Angel Merkel ist dagegen. Sie hält „die Enteignung von Wohnungskonzernen nicht für ein geeignetes Mittel zur Linderung der Wohnungsnot“. Katarina Barley ist dagegen. Enteignungen sind für sie „keine Lösung“. Die Justizministerin schlägt stattdessen vor, mehr zu bauen. Der Vorstandsvorsitzende des Wohnungskonzerns Vonovia, Rolf Buch, ist dagegen. Eine Enteignung beziehungsweise Verstaatlichung „schafft keine Wohnungen“, sagte er. Auch der ehemalige Verfassungsgerichts-Präsident Hans-Jürgen Papier ist dagegen. Enteignungen seien „verfassungsrechtlich eindeutig unzulässig.“
Schließlich ist — glaubt man der an Glaubwürdigkeit ja nicht zu überbietenden BILD-Zeitung — auch die Mehrheit der Deutschen dagegen. 70 Prozent halten laut einer repräsentativen Umfrage von Infratest Dimap im Auftrag der „Welt am Sonntag“ Enteignung nicht für ein geeignetes Mittel, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.
Wo so viele dagegen sind, werde ich misstrauisch. Würden Enteignungen — zumindest der größten Wohnungskonzerne — etwa den Teufel der Wohnungsnot mit dem Beelzebub rückwärtsgewandter sozialistischer Experimente austreiben? Oder hat schlicht der politisch-industriell-mediale Komplex wieder einmal bestens funktioniert, indem er es vormochte, eine gute Idee schon im Keim zu ersticken und den Ausgebeuteten die Zustimmung zu ihrem Ausgebeutet-Werden aufzuschwatzen?
Enteignung — ein Gespenst geht um
Jedenfalls geht seit einigen Wochen ein Gespenst in Deutschland um. Ein Volksbegehren in Berlin, gestartet von der Initiative „Deutsche Wohnen und Co enteignen“ fordert, alle, die mehr als 3.000 Wohnungen besitzen, nach Artikel 15 des Grundgesetzes zu enteignen. Schlimmer noch: Die betroffenen Unternehmen sollen „deutlich unter Marktwert entschädigt werden“. Eigentlich ja eine moderate Forderung, denn wozu braucht jemand 2.999 Wohnungen — oder auch nur zehn? Nach der Heftigkeit der Abwehrreaktionen gegen dieses recht überschaubare Häppchen Gerechtigkeit zu schließen, könnte man meinen, die Initiatoren hätten die Einführung der Planwirtschaft oder die Wiedererrichtung der Berliner Mauer gefordert.
Untersucht man die Statements, die besagten „Aufschrei“ gegen das Volksbegehren ausmachen, einmal genauer, so stellt man fest, dass sich die meisten damit begnügen, das Konsumentenvolk mit Instant-Phrasen abzufertigen. „Keine Lösung?“ Warum nicht, wenn in vergemeinschafteten Wohnungen die Mieten runtergehen und damit auch für Wenig- und Normalverdiener die Chance auf ein menschenwürdiges Leben geschaffen wird? Enteignungen schaffen keine neuen Wohnungen? Darum geht es hier auch nicht, hierfür müssen flankierende Maßnahmen getroffen werden, die die Politik über Jahrzehnte verschlafen hat — etwa mehr Sozialwohnungen. Zu teuer? Nur wenn allzu viel Rücksicht genommen wird auf Not leidende Großkonzerne. Verfassungswidrig? Ja, so werden sie es am Ende wohl hinbiegen.
Dabei bricht mit der Enteignungsinitiative endlich eine Diskussion auf, die viel zu lange unter dem Deckel gehalten wurde.
Die gefährlichsten Missstände sind nicht diejenige, die von der Presse lauthals beklagt werden, sondern jene, die gar nicht bemerkt werden, weil sie als selbstverständlich gelten.
Menschen können sich Abschnitte der Erdoberfläche kaufen und zur alleinigen, privaten Nutzung reservieren. Dieses Grundeigentum kann weitervererbt werden. Für die Nutzung des Bodens kann sein Besitzer dem Benutzer eine Gebühr abverlangen.
Gegen diese simple Tatsache gibt es derzeit keinen nennenswerten Widerstand, denn Eigentum ist beliebt, auch bei denjenigen, die bei diesem System weit mehr draufzahlen, als sie profitieren — übrigens eine Parallele zum Zinssystem. Ein Grund für die Popularität des Privateigentums ist sicher der „Gemütlichkeitsfaktor“, der Wunsch jedes Menschen nach Geborgenheit in einem abgeschlossenen Raum, wo er sich frei, ohne Störung und ohne Beobachtung, es sei denn durch freiwillig gewählte Lebensgefährten, entfalten kann. Daher die erste meiner 5 Thesen über Grundbesitz:
1. Privateigentum an Boden entspringt dem Wunsch, einen Ort ungestört zur freien Nutzung bewohnen zu dürfen.
Als ich ein Kind war und mir Erwachsene den Kommunismus erklären wollten, ging das ungefähr so: „Wenn die Kommunisten herrschen würden, käme die Polizei in unser Haus und würde befehlen, dass jetzt eine fremde Familie bei uns im Keller wohnen würde. Sie wären immer da und wir müssten alles mit ihnen teilen.“ Eine schreckliche Vorstellung, denn ich liebte unser kleines Haus, meinen Freiraum und auch die Möglichkeit, sich im Vertrauten gegen außen abzuschirmen. Der Kommunismus war für mich damit auf lange Sicht passé.
