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Der globalistische Grundkonsens

Der globalistische Grundkonsens

Der liberale Kampf gegen kollektive Identitäten und die Herausforderung einer gesellschaftlichen Antwort.

Der neoliberale Grundkonsens, den die derzeit noch maßgeblichen politischen Kräfte und Regierungsparteien in Europa mittragen, ist eine Allianz, die sich primär aus wirtschaftsliberalen Akteuren einerseits und linksliberalen Akteuren andererseits zusammensetzt. Unterschiede gibt es hier lediglich in Form tagespolitischer Meinungsverschiedenheiten, in programmatischen Akzentuierungen und thematischen Schwerpunktsetzungen. Entscheidend sind jedoch zwei Gemeinsamkeiten: Die Befürwortung des kapitalistischen Wirtschaftssystems einerseits und das Verfechten eines „kosmopolitischen“ Globalismus andererseits, mit der Folge einer mehr oder weniger offen kommunizierten Befürwortung von Freihandel, Globalisierung, Migrationsfreiheit und offenen Grenzen. Mit der Zusammenführung dieser zentralen programmatischen Punkte im Rahmen des neoliberalen Grundkonsens ergibt sich zugleich eine effektive neoliberale Strategie, kritische Positionen auf eine diskursiv vernichtende Weise zu etikettieren: So wird etwa aus dem Versuch, heimische Arbeitsplätze vor den Kräften und Auswirkungen der Globalisierung schützen zu wollen, „Nationalismus“ (vgl. Medick 2016), womit jeder, der sich der gemeinsamen Position von Wirtschafts- und Linksliberalen widersetzt, entsprechend diskreditiert ist. Es wird deutlich: Eine der neoliberalen Kernkompetenzen in der politischen Auseinandersetzung ist die Sprachpolitik.

Die Allianz von Wirtschaftsliberalismus und Linksliberalismus

Diejenige Linke, welche in Europa mit diesen neoliberalen Kräften alliierte, steht vor bedeutenden Problemen. Die historische Allianz von Neoliberalen, welche den freien Verkehr von Kapital und frei verfügbares Humankapital brauchte, und sozialdemokratischen Kräften und Grünen, welche die Personenfreizügigkeit als Fortschritt sahen (vgl. Müller 2016a), wird nicht von links, sondern von rechts herausgefordert. Die Rechte in weiten Teilen Europas gewinnt Zulauf unter anderem von der ehemaligen Klientel der Sozialdemokratie, die aus den Entwicklungen der letzten 30 Jahre am wenigsten profitierte. In einer neoliberalen Europäischen Union sind es einzig noch die Nationalstaaten, welche Demokratie und sozialen Ausgleich versprechen. Der alte Traum der Linken, den Nationalstaat zu überwinden, entpuppt sich als Albtraum.

Die sozialdemokratischen und grünen Parteien Europas sind längst selbst neoliberal imprägniert – und ziehen neoliberal denkende Menschen an. Ja, sogar noch erfolgreicher als jene sich offen als liberal bezeichnenden Parteien, denn sie verbinden in noch stärkerer Form ihren Wirtschaftsliberalismus mit linksliberalem Gedankengut und damit mit einer politischen Assoziation, die in der heutigen, moralistisch geprägten politischen Kultur anschlussfähiger ist: Gesellschaftspolitische Liberalität, ein linkes und (!) zugleich individualistisches Lebensgefühl sowie eben, nicht zuletzt, offene Grenzen und Willkommenskultur lassen beim progressiv-urbanen Wähler von heute die (bisweilen naive) Assoziation einer freundlichen und modernen Politik aufkommen, die im Grunde nicht falsch sein kann.

Alles, was dieser Programmatik, in die sich auch Begleitentwicklungen wie etwa der amerikanische Kulturimperialismus – makrosoziologisch übersetzt: die globale Ausbreitung einer westlichen „Weltkultur“ (vgl. Meyer 2005) – glatt einfügen, entgegenwirkt, muss aus dieser Sicht politisch bekämpft werden: Der Rechtspopulismus-Vorwurf ist mittlerweile nahezu vollständig in die politische und mediale Kommunikation übergegangen, Patriotismus ist insbesondere in Deutschland im Grunde nur noch als Fußballpatriotismus oder als durchrationalisierter „Verfassungspatriotismus“ denkbar. Sozialismus muss stets zur Sozialdemokratie abgefedert werden, um politisch anschlussfähig zu sein – und die AfD war so lange kein „Enfant terrible“, wie sie noch unter ihrem früheren Vorsitzenden Bernd Lucke vor allem einen offenen Rechtsliberalismus predigte.

