von Anonym
In einem Interview zum zweijährigen Jubiläum ihrer Machtübernahme gab Margaret Thatcher, die Tochter eines Methodistenpredigers, Folgendes von sich: „Die Wirtschaft ist die Methode; das Ziel ist es, die Seele zu verändern.“
Als Gorki in sein Geburtsland zurückkehrte, hielt Stalin, ein ehemaliger Seminarist, den Intellektuellen, die sich zu Ehren des Schriftstellers versammelt hatten, eine Predigt mit dem berühmten Ausspruch:
„Die Produktion von Seelen ist wichtiger als die von Panzern. (…) Darauf kommt es an: die Produktion von menschlichen Seelen. Und deshalb erhebe ich mein Glas auf euch, Schriftsteller, auf die Ingenieure der Seele.“
In diesem Punkt der Bedeutung der Seele waren sich Thatcher und Stalin zumindest einig. Wahrscheinlich gibt es noch viele weitere. Die Sache der Seele ist mehr denn je eine politische, ja sogar eine strategische Frage. Kaum eine Frage wird so missverstanden wie diese.
Unsere Seelen sind politisch
Man neigt dazu, die Seele als den Inbegriff der Innerlichkeit und damit als etwas äußerst Individuelles zu betrachten. Man muss sagen, dass das Christentum mit seinem Jüngsten Gericht nicht gerade wenig getan hat, um diesen individuellen Charakter der Seele hervorzuheben — man brauchte ja schließlich ein Subjekt, über das man urteilen konnte. Oder wie der Psychiater Eugène Minkowski gegen jede Psychologie betonte: „Unsere Seele ist überall, nur nicht in uns selbst.“
Tatsächlich bezieht sich die Seele in Gänze auf den kosmischen Charakter des menschlichen Säugetiers. Und überhaupt von allem, was lebt. Jahrtausendelang, bevor die Biologie alles verwirrte, war das, was wir heute als „das Lebendige“ bezeichnen, eher das Belebte — das, was eine Seele hat. Im Lateinischen, Griechischen, Hebräischen und in so vielen anderen Sprachen bezieht sich der Begriff der Seele — anima, psyche, rûaḥ — auf den Atem, den Wind, die Atmung.
Das, was lebendig ist, ist also das, was durchdrungen wird, durchströmt von einem Atemzug. Leben bedeutet nicht, autogenes organisches Zentrum zu sein, nicht den Willen zur Macht oder ein Organisationsprinzip — es ist, an dem teilzuhaben, was uns umgibt. Leben ist, im Zustand der kosmischen Teilhabe zu sein. Darum ist ein lebendiger Körper immer viel mehr als ein Körper.
Wenn die Seele dennoch auch der Ort unserer Einzigartigkeit ist, dann darum, weil für jeden Menschen das Einzigartige gerade seine besondere Weise ist, sich in diesem gemeinsamen Atem zu verwurzeln, die bestimmte Ausdrucksform, die er demselben Atem anbietet. Wie es schon in der Antike hieß: „Alles ist in allem, aber für jeden nach seiner eigenen Weise.“
„Ach, nicht getrennt sein, / nicht durch so wenig Wandung / vom Sternen-Maß. / Innres, was ists? / Wenn nicht gesteigerter Himmel, / durchworfen mit Vögeln und tief / von Winden der Heimkehr“, schrieb Rainer Maria Rilke.
Wer beeinflusst wen, was, wie und warum?
Eine Konvention besagt, dass zwischen verschiedenen Formen der Teilhabe unterschieden werden muss, zwischen der Beziehung zu anderen, der Beziehung zur Welt und der Beziehung zu sich selbst. Dies ist eine analytische Konvention. Präsenz für sich, Präsenz für andere und Präsenz für die Welt tragen dieselbe Handschrift. Wir nehmen an dem teil, worauf wir uns deutlich beziehen, aber wir nehmen auch noch am gesamten Universum teil. Wir werden in jeder Mikrosekunde von Teilchen durchflossen, die vom anderen Ende des Universums kommen, angefangen mit dem Licht der Sterne.
Vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert, bis die Astrologie von der offiziellen Bühne verdrängt wurde, bezog sich der Begriff „Einfluss“ in erster Linie auf die Wirkung der Gestirne auf das menschliche Schicksal. In seinem Text über den tierischen Magnetismus sprach Hegel von einer „fühlenden Seele“, die dem antiken Motiv der Weltseele sehr nahe kommt:
„Die Seele ist das, was alles durchdringt, das nicht einfach in einem bestimmten Individuum existiert (...), sondern als das völlig universelle Wesen erfasst werden muss.“
François Roustang, ein Jesuit, der die Kirche verließ, um sich der Gemeinschaft der Psychoanalytiker anzuschließen, bevor er auch diese verließ, kommentiert diese Hegel-Passage:
„Es gibt also eine Seite des Menschseins, durch die das Individuum in der Lage ist, ohne Vermittlung am Leben eines anderen Individuums teilzunehmen, weil es dieses Leben bereits ist. (…) Mit anderen Worten: Es gibt eine Kontinuität, die unterhalb des individualisierten Bewusstseins verläuft, und erst durch diese Kontinuität ist die Kommunikation möglich. (...) Wenn man davon ausgeht, dass Individuen zuallererst in ihrer Isolation vorliegen, stellt sich auf fatale Weise die Frage nach ihrer Zusammenführung (…). Aber wenn das Individuum kontinuierlich als Teil eines Beziehungsgeflechts konstatiert wird, ist es seine Existenz in all ihren Formen — biologisch, affektiv, intellektuell —, welche die Beziehungen beinhaltet“ (François Roustang, Influence, 1990, deutsch: Einfluss).
Daher kommt der überflüssige Charakter aller sozialen Angebote der Zugehörigkeit, denn wir befinden uns immer schon im Zustand der Teilhabe. Wir brauchen keine verdienstvollen Anstrengungen, keine Treuebeweise, keinen kollektiven Applaus, um mehr als ein Individuum zu sein. Was als „Egoismus“ bezeichnet wird, ist nur seelische Beschränktheit, schwache Ausstrahlung.
Der Krieg gegen die Seelen
Die Ebene der Reflexivität, des Bewusstseins, der Rationalität, der verbalen Kommunikation stellt — wie alle „Spin Doctors“ und andere Fachleute für Beeinflussung verstanden haben — ohne Frage einen abgeleiteten, sekundären, reduzierten Bereich dar, angesichts der Ebene der allgemeinen Beteiligung, auf der sie sich erhebt. Sie beschlossen also, jene sekundäre Ebene der Reflexion zu umgehen, um schräg zu operieren und mit dem Bewusstsein derer zu spielen, die sie manipulieren. Das ist zumindest die Schlussfolgerung, die diese Perversen ziehen, während andere wie Roustang daraus ableiten:
„Das Andere der Rationalität ist nicht das Irrationale, es ist das Herz, das seine eigenen Gesetze hat, oder das System der Affekte, die keineswegs an Vorstellungen gebunden sein müssen, um in den menschlichen Beziehungen eine Rolle zu spielen“ (ebenda).
Um ungreifbar zu bleiben, um subtil zu sein, schafft uns diese Ebene der kosmischen Teilhabe neben unserem biologischen Körper noch einen weiteren Körper, der genauso dafür empfänglich ist, berührt zu werden. Wo man uns unendlich schaden kann. Wo es sogar möglich ist, uns zu töten, mindestens aber krank zu machen. Wo tonnenweise Operationen stattfinden, die zu verleugnen vereinbart wurde. Wo diese Gesellschaft manövriert wie nie zuvor.