Segen oder Fluch des Privateigentums sind jedoch immer eine Frage der Perspektive. Als ich vor einigen Jahren mit einer Freundin im Schlauchboot im italienischen Ledro-See paddelte, kamen wir einmal von der Seeseite aus an eine wunderschöne Bucht. Wir legten an, stiegen aus und genossen die Sonne auf dem weichen Rasen. Ein deutsches Paar scheuchte uns auf und fragte uns, ob wir von „den Müllers“ eingeladen worden wären. Als wir verneinten, forderte uns die Frau mit scharfer Stimme auf, mit unserem Boot von hier zu verschwinden. „Das ist Privateigentum“. Obwohl mir aus meinem Elternhaus der Wunsch vertraut ist, nicht von jedem im heimischen Garten gestört zu werden, blieb von der Episode ein unangenehmes Gefühl zurück: das Empfinden, mit einem rigiden Machtgefälle konfrontiert worden zu sein, das mich eines harmlosen Vergnügens berauben durfte und dafür jederzeit der polizeilichen Unterstützung hätte sicher sein können.
Was eigentlich störte die Besitzer, oder deren Freunde, an unserer Anwesenheit? Platz genug wäre für noch weit mehr Sonnenhungrige gewesen. Letztlich war es wohl — abgesehen davon, dass es „ums Prinzip“ ging —, der Wunsch, allein und ungestört sein zu können, das heißt in Sichtweite überhaupt nicht mit dem Anblick fremder Körper konfrontiert zu sein. Ein paar hundert Meter weiter, auf dem öffentlichen Badegelände, tummelte sich dagegen das Volk wie die Heringe — gegenseitiges Anrempeln und eine lebhafte Geräuschkulisse inklusive. Mehr als sechs Quadratmeter Space durfte dort niemand für sich in Anspruch nehmen.
Was die Besitzer des Seegrundstücks zu ihrem Kauf bewegt hatte, war vielleicht genau das: von zu großer Dichte, vom Andrang einer unberechenbaren, lauten und taktlosen „Meute“ verschont zu bleiben. Das Paradoxe dabei: Die Besitzer wollten sich durch den Grundstückskauf von eben jener Menschendichte schützen, die ohne die fast lückelose Belegung des Seeufers durch Privatgrundstücke gar nicht entstanden wäre. Wäre das Seeufer überall frei zugänglich, müsste das „gemeine Volk“ sich nicht so drängen. Für jeden wäre genug Platz da.
2. Privateigentum an Boden beinhaltet das Recht, andere vom Betreten und von der Nutzung eines Grundstücks ausschließen zu können.
Wer ein Land besetzt, kauft oder zu seinem Eigentum erklärt, sagt damit zugleich, wem dieses Land nicht gehört, nämlich allen anderen. Das Recht, andere ausschließen zu dürfen, nimmt in den USA teilweise recht rabiate Formen an. Während meine Freundin und ich auf besagtem italienischen Grundstück noch recht glimpflich davonkamen, kommt es in den USA gelegentlich vor, dass Menschen, die ein Privatgrundstück ungebeten betreten, vom Besitzer mit der hauseigenen Knarre erschossen werden — und damit vor Gericht durchkommen. Steht der Schutz des Privateigentums höher als das Recht auf Leben? In manchen Fällen: ja. Solche Auswüchse sind nur mit tief verwurzelter Angst zu erklären, die — jedenfalls auf einer unbewussten Ebene — als Todesangst erlebt wird.
Privateigentum an Boden erscheint uns selbstverständlich, weil wir daran gewöhnt sind. In Wahrheit ist es nicht selbstverständlicher und nicht besser begründbar als Privateigentum an Atemluft.
In meiner Satire „Luftanbieter wollen schärfer gegen Schwarzatmer vorgehen“ habe ich die Vision einer fortschreitenden Privatisierung der Atemluft und ihrer Umwandlung in eine gebührenpflichtige Ware gesponnen. Der Gedanke wirkt übertrieben und skurril, Tatsache ist aber: Der Raum des Privaten weitet sich immer mehr aus, und der Raum des Öffentlichen und Gemeinschaftlichen schrumpft.
Die Globalisierungskritikerin Naomi Klein hält Privatisierung generell für einen Angriff auf die Demokratie. Begründung: Wenn die gesellschaftlichen Funktionen öffentlicher Plätze, zum Beispiel als Treffpunkt, immer mehr auf Privatgrundstücke verlegt werden, gelten auf diesem Grund und Boden die Regeln der Besitzer. Neben den Gesetzen des Landes, in dem wir leben und der zu unserem Schutz bestellten Obrigkeit gelten dann zusätzlich Privatgesetze, hält eine zweite, private Obrigkeit, zum Beispiel eine Privatpolizei, das Heft in der Hand.
Die Erde könnte also durch Privatisierung im schlimmsten Fall zu einem Fleckerlteppich aus Zonen privater Parallelgesetzgebung werden. Das Terrain unserer verfassungsgemäßen „freien Selbstentfaltung“ schrumpfte dann auf das Wenige zusammen, was privaten Regelmachern mit „Hausrecht“ genehm ist.