Die hier skizzierten Vorstellungen von Linksliberalen und Wirtschaftsliberalen bilden den neoliberalen Grundkonsens. Deutlich sollte damit auch werden, dass der Begriff des „Neoliberalismus“ mehr ist als bloß ein antikapitalistischer Kampfbegriff, dass er eine ausgearbeitete Bezeichnung für ein politisches Denken ist, das sowohl, wie hier der Fall, der eigenen Abgrenzung, als auch der eigenen Verortung dienen kann. Neoliberalismus ist mehr als ein diffuses Etwas; es ist ein politisch reales und empirisch fassbares Phänomen (vgl. hierzu auch Müller 2016b).

Die (neo-)liberale Bekämpfung kollektiver Identitäten

Es liegt auf der Hand, dass aus der globalistischen Perspektive eines solchen Denkens kollektive Identitäten wie vor allem die der Nation als hinderlich betrachtet werden. Sei es in Sachen Protektionismus versus Freihandel, sei es Sachen Staatsgrenzen versus freien Verkehr von Humankapital oder sei es in Sachen soziale Rechte versus wirtschaftliche Standortfaktoren: Der Nationalstaat hat sich in vielerlei Punkten als Bollwerk gegen die Kräfte der Globalisierung erwiesen (was freilich nicht ausschließt, dass nationalstaatliche Regierungen eine globalisierungsfördernde Politik betreiben – dies relativiert aber nicht die besagte Rolle der Nationalstaatlichkeit als solcher). Auch im Zuge der nicht wirklich beendeten Eurokrise hat sich gezeigt, wie es die „pro-europäischen“, will heißen Pro-EU-Kräfte waren, die europäische Integration und damit die weitere Aushebelung nationalstaatlicher Souveränität zum Zwecke der Etablierung kontinentaler Bankenrettungsmechanismen vorantrieben – vor allem, aber nicht nur auf Kosten eines politisch ohnehin schon entmündigten Griechenlands.

Man erliegt jedoch trotz dieser eigentlich recht einfachen und nicht allzu komplexen Erkenntnis einem Irrtum, wenn man meint, die Bekämpfung kollektiver Identitäten durch den neoliberalen Globalismus sei allein das Resultat eines pragmatischen oder strategischen Bündnisses, welches seine bekannten Ziele auf möglichst effektive Weise zu realisieren sucht und deswegen zufällige Gegenspieler wie den Nationalstaat ausschalten will. Eine solche Sichtweise würde ignorieren, dass die Bekämpfung kollektiver Identitäten dem Liberalismus als solchem – und damit nicht nur dem Neoliberalismus – geistesgeschichtlich innewohnt.

Das die Moderne wie auch die Postmoderne auszeichnende gesellschaftliche Phänomen des Individualismus, die Priorisierung des Individuums vor jeglicher Art des Kollektivs, ist ein unverrückbarer Bestandteil eines jeden liberalen Denkens. Somit muss letztendlich alles, was das Primat der individuellen Selbstbestimmung gefährden könnte – und dazu zählt der Nationalstaat genauso wie auch der Sozialstaat – im Zweifel hinter ihm zurückstehen und ist allenfalls so lange akzeptabel, wie es für eben dieses Primat keine signifikante Gefahr darstellt. Anders gesagt: Im liberalen Denken ist das einzige, was im Falle des Nationalstaats eigentlich schützenswert ist, seine liberal-demokratische Verfassung, die man aber auch problemlos auf die globale Ebene projizieren könnte. Alles übrige – die nationale (und nicht nur nationalstaatliche) Identität, die kollektive Selbstdefinition als Volk – ist demgegenüber mindestens zu vernachlässigen bis schlicht hinderlich.

