben.
Allerdings ist es fast das einzige Dokument in deutscher Sprache, das mit konsequent sachlichem Journalismus die Entwicklung in den selbst ernannten Volksrepubliken über eine so lange Zeit dokumentiert. Und wer nach Wegen zum Frieden sucht, der weiß, dass der richtige Weg nur gefunden werden kann, wenn alle Seiten vorurteilsfrei zu Wort kommen können. Insbesondere jene, die am meisten unter dem Krieg zu leiden haben.
Ulrich Heyden „Der längste Krieg in Europa seit 1945: Augenzeugenberichte aus dem Donbass“
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