Die vermeintliche Selbstverständlichkeit des herrschenden Systems gerät ins Wanken, wenn man Grundbesitz nicht vom Jetzt-Zustand aus, sondern von seinen Anfängen her betrachtet. Wir wissen, dass es Menschen gibt, denen auf rätselhafte Weise praktisch die ganze Ortschaft gehört und dass es auf der anderen Seite eine Mehrheit von Boden-Habenichtsen gibt. Wie aber kamen die Grundbesitzer oder deren Vorfahren zu ihrem Grund? Ein konkretes Beispiel: In Brasilien besitzen 2 Prozent aller Grundbesitzer 43 Prozent allen fruchtbaren Bodens.
Hier die Geschichte dazu: „Brasilien wurde Anfang des 16 Jahrhunderts von portugiesischen Invasoren „entdeckt“, soll heißen: unterworfen, besetzt und ausgeplündert. Die den indigenen Bevölkerungen gestohlenen Ländereien vergab der König von Portugal nach einer simplen Methode: Er teilte die brasilianische Atlantikküste in Parzellen auf. Alle seine Generäle, Admiräle, Bischöfe und Kurtisanen erhielten ein Stück Küste. Der neue Grundeigentümer suchte nun, seinen Besitz gegen das Landesinnere hin zu vergrößern. Aller Boden, den er beim geradlinigen Vordringen ins Herz des unbekannten Kontinents betrat, gehörte ihm.“ (Quelle: Jean Ziegler: „Die neuen Herrscher der Welt“).
Eine skurril wirkende Geschichte aus grauer, barbarischer Vorzeit, möchte man meinen. Das Problem ist nun, dass diese ursprünglichen Riesengrundbesitze, capitanias genannt, zum großen Teil bis heute in den Händen der Nachkommen besagter Kapitäne und Kurtisanen sind. An die einmal getroffenen Entscheidung des portugiesischen Königs, eines Mannes, der für die Ausrottung der Indianer in Brasilien verantwortlich ist, wagte bis heute niemand zu rühren, auch nicht „demokratische“ Nachfolgerregime der portugiesischen Monarchie.
Heutige Großgrundbesitzer sind noch immer berechtigt, über Riesenlandstriche zu verfügen, die sie und ihre Familien nicht annähernd privat nutzen, geschweige denn zum allgemeinen Wohl mit Nutzpflanzen bebauen könnten. Daher knöpfen sie den armen Bauern, die aus „ihrem“ Land tatsächlich etwas machen, hohe Pachtgebühren ab oder lassen das Land gleich ungenutzt brach liegen.
Dieses Beispiel zeigt nicht nur, dass Diebstahl und Gewalt oft am Beginn des Eigentumserwerbs stehen. Es relativiert auch scheinbare Selbstverständlichkeiten, etwa die Annahme, dass ein Staatsoberhaupt das Recht haben könnte, Gemeinschaftseigentum in Privateigentum umzuwandeln. Woraus sollte sich dieses Recht ableiten? Warum darf ein Volksvertreter den Besitz des Volkes, das er vertritt, an Einzelne verkaufen? Die Frage ist angesichts der momentanen Privatisierungswelle brisant und nicht unabhängig von der Zinsthematik zu sehen.
Der Zwang, Zinsen zu bezahlen, führt zu Schuldenwachstum im Bundeshaushalt. In seiner finanziellen Not greift der Staat als letztes Mittel zum Verkauf von Gemeinbesitz, zum Beispiel von Boden — teilweise an dieselben Personen, die durch ihre hohen Zinsforderungen die Misere erst herbeigeführt haben.
Als Folge sind die Bürger, deren gemeinschaftlicher Besitz der Boden vorher war, dem betreffenden Privateigentümer nun tributpflichtig. Oder der Staat als ganzes muss sich das Nutzungsrecht an seinem früheren Eigentum gegen Zahlung einer „Pacht“ zurückholen. Die zusätzlichen Ausgaben holt er sich durch Steuern von der Allgemeinheit zurück. Das Ergebnis wäre eine doppelte Tributpflicht des Normalbürgers: 1. über direkte und versteckte Zinsen, 2. über direkte oder versteckte Mieten, Pachtzahlungen und ähnliches.
3. Privateigentum an Boden beinhaltet das Recht, von anderen Gebühren für die Nutzung dieses Grundes zu verlangen.
Im mittelalterlichen System des Feudalismus haben wir den Prototyp des organisierten finanziellen Missbrauchs der Bodennutzer durch die Bodeneigentümer. Der Feudalismus entstand im Frühmittelalter als Synthese zwischen dem römischen Recht auf Privateigentum an Boden und dem germanischen Treueverhältnis zwischen Lehnsherr und Lehnsmann. Das alte germanische Bodenrecht kannte noch keinen Privatbesitz an Boden, sondern eine Form der gemeinschaftlichen Nutzung. Das allgemein zugängliche dörfliche Gemeindeland, die Allmende, war der Normalfall.
Dieser „kommunistische“ Umgang mit Grund und Boden wurzelte wohl noch im Erlebnis gemeinschaftlicher Rodung und Urbarmachung des Bodens, die niemals allein, sondern immer nur im Rahmen der Sippe möglich war. Wer arbeitete, durfte auch — gemeinschaftlich — besitzen, wer besaß, musste auf und für diesen Gemeinschaftsbesitz auch arbeiten. Was jeder Einzelne für sich und seine Familie dem Grund entnahm, richtete sich nach dem Bedarf.