Ja, sogar noch mehr: Das Politische als solches ist für den Liberalismus letztendlich ein Hindernis, da es naturgemäß auf kollektive Einheiten rekurriert (vgl. Luhmann 2002: 254), die, ebenso naturgemäß, im Zweifel dem Individuum entgegenstehen. Carl Schmitt als einer der bekanntesten Vertreter der Liberalismus-Kritik drückt es aus wie folgt: „Die Frage ist aber, ob aus dem reinen und konsequenten Begriff des individualistischen Liberalismus eine spezifisch politische Idee gewonnen werden kann. Das ist zu verneinen. Denn die Negation des Politischen, die in jedem konsequenten Individualismus enthalten ist, führt wohl zu einer politischen Praxis des Misstrauens gegen alle denkbaren politischen Mächte und Staatsformen, niemals aber zu einer eigenen positiven Theorie von Staat und Politik“ (Schmitt 2015: 64). Dieses dem liberalen Denken stets innewohnende Misstrauen muss immer auch ein Misstrauen gegen kollektive Identitäten bedeuten, welche sowohl als das Ergebnis als auch als die Ursache (wahrhaft) politischer Machtausübung betrachtet werden können. Die Bekämpfung kollektiver Identitäten ist somit nicht bloß ein strategisch-politisches Ziel des Neoliberalismus, sondern ein geistesgeschichtlich erklärbarer Kern des Liberalismus als Ganzes, auf dem der Neoliberalismus logischerweise fußt und auf den er aufbaut.

Das Verhältnis von (politischem) Liberalismus einerseits und Neoliberalismus andererseits wird im Folgenden nochmals genauer aufgegriffen werden. Zunächst soll jedoch ein Blick erfolgen auf das aus der oben dargelegten Diagnose folgende Konglomerat an politischen Inkonsequenzen und, ja, Lebenslügen seitens derer, die sich doch eigentlich als dezidiert nicht neoliberal verstehen.

Linke Lebenslügen

Eine klassisch „linke“ Lebenslüge besteht in der Vorstellung, man könne auf eine sozialere Gesellschaft hinsteuern, ohne dabei den Nationalstaat als historisch zutiefst erfolgreiche Institution, der unter anderem die Verwirklichung sozialer Rechte zu verdanken ist, zu bewahren. Und dieses „Bewahren“ besteht nicht einfach nur in dem formalen Weiter-Bestehen-Lassen oder in dem Delegieren staatlicher Funktionen an andere, supranationale Organisationen wie die EU, sondern es bedeutet den Schutz jener Elemente, die für den Nationalstaat wesensprägend sind: Allen voran seine Souveränität und Selbstbestimmung, seine Grenzen, seine kollektive Identität. Der (forcierte) Wegfall von Souveränität und Selbstbestimmung, von Grenzen und Identität schafft kein soziales Miteinander – er zerstört es, indem er soziale Konflikte herbeiführt, sowohl um Besitz und Materielles als auch um Macht und Deutungshoheiten.

Und hierbei ist es letztlich egal, ob man diese persönlich nachvollziehen kann oder nicht, ob man, wenn es so käme, in diesen Konflikten partizipieren würde oder nicht, ob man Partei ergreifen oder ob man vermitteln würde und ob man derartige Verteilungskämpfe und Machtkonflikte persönlich für begründet hält oder nicht – sie würden kommen, weil andere sie für begründet halten. Allein das sollte eigentlich Grund genug sein, sich von der Lebenslüge einer globalen Grenzenlosigkeit zu verabschieden.

Es ist bei der politischen Linken üblich geworden, die Forderung nach einem solidarischen Internationalismus mit dem Globalismus der Neoliberalen zu verwechseln: Der solidarische Kampf der Völker gegen Unterdrückung und Ausbeutung – versehen mit einer Bezeichnung, die den Begriff der „Nation“ eben durchaus noch enthält, womit weiterhin auf eine kollektive Identität rekurriert wird! – wird verwechselt mit der Auflösung von Grenzen und Staatlichkeit, von Unterschieden und der Unterscheidung von „wir“ und „den anderen“, womit man ausgerechnet auf jene hereinfällt, die schon Anfang der 1990er-Jahre triumphierend das „Ende der Geschichte“ zugunsten einer globalen, freien, bald staatenlosen Marktwirtschaft verkündet haben. Es wäre an der Zeit, dass die Linke diesen historischen Fehler korrigiert und die Erkenntnis akzeptiert, dass das primäre Bollwerk gegen das, was sie seit jeher bekämpft hatte, der Nationalstaat darstellt – mit allen Elementen, die nun mal zu ihm gehören (siehe oben), denn es gibt ihn nur ganz oder gar nicht. „Ein bisschen Selbstbestimmung“ ist keine Selbstbestimmung, „ein bisschen Identität“ ist keine Identität und „ein bisschen Grenzhoheit“ (die de facto dann doch wieder etwa von autokratisch-islamistischen NATO-Machthabern am Bosporus abhängt) ist keine Grenzhoheit.

Der „politische Liberalismus“ als positive Abgrenzung zum Neoliberalismus?