Es ist dieser Körper, der, ob freiwillig oder gewaltsam, in jedem Sinn des Wortes, besessen sein soll. Dieser Körper, unser subtiler Körper, ist der Maßstab für unsere Teilnahme an der Welt. Er ist nichts anderes als unsere Seele — unsere Seele nicht als die „wesenhafte Form des Körpers“ der Scholastik, sondern als ein Ort, der verortet ist und der verortet. Dies ist der Ort, in den Google, Facebook und andere investieren. Er ist es, den sie zu kolonisieren trachten. Zu kontrollieren.
Der Mensch ist keine Datensammlung
Auch für sie ist das Wesen der Menschen nicht etwas, das ihnen innewohnt, nichts, das sich im Inneren verbirgt, sondern die Gesamtheit der Beziehungen, deren Verknüpfung sie sind. Und diese Verknüpfung versuchen sie anhand der Kommunikation, die wir pflegen, und der Informationen, die darin fließen, zu erahnen — und uns, wenn möglich, darauf zu reduzieren. Davon zeichnen sie einen Graphen. Eine Miniatur unserer Seele. Eine Mantik viel mehr als eine Semantik.
„Die einzige Transzendenz ist die Beziehung zwischen den Menschen“, schrieb Robert Antelme, den die Konzentrationslager nie in den Zustand eines bloßen Körpers hinabstoßen konnten.
Big Tech verfolgt mit plattesten Mitteln und Verstand ein metaphysisches Ziel: die Liquidierung jeglicher Transzendenz. Man muss schon das Leben einer Festplatte führen, um sich vorstellen zu können, eines Tages „sein Bewusstsein hoch- oder herunterzuladen“.
Eine gigantische, milliardenschwere elektronische Zecke hat ihren Rüssel in unsere Teilhabe an der Welt gerammt. Die menschliche Erfahrung hat sie zum Rohmaterial für ihren unstillbaren Datendurst gemacht. Da es ihr nicht gelang, Maschinen zu entwickeln, die dem Menschen ebenbürtig sind, nahm sie sich vor, die menschliche Erfahrung auf das zu beschränken, was eine Maschine darüber wissen kann. Ihre Zielvorstellung ist es, uns auf unseren biologischen Körper zurückzuwerfen und dass wir kein Leben mehr haben, das nicht technologisch vermittelt wird. Und dass es gelingt, sich unsere Seelen anzueignen, indem sie vergegenständlicht werden.
Unser „Lockdown“-Einschluss bot ihr ein traumhaftes Experimentierfeld. Er bot die Gelegenheit, den Bewohnern, die in ihren Altersheimzellen eingesperrt waren, die unvergessliche „Erfahrung“ einer Reise auf den Berg Fuji per Virtual-Reality-Helm zu verschaffen. Der Ausgang führt mit viel Nachdruck ins Innere. Das neueste Versprechen von Facebook — pardon, von Meta! —, uns zu augmentiertem Gemüse zu machen — pardon, „jedem die Welt zu bauen, die er sich wünscht“ —, bestätigt das hinreichend.
Digitalisierung heißt Folter
Bereits 1975 schrieb Jean-Christophe Bailly nach der Rückkehr von einer Reise durch ein Deutschland, das nach einigen Anschlägen der Roten Armee Fraktion in einen Zustand der Antiterrorhysterie verfallen war:
„Sensorische Deprivation, der Sinnesentzug, ist nicht nur der Name einer konkreten Foltertechnik, sie bezeichnet in Wahrheit die allgemeine Tendenz technisch hochentwickelter Gesellschaften, sie bestimmt die Stoßrichtung, entlang derer der Staat in Ländern, in denen der Hunger im Bauch schon lange nicht mehr schreit, mit zunehmender Geschicklichkeit auf den Einzelnen zielt.