Im Feudalismus bildete sich nun eine Spaltung zwischen dem Grundbesitz auf der einen und der Bewirtschaftung des Grunds durch die abhängigen Bauern auf der anderen Seite heraus. Vereinfacht gesagt: Wer arbeitete, besaß nicht; wer besaß, arbeitete nicht. Das System der Leibeigenschaft war für die Bauern mit erheblichen persönlichen Einschränkungen verbunden. So durften sie ohne die Erlaubnis ihres Lehnsherrn zum Beispiel nicht ihre Scholle verlassen oder heiraten. Sie waren der Rechtsprechung ihres Herrn unterworfen und zu Abgaben verpflichtet, die entweder als Frondienste, als Naturalien oder als Geldzahlungen fällig wurden.
Zwischen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die Leibeigenschaft in den deutschen Teilstaaten nach und nach abgeschafft. In Russland existierte sie noch bis 1861 weiter. Wir können uns von dem schon damals als anachronistisch geltenden System ein Bild machen, wenn wir die Werke des großen Schriftstellers Lew Nikolajewitsch Tolstoj (1828 bis 1910, „Krieg und Frieden“, „Anna Karenina“) studieren. Tolstoj besaß selbst Land und rang in vielen seiner Werke wie im wirklichen Leben mit der Frage von Leibeigenschaft, Bauernbefreiung und Grundbesitz.
In seinem Spätwerk „Auferstehung“ entdeckt Tolstojs Alter Ego Nechljudow, „dass das ganze Elend des Volkes oder zumindest die wichtigste und nächste Ursache für das Elend darin lag, dass die Erde, die das Volk ernährte, nicht in dessen Händen war, sondern in den Händen von Menschen, die sich dieses Recht auf den Boden anmaßten und von der Arbeit des Volkes lebten.“
Noch grundsätzlicher ist diese Aussage Tolstojs:
„Der Boden kann nicht Gegenstand des Kaufes und Verkaufes sein, ebenso wenig wie Wasser, wie Luft oder wie die Strahlen der Sonne. Alle haben das gleiche Recht auf den Boden und auf allen Nutzen, den er den Menschen bringt.“
Silvio Gesell (1862 bis 1930), der Vater der Freiwirtschaftslehre, sagt es ähnlich radikal:
„Der Erde, der Erdkugel gegenüber sollen alle Menschen gleichberechtigt sein. (…) Jeder soll dorthin ziehen können, wohin ihn sein Wille, sein Herz oder seine Gesundheit treibt. Und dort soll er den Altangesessenen gegenüber die gleichen Rechte auf den Boden haben. Kein Einzelmensch, kein Staat, keine Gesellschaft soll das geringste Vorrecht haben. Wir alle sind Altangesessene dieser Erde.“
Es scheint, als hätten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreiche historische Persönlichkeiten und bedeutende Geister mit der Problematik des Grundeigentums auseinandergesetzt — wie etwa Gesell, Lenin, Tolstoj oder Rudolf Steiner — und als sei dieser „Gärungsprozess“ heute einer abgestumpften Hinnahmebereitschaft gewichen.
Wie steht es heute mit dem „gleichen Recht auf den Boden“? Der heute Geborene findet eine parzellierte Welt vor — mit vorgegebener Raumaufteilung und diesen Räumen zugeordneten Besitzverhältnissen. Im günstigsten Fall gehört eine der Parzellen seinen Eltern und wird für ihn als Erbe in einer späteren Phase seines Lebens zur Verfügung stehen.
Sobald ein Kind jenem Wohnraum entwächst, der von seinen Eltern gekauft oder gemietet wurde, muss er für sein bloßes Dasein, für sein Raum-Nehmen als Lebender, Essender, Arbeitender, Schlafender Gebühren an andere zahlen. Diese anderen haben sich den Raum weit vor der Zeit angeeignet, in der er mit ihnen in Wettstreit hätte treten können.
Das System privaten Grundbesitzes gleicht also einem Monopoly mit ungleichen Startchancen. Würden Sie ernstlich an einem Monopoly-Spiel teilnehmen, bei dem die meisten Straßen — Schillerstraße, Opernplatz oder Schlossallee — schon vorab an Mitspieler vergeben sind, so dass diese für das Betreten „ihrer“ Straßen Gebühren kassieren können? Dem Spiel des Lebens aber können wir nicht entgehen.
Die systembedingte Benachteiligung des Bodennutzers und -bewohners gegenüber demjenigen, dem der Boden — in eher abstrakter Form — „gehört“, zeigte sich auch nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten 1990. Im Einigungsvertrag wird der Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“ für den Umgang mit zwischen 1949 und 1989 enteignetem Vermögen, einschließlich Grundbesitz, geregelt. Die Rechte der Nachkommen früherer Grundbesitzer, die auf die Zeit vor Gründung der DDR zurückgingen, hatten absolute Priorität vor den Rechten derer, die diesen Boden 40 Jahre lang bewohnt und gepflegt hatten, die eine emotionale Beziehung zu ihm aufgebaut und auf ihm eine Heimat gefunden hatten. Im Taumel ergriffener „Helmut, Helmut!“-Rufe ging das Schicksal vieler aus ihrem Wohnraum Vertriebener unter. Ebenso wie die Situation derer, die den neuen Besitzern von jenseits der ehemaligen Mauer nun plötzlich teure Tribute in Form erhöhter Mieten schuldig waren.