Dieser Beitrag enthält bereits in seinem Untertitel sehr bewusst die Aussage, dass hier nicht nur von Charakteristika des Neoliberalismus die Rede ist. Warum ein Abschied vom reinen Wirtschaftsliberalismus nicht ausreichen kann, sollte der letzte Abschnitt deutlich gemacht haben. Warum aber auch ein bloßer Abschied vom Neoliberalismus nicht ausreichen, sondern nur ein Abschied vom Liberalismus als solchem als konsequenter politischer Schritt im Rahmen einer „sozialistischen Antwort“ bewertet werden kann, soll im Folgenden dargelegt werden.

Der Begriff des „politischen Liberalismus“ wird auch von nicht wenigen Linken oft als positiver Gegenbegriff zur Variante des Wirtschafts- oder des Neoliberalismus verstanden, gewissermaßen als „der nette Zwillingsbruder“ des bösen Buben, welchem wir unsere Grundrechte, ja sogar die universalen Menschenrechte zu verdanken haben, der uns also vor Diktaturen schützt und dem Bürger seine mündige Rolle sichert, der das gute Individuum vor das böse Kollektiv stellt (der moralistische Mantel dieser Unterscheidung ist stets Teil der liberalen Semantik), und der aus all diesen Gründen von den Parteien der „demokratischen Mitte“ befürwortet wird.

Eine solche Romantisierung verkennt die beträchtlichen Problematiken, die mit dem Phänomen des sogenannten politischen Liberalismus verknüpft sind. Denn letzten Endes ist es nicht denkbar ohne die konsequente Fortführung hin zu wirtschafts- und letztlich neoliberalem Gedankengut. Ein systemtheoretischer Blick auf das Phänomen vermag für eine Erklärung dieser These hilfreich sein.

Aus dieser Sichtweise heraus ist die makrosoziologische Übersetzung dessen, was der klassische politische Liberalismus anstrebte, erreichte und nun bewahren will, das Prinzip der funktional differenzierten Gesellschaft: Damit einher geht – im Zuge dessen, was Carl Schmitt als Entpolitisierung beschrieb (vgl. Schmitt 2015: 63) – der Verlust des Primats des Politischen, hin zu einer Gleichrangigkeit des politischen Systems mit den anderen Funktionssystemen der Gesellschaft, wie etwa Recht, Wissenschaft, Wirtschaft, Erziehung, Religion, Kunst, Sport, Massenmedien und Gesundheit. Gewährleistet wird dies durch die verfassungsmäßigen Grundrechte, welche die Autonomie der Funktionssysteme vor der Intervention der Politik schützen sollen (vgl. Luhmann 1990: 201; Luhmann 1995: 481).

In diesem Rahmen unterscheidet sich die Autonomie des Funktionssystems Wirtschaft nicht von der beispielsweise der Funktionssysteme Recht oder Massenmedien. Oder anders gesagt: Das Prinzip der Marktwirtschaft ist dem sogenannten politischen Liberalismus stets ebenso wichtig wie die Gewaltenteilung oder die Pressefreiheit. Hier gibt es für ihn weder Abstufungen noch konzeptionelle Differenzierungen; all dies ist für ihn voneinander untrennbar. Und damit, das heißt mit dieser Prämisse der Ablehnung jeden politischen Primats über die Wirtschaft wie auch über Recht oder Massenmedien, wird auch der Wirtschafts- und in der Folge der Neoliberalismus zu einem untrennbaren, fest verschweißten Bestandteil dessen, was so beschönigend unter „politischem Liberalismus“ läuft und verstanden wird. Es gibt das eine nicht ohne das andere.

Dies gilt im Mindesten jedenfalls dann, wenn der sogenannte politische Liberalismus konsequent gedacht und angewendet wird. Doch auch, wenn dies mitunter nicht der Fall ist, so macht es das nicht wirklich besser: In diesem Fall dann steht er nicht selten für weltanschauliche Beliebigkeit, die sich in Form einer zuweilen fast pathetischen Überhöhung pluralistischer Vorstellungen äußert, im Zuge derer Ideologien und Weltanschauungen ihre wichtige Rolle für die politische Kommunikation einbüßen und politische Akteure, wie vor allem Parteien, nach innen und nach außen zu Organisationen verkommen, die jederzeit überall alles vertreten können, ohne dass sich über Kurswechsel noch jemand wundert. Perfektioniert hat diese Form der prinzipienlosen, opportunistischen und für politische Karrieristen attraktiven Entideologisierung die CDU unter Angela Merkel.