Folter ist nur der Exzess, der die Tendenz offenbart; darüber hinaus erscheint die Entbehrung, die gewährte Verkümmerung von Empfindungen und Reizen, die Umwandlung des Geistes in ein stumpfes Gleichgewicht von Reflexen als der Gehalt dessen, was strukturell von der Macht angestrebt wird; ich sage strukturell, denn die Macht, der man in den Oppositionskreisen zu viel Prestige zugesteht, und das aus guten Gründen, ist sich meistens nicht einmal der Mechanismen bewusst, die sie anwendet.
Ein Bewusstsein dieser strukturellen Tendenz zu haben, bedeutet zu wissen, über welche Kräfte der Einzelne verfügt, um nicht zermalmt zu werden im Verlauf dessen, was ich als empfindsamen Guerillakrieg bezeichne und der das Leben ist“ („Pénombre“, deutsch: Halbschatten, in der Zeitschrift Fin de siècle, N° 2).
Man will uns mit Haut und Haar
Die Ebene der Seele ist der Kriegsschauplatz der Epoche. Auf diesem Terrain wird der unzivilisierteste und unbemerkteste aller Kriege ausgetragen. Daran ist nichts spiritualistisch. Und wenn man unbedingt Mystik darin sehen will, dann in dem Sinne, wie Hofmann, der Chemiker, der die Lysergsäure synthetisierte, es meinte, als er sagte: „Ein Chemiker, der kein Mystiker ist, ist kein echter Naturwissenschaftler.“
Als Beweis dafür: Ein Kommunist vom Format Georg Lukács’ hätte uns nicht widersprochen. Lukács ging mit seinem legendären und verfluchten Buch „Geschichte und Klassenbewusstsein“ von 1923 in die Geschichte ein. Er repräsentierte auf theoretischem Gebiet die radikalste Tendenz des kämpfenden Kommunismus der Jahre 1917 bis 1923, jene, die daran festhielt, dass „jeder Kommunist davon überzeugt sein muss, dass er nicht nur in Worten, sondern tatsächlich Mitglied der Partei des Bürgerkriegs ist“.
Man hat ihm sehr übel genommen, dass er später allen möglichen Arten von Selbstkritik, einer Fülle von Zugeständnissen und Verleugnungen zugestimmt hat, die sein Denken entstellt haben. Am Ende schrieb er eine Sozialontologie, das will was heißen. So galten „Geschichte und Klassenbewusstsein“ und die Artikel, die er 1920 und 1921 in der Zeitschrift Kommunismus schrieb, lange Zeit als der Höhepunkt seines gedanklichen Werdegangs.
Das war zumindest zu seinen Lebzeiten so. Denn als er starb, fand man in seinen Papieren den Hinweis auf eine Einzahlung bei einer Bank im Jahr 1915, mitten im Krieg. In einem Koffer, aus mehr als einem halben Jahrhundert Entfernung, finden sich Notizen, die Lukács für ein Buch gemacht hatte, das er schließlich nie schrieb. Ein Buch über Dostojewski oder besser gesagt über die Ethik, die seiner Meinung nach in Dostojewskis Romanen enthalten ist.
Mit dem Ersten Weltkrieg brach für Lukács seine gesamte Welt zusammen. Von denjenigen, die ihn umgaben und seine Freunde waren, ergriffen die meisten Partei für den Krieg, allen voran Max Weber. Sein Lehrer, der Kantianer Emil Lask, starb an der Front. Der Imperativ, nach universalisierbaren Maximen zu handeln und nicht nach dem, was man wahrnimmt, oder aufgrund der Aufmerksamkeit, die man den uns Nahestehenden schenkt, bringt die Besten dazu, das Abschlachten zu rechtfertigen. „Man muss die Gesellschaft verteidigen!“
Die Opferung auf dem Altar höherer Werte
Lukács erkennt plötzlich das grauenerregende Gesicht, welches das Reich des Sozialen den Menschen verpasst. Die Vorstellung, ein anderer zu sein, das Handeln in Abhängigkeit von anderen, aufgrund der Zugehörigkeit zum Kollektiv, macht alle zu Verbrechern, zu seelenlosen Mördern in einem Stahlgewitter.