Karl Marx, auf dessen Analysen des Privateigentums in „Das Kapital“ die Enteignungen in der DDR und anderen Ostblockstaaten letztlich beruhten, hat sich dem Thema Boden sehr ausführlich gewidmet. Er bezeichnet die Erde als „Basis des Gemeinwesens“. Wie kam es aber dann zu dem Phänomen des Privateigentums an Boden? „Das Verhalten zur Erde als Eigentum ist immer vermittelt durch die Okkupation, friedliche oder gewaltsame, von Grund und Boden durch den Stamm oder die Gemeinde“.
Aus dem Bodeneigentum als Stammeseigentum entwickelte sich in einem historischen Prozess zunächst das private Familieneigentum mit exklusivem, andere ausschließenden Charakter: Als wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen legitimen und illegitimen Formen des Privateigentums betrachtet Marx die Frage, ob es sich bei den Eigentümern um „Produzenten“ oder „Nichtproduzenten“ handelt. Solange der Eigentümer eines Stücks Boden mit dem Produzenten der auf ihm geschaffenen Werte und Waren identisch ist, bleibt das Wirtschaften in einem gesunden Rahmen. Wenn Nichtproduzenten zu Eigentümern des Bodens werden, auf dem produziert wird, treten Ausbeutungsstrukturen zu Tage.
Der Franzose Pierre-Joseph Proudhon (1809 bis 1865) war für Marx zugleich geschätztes Vorbild und Antipode. Proudhons bekanntes Diktum „Eigentum ist Diebstahl“ wird oft missverstanden. Gemeint ist nicht jegliche Form von privatem Besitz, sondern Eigentum als Privileg und Monopol. „Solange Eigentum Privilegien birgt, solange bedeutet privilegiertes — also erpresserisches Eigentum Diebstahl.“
Das Schwergewicht liegt bei ihm also in der Kritik an „erpresserischem Eigentum“, das zur Ausbeutung der Arbeitskraft anderer führt. Proudhons vollständige Philosophie lässt sich zusammenfassen in dem Satz: „Das Eigentum ist eine Institution der Gerechtigkeit und das Eigentum ist Diebstahl“. Der erste Halbsatz wird gern unterschlagen, denn das Gerechte am Eigentum ist seine Funktion, die Freiheit des Individuums gegenüber der Gruppe zu sichern. Eigentum ist zunächst positiv zu sehen — als Schutz gegen Übergriffe anderer auf die Gegenstände des täglichen Bedarfs und als Schutz vor Einmischung in die freie Entfaltung im unmittelbaren Lebensumfeld.
Silvio Gesells Bodentheorie wird im Vergleich zu dessen Zinstheorie häufig stiefmütterlich behandelt. Dennoch gehören beide zusammen. Gesell ist der Entdecker eines ökonomischen Gesetzes, das so verblüffend einfach ist, dass man sich wundert, dass es nicht mehr Aufmerksamkeit hervorruft. Je dringender jemand etwas benötigt, so Gesell sinngemäß, desto teurer versucht es ihm der Anbieter der betreffenden Ware zu verkaufen. Beispiele für dieses „eherne“ Gesetz der Marktwirtschaft finden wir überall. Man denke etwa an die höheren Preise für Urlaubsreisen in den Ferienzeiten, also den Wochen, auf die viele Familien wegen der Schulferien ihrer Kinder ihren Urlaub legen müssen. Man denke auch an hohe Mieten in städtischen Ballungszentren, die viele bezahlen müssen, um in der Nähe ihrer Arbeitsplätze zu wohnen. Wenn jemand etwas braucht und seinem Erwerb nicht ausweichen kann, wird es ihm umso schwerer gemacht, es zu bekommen.
Eine Steigerungsform dieses ökonomischen Gesetzes ist dann gegeben, wenn jemand ein begehrtes Wirtschaftsgut nicht nur zufällig besitzt, sondern es in der bewussten Absicht kauft, es teuer an Bedürftige weiterzuverkaufen. „Mit der Inbesitznahme oder Aneignung eines Gegenstandes, den man nicht selbst gebrauchen kann“, schreibt Gesell, „der aber, wie wir annehmen oder wissen, von anderen gesucht wird, können wir nur einen Zweck verfolgen: wir wollen diesen anderen Verlegenheiten bereiten und diese Verlegenheiten ausbeuten. Wir wollen Wucher mit dem Gegenstand treiben.“ Ein populäres Beispiel dafür ist die Geschäftspraktik, sich im Internet „Domains“, also Webadressen, reservieren zu lassen, um sie später teuer an jemanden verkaufen zu können, der sie einmal brauchen könnte. Hier kommen wir zu einer vierten Funktion des Privateigentums an Boden:
4. Privateigentum an Boden kann zum Spekulationsobjekt werden. Man nimmt etwas einzig und allein deshalb in Besitz, um es wieder — und teurer — zu verkaufen.