An diesem Punkt ist das moderne Phänomen der funktionalen Differenzierung beziehungsweise des sogenannten politischen Liberalismus zu einem postmodernen geworden: Für alle muss jederzeit immer alles möglich sein, ohne Bindung, ohne Verantwortung, ohne Klarheit, ohne zeitliche und / oder räumliche Grenzen. Ergebnis dieser postmodernen Entwicklung ist die politische Paralyse des Staatsvolkes, das zum Opfer dessen wird, was der Soziologe Emile Durkheim als „Anomie“ beschrieben hat (vgl. Durkheim 1983), des Verlustes von gesellschaftlichen Normen und Werten, zum Opfer von gesellschaftlicher Desintegration.

Diese kurze Analyse sollte hinreichend gezeigt haben, dass die Abgrenzung zum Wirtschafts- und zum Neoliberalismus nicht gelingen kann, solange der sogenannte politische Liberalismus parallel dazu lobgepriesen wird. Das positive Image, welches er in weiten Teilen des politischen Spektrums trotz all dieser Entwicklungen noch immer genießt, mag immer noch eine nur schwer zu beseitigende Spätfolge des Endes des Kalten Krieges sein, im Zuge dessen die Vertreter dieser Denkrichtung ein Jahrzehnte währendes Siegesgefühl herausgebildet haben, das noch heute die Argumentation vergiftet. Damit aber kann und darf man sich nicht abfinden, wenn man sich mit den bestehenden Verhältnissen insgesamt nicht abfinden kann.

Sozialismus versus Sozialkonstruktivismus

Mit dem letzten Abschnitt sollte vor allem eine Begründung für die These geliefert werden, dass der Abschied vom Neoliberalismus nur erfolgen kann, wenn damit auch ein Abschied vom politischen Liberalismus und damit vom Liberalismus als Ganzes einhergeht. Mit Halbheiten und Inkonsequenzen ist es hier nicht getan, zumal die Vertreter des (Neo-)Liberalismus genau diese klug für sich zu nutzen wissen würden. Dabei stellt sich allerdings die Folgefrage, ob und wenn ja, inwieweit eine „sozialistische Antwort“ imstande sein kann, das Bedürfnis nach kollektiven Identitäten in sich widerzuspiegeln und zu vertreten, während die politische Linke zugleich fleißig daran arbeitet, gesellschaftlich institutionalisierte Kategorien wie etwa Geschlecht, Behinderung, Volk und Nation zu dekonstruieren.

Nun ist es aber ein postmoderner Irrtum zu glauben, mit Sozialkonstruktivismus ließen sich kapitalistische Strukturen und soziale Ungleichheit beseitigen. Im Gegenteil: Die Konzentration auf die soziale Dekonstruktion von gesellschaftlichen Kategorien wie den oben genannten ist allenfalls und im besten Sinne als das Ergebnis einer raffinierten und dadurch gelungenen, links- und dadurch neoliberalen (siehe oben) Manipulation zu bewerten, im Zuge derer die Linke ihren Kampf auf in akademischen Kreisen prestigeträchtige Nebenschauplätze (Geschlechtergleichstellung, Inklusion und so weiter) verlagert hat, während sie dadurch auf den für die arbeitende Klasse relevanten gesellschaftlichen Hauptschauplätzen (Ökonomie, Umverteilung, Globalisierung, Sozialstaat, Währungspolitik) weitestgehend das Feld räumt und sie dadurch der Gestaltung durch die neoliberalen Kräfte überlässt.

Und diese Erklärung ist noch wohlwollend. Mit Blick auf weite Teile der grünen und der sozialdemokratischen Parteien Europas kann hier schlicht davon ausgegangen werden, dass die Übernahme und Verfolgung der besagten sozialkonstruktivistischen Ziele schlicht und einfach selbst einem neoliberalen Kalkül entspringt, das auf den Versuch eines „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“ abzielt.