Während er noch sein Buch über Dostojewski in Planung hat, schreibt er seinem Freund Paul Ernst:
„Die Macht der Gebilde scheint in stetigerem Zunehmen zu sein als das wirklich Seiende. Aber — dies ist für mich das Kriegserlebnis — wir dürfen das nicht zugeben. Wir müssen immer wieder betonen, dass das einzig Essentielle doch nur wir sind, unsere Seelen.“
Und in einem anderen Brief:
„Das Problem liegt gerade darin, die Wege zu finden, die von Seele zu Seele führen. Und alles andere ist nur Instrument, nur Dienendes. (…) Ich glaube, viele Konflikte würden verschwinden, wenn (...) nur das zum Konflikt werde, was die Seele auf einen Scheideweg stellt.“
In einem kurzen Text aus dem Jahr 1911, der auf den Selbstmord einer sehr lieben Freundin folgte, hatte er bereits das Thema dessen, was er als „Güte“ bei Dostojewski bezeichnete, analysiert:
„Güte ist eine Gnade, die die geheimen Gedanken des anderen offenbaren. Man errät sie nicht. Sie werden offenbar. Jenseits von Zeichen und Deutung liegt das Wissen. Man ist in solchen Momenten der Andere“ („Von der Armut am Geiste“).
In seinen rasanten Notizen für sein Dostojewski-Buch bilden viele Züge ein eigentümliches Echo auf unsere Gegenwart, genau wie das Absacken unserer Zeit an das von 1914 erinnert.
„Der Staat als organisierte Tuberkulose; wenn sich die Bazillen der Pest organisierten, würden sie das Weltreich gründen. (…) Solidarität, die Pflicht zu lieben (…). a) Orient: Der andere (die anderen: auch der Feind) bist Du; denn ich und du sind eine Enttäuschung. Bhagavad Gita. b) Europa: abstrakte Brüderlichkeit: Ausweg aus der Einsamkeit. Der andere ist mein ‚Mitbürger‘, mein ‚Kamerad‘, mein ‚Compatriot‘ (schließt Rassen- und Klassenhass nicht aus, fordert es sogar). c) Russland: Der andere ist mein Bruder, wenn ich mich finde, indem ich mich finde, habe ich ihn gefunden.“
Was dann für Lukács angesichts der Apokalypse des Krieges geschieht, angesichts der vollendeten Entstellung der europäischen Menschheit, ist, dass er das monströse Maul des Sozialen nicht mehr tolerieren kann, auch nicht in seiner charmantesten Verkleidung. Und angesichts dessen sieht er keinen anderen Ausweg, als die Realitätsebene der Seele endlich real, endlich strahlend, endlich unbestreitbar zu machen. Er sieht, dass es die zweckmäßige Leugnung dieser Ebene ist, die all das Elend zulässt, welches das Leben verstümmelt, erst nach und nach und dann plötzlich, in einem ohrenbetäubenden Schiffbruch.
Das Hinausgehen über die für uns arrangierte Gesellschaft
Lukács wird sein Buch über Dostojewski nicht schreiben. Stattdessen hinterlässt er uns seine „Theorie des Romans“, die 1916 veröffentlicht wird. Es ist sicherlich sein bestes Buch — der eigentliche Höhepunkt seines Schaffens. Er achtete übrigens sehr darauf, sich später davon zu distanzieren, indem er so sprach, als wäre ihm der Autor völlig fremd. Er beschreibt die seit der griechischen Antike zunehmende Scheidung zwischen der sozialen Welt — der „Welt der Konvention“ — und den Innerlichkeiten und wie der Roman auf verschiedene Weise versucht hat, die verlorene Einheit wiederherzustellen. Das letzte Kapitel trägt den Titel „Tolstoj und das Hinausgehen über die gesellschaftlichen Formen des Lebens“.