Der Boom der Immobilienspekulationen in den USA, auch „Immobilienblase“ genannt, beruht auf der Idee, dass jemand Häuser und Grund kauft, ohne die Absicht zu haben, jemals selbst dort zu wohnen. Spekuliert wird auf die Differenz von Einkaufs- und Verkaufspreis. Es muss sich also immer jemand finden, der bereit ist, für dasselbe Objekt, dessen konkreter Wert ja durch Herumstehen in keiner Weise wachsen kann, mehr zu bezahlen. Solange dies möglich ist, kann das „Spiel“ theoretisch bis in alle Ewigkeit weitergehen. Wenn der Preis jedoch so hoch wird, dass die Scheu potenzieller Käufer vor dem Geldverlust größer wird als ihre Gier nach dem Besitz des Objekts, dann „platzt“ die Blase. Den letzten Käufer beißen die Hunde, und er muss Haus und Grund dann billiger abgeben, als er sie eingekauft hat.
Bei den Waldbränden in Griechenland 2007 kam eine besonders perfide Variante dieses Prinzips zur Anwendung. Es ist keineswegs nur eine Verschwörungstheorie, sondern den ermittelnden Behörden seit langem bekannt, dass skrupellose Bodenspekulanten Wälder abfackeln, um an das zurückbleibende freie — und dann recht billige — Land heranzukommen. Manche fangen kurzerhand gleich nach dem Brand ohne Genehmigung an, die Fundamente von Häusern zu bauen. Bestochene Regionalpolitiker genehmigen die Neubauten bald darauf im Nachhinein mit der Begründung, man müsse etwas für die armen Leute tun, die ihr Obdach verloren haben. Profiteure sind die Spekulanten, die dann erhöhte Mieten verlangen oder das Land mit Aufschlag weiterverkaufen können.
Das Beispiel zeigt schlaglichtartig die Perversion von Spekulationen mit Boden, letzten Endes aber auch die Fragwürdigkeit von Privateigentum an Boden überhaupt. Ordnet man das Naturgut Boden, das zu den Grundbedingungen menschlicher Existenz gehört, Rentabilitätskriterien unter, so kommt man zu einer wahrhaft abstrusen Logik: Zerstörung, zum Beispiel von Pflanzen, kann rentabler sein als Werterhaltung. Genutzter Boden kann rentabler sein als ungenutzter, obwohl Wildnis für das ökologische Gleichgewicht wichtig ist. Bauland ist rentabler als landwirtschaftlich genutztes Land, obwohl Landwirtschaft für die Volkswirtschaft und die Ernährung der Menschen essentiell ist.
Hier wird die Ökonomie selbst — im Widerspruch zu ihrem Selbstbild als Maßstab jeglicher Rationalität — zum irrationalen Risikofaktor. Der Umgang mit dem Boden muss daher ent-ökonomisiert werden, was zu recht „radikalen“ Denkansätzen führt.
Radikal zu denken, bedeutet aber lediglich, zu den Wurzeln (lateinisch: radix) eines Problems oder Phänomens zurückzugehen. Silvio Gesells „Freiland“-Begriff geht darauf zurück, dass es lange Zeit tatsächlich freies, also unerschlossenes Land gab, das zwar Hoheitsgebiet gewisser Staaten, jedoch unbebaut und nicht in Privatbesitz war. Zu Gesells Lebzeiten gab es solches Freiland vor allem noch in Nord- und Südamerika.
Gesell berichtet in „Natürliche Wirtschaftsordnung“ von solchen idyllisch wirkenden Verhältnissen. Ein Einwanderer kommt an der Grenze des besiedelten Gebietes an, sucht sich aus dem unerschlossenen Neuland dasjenige Stück Land aus, das ihm für seine Bedürfnisse optimal erscheint und rammt an den Ecken vier Pflöcke in den Boden. Er benachrichtigt das Landamt nachträglich von seiner eigenmächtigen Landnahme und beginnt mit der Arbeit. Fortan gehört ihm der Boden. Er musste niemandem einen Kaufpreis oder eine Pacht bezahlen. Niemand mischt sich in das, was auf seinem Stück Land geschieht, ein.
Warum sollte ein Staat ein derartiges Vorgehen dulden? „Da könnte ja jeder kommen!“ Ja, damals konnte jeder kommen. Solche tat- und entschlusskräftigen Pioniere machten das Land urbar, pflegten es, bebauten es und versorgten die Einwohner mit lebensnotwendigen Feldfrüchten oder Produkten aus Tierhaltung. Sie schufen damit die Lebensgrundlage für weitere Ansiedlungen und ein blühendes Gemeinwesen. Missbrauch des „besetzten“ Bodens war unter solchen Umständen unwahrscheinlich, denn eine Familie hatte alle Hände voll zu tun, um für sich selbst den Lebensunterhalt zu erwirtschaften.
Warum sollte jemand mehr Land in Besitz nehmen, als er im Rahmen seiner Arbeitskraft bewirtschaften und sinnvoll nutzen kann? Man kann an diesem Urbild der Landnahme eines erkennen: Sinnvolle Nutzung des Bodens — und zwar sowohl für den eigenen Bedarf als auch für den gemeinschaftlichen Nutzen — ist nicht nur ein zufälliges Nebenprodukt des Privatbesitzes an Boden; es ist seine einzige legitime Begründung. Ohne sinnvolle Nutzung ist Privatbesitz nichts als eine mit Gewalt, durch List oder durch die Gnade der reichen Geburt erzwungene gemeinschaftsschädliche Anmaßung.