Hinzu kommt: Wer sich die soziale Dekonstruktion von zentralen und hoch institutionalisierten gesellschaftlichen Kategorien zum Ziel gesetzt hat, der muss sich nicht wundern, wenn dann am Ende des Tages auch Werte dekonstruiert werden, die ihm selbst eigentlich am Herzen liegen. Das auch in diesem Beitrag vielgebrauchte Wort von der „Postmoderne“ bezeichnet nicht weniger als genau diesen Vorgang: Die absolute Relativierung, die völlige Kontingenz. Jahrhunderte alte konservative Institutionen wie Ehe und Familie mögen de-institutionalisiert oder zumindest im Begriff sein, dies zu werden – mit dem sozialistischen Wert der Solidarität ist es aber eben auch nicht zwingend anders. Der neoliberale Individualismus macht vor nichts Halt; auch die postmoderne Relativierung, die völlige Dekonstruktion kollektiver Identitäten und Institutionen gibt es nur ganz oder gar nicht. Dies muss bedenken, wer sich derartiges zum Ziel setzt.

Vor diesem Hintergrund ist nicht bloß in Frage zu stellen, inwieweit dieser postmoderne linke „Trend“ die Kriterien eines sozialistischen Ideals erfüllt. Die Antwort ist vielmehr glasklar: Er tut es nicht. Ja, er arbeitet ihm entgegen – begleitet von der oben thematisierten, im Zuge der Verwechslung von Globalismus und Internationalismus angestrebten Entmachtung der einzigen politischen Entität, welche der neoliberalen Globalisierung ernstlich etwas entgegenzusetzen hat – dem Nationalstaat.

Fazit und Ausblick

Eine sozialistische Antwort auf die (neo-)liberale Bekämpfung kollektiver Identitäten ist nicht möglich, solange mit einer solchen die – eben im Kern neoliberale – Zielsetzung einer sozialen Dekonstruktion und damit Bekämpfung der Kategorien Nationalstaat, Nation und Volk verbunden sein soll. Im Zuge einer solchen Perspektive liegt keine „Antwort“ vor, sondern nur die offen kommunizierte Bereitschaft zum Instrumentalisiert-Werden zwecks Aufrechterhaltung kapitalistischer Strukturen – anders gesagt: Die politische Kapitulation.

Es kann also nur darum gehen, seinen Frieden mit den besagten Kategorien, mit der Aufrechterhaltung kollektiver Identitäten zu machen, welche es letztlich sogar erst ermöglichen, so etwas wie gemeinschaftliche Solidarität fühlbar und erfahrbar zu machen. Eine Ansammlung von Millionen einzelnen Individuen, die nichts eint außer der Ablehnung kollektiver Identitäten und gesellschaftlicher Kategorien, ist der Traum eines jeden politischen Akteurs, der gesellschaftlichen Zusammenhalt als Gefahr ansieht: „There is no such thing like society. There are only individuals.“ (Margaret Thatcher; zitiert nach Abels 2007: 42).

Es deutet sich jedoch, nicht zuletzt infolge der politischen Entwicklungen in Europa in den letzten Jahren, ein politischer Wandel an, der hoffen lässt: Die Position und die Erkenntnis, dass eine Welt ohne Grenzen und ohne kollektive Identitäten nicht zwingend eine bessere Welt ist, scheint sich mehr und mehr durchzusetzen. Dem Ideal einer sozialistischen Transformation der Gesellschaft wird dies nicht schaden – im Gegenteil.


Redaktionelle Anmerkung: Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine überarbeitete Version des gleichnamigen Artikels auf dem Blog „Le Bohémien“ vom 16. April 2017.


Literatur:

  • Abels, Heinz (2007). Einführung in die Soziologie (3. Aufl.). Wiesbaden: VS.
  • Durkheim, Emile (1983). Der Selbstmord. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Luhmann, Niklas (1990). Verfassung als evolutionäre Errungenschaft. In: Rechtshistorisches Journal 9 / 1990, 176-220.
  • Luhmann, Niklas (1995). Das Recht der Gesellschaft (1. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Luhmann, Niklas (2002). Die Politik der Gesellschaft (1. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Medick, Veit (2016). Trumps Anarcho-Strategie. Kommentar auf Spiegel Online. http://www.spiegel.de/politik/ausland/donald-trump-die-anarcho-strategie-des-neuen-praesidenten-kommentar-a-1125799.html (Abfrage 28.02.2017).
  • Meyer, John W. (2005). Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen (1. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Müller, Sebastian (2016a). Die neoliberale Invasion. Interview mit den Nachdenkseiten. http://www.nachdenkseiten.de/?p=36299#more-36299 (Abfrage 28.02.2017).
  • Müller, Sebastian (2016b). Der Anbruch des Neoliberalismus. Westdeutschlands wirtschaftspolitischer Wandel in den 1970er Jahren. Wien: Promedia.
  • Schmitt, Carl (2015). Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien (9. Aufl.). Berlin: Duncker & Humblot.


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