Das Kapitel endet mit Dostojewski, den er nicht für einen Romancier hält, sondern für den Chronisten einer Utopie, einer neuen Welt, deren zentrales Merkmal die Seelenwirklichkeit ist. Eine Welt, in der nicht nur psychologisch flankierte Subjekte aufeinanderprallen und sich gegenseitig manipulieren, ohne jemals wirklich miteinander in Kontakt zu treten, und das alles inmitten einer verödeten Natur. Vielmehr eine Welt, in der verschiedene, sich verändernde, aber lesbare Arten, auf Augenhöhe mit der Welt und den anderen zu sein, in einem Universum spielen, in dem alles wieder Sinn macht, weil es bewohnt ist.
„Es ist die Sphäre einer reinen Seelenwirklichkeit, in der der Mensch als Mensch — und nicht als Gesellschaftswesen, aber auch nicht als isolierte und unvergleichliche, reine und darum abstrakte Innerlichkeit — vorkommt, in der, wenn sie einmal als naiv erlebte Selbstverständlichkeit, als die einzig wahre Wirklichkeit da sein wird, sich eine neue und abgerundete Totalität aller in ihr möglichen Substanzen und Beziehungen aufbauen kann, die unsere gespaltene Realität gerade so weit hinter sich lässt und nur als Hintergrund benutzt, wie unsere gesellschaftlich-‚innerliche‘ Dualitätswelt die Welt der Natur hinter sich gelassen hat.“
Wir werden siegen, weil wir tiefgründiger sind
Lukács’ Anschluss an den Bolschewismus, an eine ausschließlich soziale und angeblich wissenschaftliche Definition der Revolution, ist die erste Verleugnung eines Mannes, der für einen Augenblick, inmitten des Granatendonners, der Kapitulation aller und des falschen Nebels der chemischen Kriegsführung, die Überwindung dieser Welt, die uns mehr denn je in ihren Klauen hält, erahnt hat. Alle seine späteren Widerrufe sind darauf zurückzuführen. „Geschichte und Klassenbewusstsein“ gehört jedenfalls bereits zu dem Pfad des kontinuierlichen Niedergangs, der Georg Lukács’ Weg durch das Jahrhundert sein wird.
Zur selben Zeit, als Lukács einige der Studien schrieb, welche Geschichte und Klassenbewusstsein bilden, beendete Pjotr Arschinow 1921 sein Buch über die Revolution ukrainischer Arbeiter und Bauern, die von den Bolschewiken massakriert wurden, weil diese für deren Geschmack zu frei — zu „anarchistisch“ — waren. Er weigerte sich, dass ihre Geschichte ausgelöscht werden sollte, so wie ihre Armee weggefegt worden war.
„Die blutige Tragödie der russischen Bauern und Arbeiter darf nicht spurlos vorbeiziehen. Die Praxis des Sozialismus in Russland hat mehr als alles andere gezeigt, dass die arbeitenden Klassen keine Freunde haben, sondern nur Feinde, die versuchen, sich die Früchte ihrer Arbeit unter den Nagel zu reißen. Der Sozialismus hat umfassend bewiesen, dass auch er zu ihren Feinden gehört. Dieser Gedanke wird sich von Jahr zu Jahr stärker im Bewusstsein der Volksmassen verankern. Proletarier der ganzen Welt, steigt in eure eigenen Tiefen hinab, sucht dort die Wahrheit, fördert sie: Ihr werdet sie nirgendwo anders finden. Dies sind die aktuellen Losungen der Russischen Revolution“ (Pjotr Andrejewitsch Arschinow, „Die Geschichte der Machno-Bewegung“, 1921).
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Das konspirationistische Manifest“ von Anonym, welches in deutscher Übersetzung im Verlag Sodenkamp und Lenz erschien.
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