5. Privatbesitz an Boden ist nur legitim, wenn er am legitimen Eigenbedarf und am Gemeinwohl orientiert ist.
Sogar das deutsche Grundgesetz kennt diesen Grundsatz in Artikel 14: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Im Umkehrschluss müsste man sagen: Grundbesitz, der vom Besitzer nicht sinnvoll genutzt wird, muss in Gemeinschaftsbesitz zurückfallen. Das wäre Enteignung, die ja eigentlich nichts anderes ist als die Rücknahme einer häufig vor Urzeiten vollzogenen, mehr oder minder legalen Aneignung. Auch Enteignungen sind, was wenig bekannt ist, als Option Teil des Grundgesetzes:
„Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt.“
Im schon einmal erwähnten Brasilien gibt es einen etwas präziseren Enteignungsparagrafen: Land kann dort enteignet werden, wenn es unbebaut ist. Zwischen Theorie und Praxis klafft in einem von Korruption und Großgrundbesitzermacht beherrschten Land allerdings eine oft gewaltige Lücke. Landlose Kleinbauern und Slumbewohner greifen deshalb unter Führung der Organisation MST (Landlosen-Bewegung) bereits zur Selbsthilfe. Sie besetzen ungenutztes, brachliegendes Land in Nacht- und Nebelaktionen, errichten Hütten und gründen so genannte acampamentos, „ungesetzliche“ Ansiedlungen auf fremdem Grund.
In manchen Fällen geht die Militärpolizei rabiat gegen die Besetzer vor und verjagt sie mit Gewalt. Dies geschieht vor allem, wenn Grundeigentümer gute „Beziehungen“ zu Regionalpolitikern pflegen. Oft werden die Landlosen aber auch stillschweigend geduldet, oder es kommt zu Zivilprozessen, die vom MST unter Berufung auf das Enteignungsrecht teilweise mit Erfolg geführt werden.
Nach einem ähnlichen Prinzip erfolgten auch die Hausbesetzungen, etwa im Hamburg der frühen 80er-Jahre: Wenn jemand etwas besitzt, das er nicht braucht und nicht sinnvoll nutzt, dann wird es von denjenigen für sich beansprucht, die es dringend brauchen, aber nicht besitzen. Der eigenmächtige „anarchische“ Charakter solcher Aktionen wird oft beklagt. Sie wurde aber nur deshalb im besten Sinne des Wortes not-wendig, weil legale Enteignung selbst in drastischen Fällen von Eigentumsmissbrauch in Deutschland praktisch nicht stattfinden, obwohl sie laut Grundgesetz möglich wären.
Die Landreform des venezolanischen Präsidenten Chavez von 2001 sah beispielsweise nicht nur die Vergabe von in Staatsbesitz befindlichem Land an landlose Bauern vor, sondern auch die Enteignung von Großgrundbesitz gegen Entschädigung zu marktüblichen Preisen. Grund für die Reform war unter anderem das unsoziale Verhalten der Grundbesitzer, die aus schlichter Gleichgültigkeit so viel Land brach liegen ließen, dass Venezuela zwei Drittel seiner Lebensmittel aus dem Ausland importieren musste.
Man muss aber zum Thema „Entschädigung“ noch etwas hinzufügen. Hausbesetzungen in Deutschland wie Landbesetzungen in Brasilien setzen sich auch über das Grundprinzip der Entschädigung hinweg, das sowohl im Grundgesetz als auch in den Überlegungen Silvio Gesells vorgesehen ist. Ist das noch legitim, oder ist es schlichte Willkür?
Die globalisierungskritische Bewegung Attac forderte die entschädigungslose Enteignung der großen Energiekonzerne. Begründung: Der Profit, den die Konzerne in der Zeitspanne zwischen Aneignung und Enteignung auf Kosten ihrer Kunden machen durften, ist Entschädigung genug. Könnte man in Bezug auf Grundbesitz nicht ebenso argumentieren?
Wer über ein bestimmtes gesundes Maß hinaus Land oder Wohnungen besitzt, dessen Besitz ist in sich widersprüchlich und suspekt. Kann man von „Entschädigung“ sprechen, wenn ein Besitzer durch Enteignung keinen wirklichen Schaden, sondern lediglich eine Reduktion von unfruchtbarem, gemeinschaftsschädlichem Übervermögen erdulden muss?
Es ist schwierig, aus den vorangegangenen Ausführungen konkrete Forderungen und Gesetzesvorschläge abzuleiten. Die Diskussion darüber muss aber geführt werden. Das Fehlen einer qualifizierten Diskussion über gesellschaftlichen Wandel nützt lediglich den Profiteuren des Status Quo — und das sind die allerwenigsten von uns. Die aktuelle Debatte zu den Vorgängen in Berlin, bei denen sich unter anderem der Grüne Robert Habeck offen gegenüber begrenzten Enteignungen äußerte, brach immerhin mit einem viel zu lange andauernden Tabu.
Folgende Richtlinien, die noch keine konkreten Vorschläge beinhalten, wären aus meiner Sicht sinnvoll:
10 Grundsätze einer möglichen Bodenreform
Auf das Bedürfnis der meisten Bürger nach einem privaten, ungestörten Freiraum zum Wohnen und gegebenenfalls zum Arbeiten muss Rücksicht genommen werden. Enteignungen des unmittelbaren Lebensumfelds wären unzumutbare Härten, die die Akzeptanz einer Landreform bei der Bevölkerung untergraben.
Auch der Wunsch nach Weitervererbung von Haus und Wohnung, von Bauernhöfen und tatsächlichen Familienunternehmen an Blutsverwandte ist als tief verwurzeltes Bedürfnis zu respektieren. Diese Privatbedürfnisse müssen gegen das Bedürfnis der Gemeinschaft nach Schutz vor Bodenmissbrauch und Ausbeutung abgewogen werden.
Wenn Privatbesitz an Boden weiter erlaubt bleibt, sollte er auf eine Größenordnung beschränkt sein, die der Besitzer auch privat — für Wohnen, Schlafen, Arbeiten — oder für Wertschöpfung — Landwirtschaft oder Fabrikation — nutzen kann. Darüber hinausgehender Grundbesitz muss in Gemeinschaftseigentum übergehen.
Statt des Privatbesitzes an Boden könnten diese Bedürfnisse aber auch durch lebenslanges, garantiertes Nutzungsrecht, also ein Pachtsystem, erfüllt werden. Leiblichen Nachkommen könnte in diesem Fall das Erstzugriffsrecht auf das Grundstück eines Verstorbenen zugestanden werden. Eventuell ist auch ein Mischsystem möglich: Ein Grundstück zu pachten, könnte billiger kommen, als es zu kaufen. Wem aber das Gefühl, wirklich Eigentum zu besitzen, sehr viel gibt, für den könnte es diese Möglichkeit weiterhin geben.
Sowohl Pachtzahlungen als auch Mieten und gegebenenfalls Bodenpreise sollten als erstes Kriterium den Grundbedarf einer Familie gemäß dem Recht auf Leben im Auge behalten. Niemand darf durch die Höhe der Pacht oder Miete in Armut oder Obdachlosigkeit getrieben werden. Andererseits würde ein Leistungsanreiz insofern erhalten bleiben, als sich besonders fleißige und hoch qualifizierte Erwerbstätige ein größeres oder auch attraktiveres Grundstück leisten könnten.
Unternehmen sollten durch die anfallende Pacht oder Miete oder durch Grundstückspreise nicht in die Insolvenz getrieben werden. Ebenso wenig sollten Unternehmensgründungen dadurch von vornherein behindert werden. Dies kann durch die Höhe von Pacht, Miete und Grundstückspreisen, aber auch durch Steuern reguliert werden.
Landwirtschaftliche Nutzung schließt bestimmte Auflagen mit ein, die eine sorgsame und nachhaltige Bewirtschaftung gewährleisten. Wenn jemand sein Grundstück nicht als Eigentum, sondern als vorübergehendes Nutzobjekt betrachtet, besteht potenziell die Gefahr einer „Heuschrecken“-Mentalität: ausplündern und weiterziehen. Gesetze müssen jeder Form des Raubbaus, der Bodenauslaugung et cetera entgegenwirken.
Das Nutzungsrecht an einem Grundstück schließt das Verkaufsrecht nicht mit ein. Ein Grundstück kann von seinem Nutzer — Pächter oder Eigentümer — niemals verkauft werden. Es geht an einen Erben, an eine Person mit begründetem Erstzugriffsrecht oder zurück an die Gemeinschaft. Die Zerschlagung von Familienbetrieben und familiär geführten Landwirtschaften sollte ebenso vereitelt werden wie über Generationen akkumulierter übermäßiger Grundbesitz. Die mit Bodenspekulationen und privater Ausbeutung verbundenen Probleme werden durch das Verbot des Verkaufs hinfällig.
Da ein Großteil des privaten Bodenbesitzes im Zuge einer Bodenreform Gemeinschaftseigentum würde, stellt sich die Frage der Entschädigung. Ent-schädigungen sollten so definiert sein, dass sie nur dann anfallen, wenn tatsächlicher Schaden verursacht wird. Der Gemeinschaft dienliche Nutzung sollte durch eine Bodenreform nie verhindert oder erschwert werden. Erschwert oder verunmöglicht werden dagegen Ausbeutung und Wucher, das Profitieren von der Notlage der Landlosen. Ein praktisches Beispiel: Der größte Grundbesitzer in Deutschland, die katholische Kirche, sollte bei einer Landreform sicher gehen dürfen, dass die bestehenden Kirchen, Gemeindehäuser und Sozialeinrichtungen weiter störungsfrei genutzt werden können. Dagegen ist es nicht notwendig, dass die Kirche riesige Waldflächen besitzt oder den Mietern ihrer Immobilien hohe Mieten abverlangt.
Bodenreform und Geldreform gehören zusammen. Silvio Gesell hat zu Recht angemerkt, dass ein Freiwirtschaftssystem — bei dem Zinsen gegen Null gehen und für gehortetes Geld eine „Parkgebühr“ verlangt wird — dazu führen könnte, dass Anlagekapital vermehrt in den Erwerb von Grundstücken fließt. Das würde eine weitere Konzentration des Reichtums an Boden in den Händen Weniger und die Gefahr größerer Ausbeutung der Landlosen durch Pachtzahlungen und Mieten bedeuten. Außerdem gilt: Wenn Bürger durch Pachtzahlungen belastet werden, müssen sie dafür auf anderen Gebieten entlastet werden. Das könnte vor allem durch das Wegfallen der Zinslast geschehen, die — versteckte Zinsen inbegriffen — heute rund ein Drittel der Gesamtbelastung von öffentlichen und privaten Haushalten ausmacht.
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