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Der Finanz-Wahnsinn

Der Finanz-Wahnsinn

Der Finanzkapitalismus zerstört die Reste der Demokratie.

In den letzten Wochen hatte die Erinnerung an die Pleite von Lehman Brothers in den Medien Hochkonjunktur. Hat die Politik, hat die Branche selbst, so die am häufigsten gestellte Frage, ihre Lektion aus der Finanzkrise von 2008 gelernt? Die Antwort darauf war überwiegend ein klares Nein, hin und wieder auch ein Jein, die „frohe“ Botschaft lautete fast immer: Die nächste Krise wird bestimmt kommen, in einer anderen Form und vielleicht auch an einem anderen Ort.

Versuche, den Ursachen der zweiten Weltfinanzkrise auf den Grund zu gehen, reichten in den meisten Analysen und Kommentaren bis zur Deregulierung der Finanzmärkte in den 1990er Jahren oder bestenfalls bis zu Margaret Thatcher, die parallel zur Zerschlagung britischer Gewerkschaften durch Abschaffung sämtlicher Finanzhemmnisse zu einem Befreiungsschlag ausholte, um den Finanzplatz London an die Spitze des Finanzsektors zu hieven. Neoliberale, wie Hans-Werner Sinn, führen die Finanzkrise 2008 schlicht auf „die Krise des angelsächsischen Finanzsystems“ zurück, das „zum Kasinokapitalismus mutierte und leider auch in Europa immer mehr Nachahmer fand“ (1).

So gut wie selten wird jedoch thematisiert, woher die Finanzmärkte gespeist werden und ob die Welt oder gar der Kapitalismus selbst diesen spekulativen Finanzsektor überhaupt braucht, der zwangsläufig Krisen produziert. Mit dem Ignorieren dieser meines Erachtens fundamentalen Fragen wird aber unterstellt, dass der Finanzsektor etwas Naturnotwendiges ist, und dass es deshalb darum gehen muss, die „Fehlentscheidungen“ der Vergangenheit in der Zukunft zu vermeiden.

Diese Annahme und die Beschränkung des politischen Handelns auf die Einführung von irgendwelchen Regularien, wie die Bankenaufsicht et cetera, lenken aber in Wirklichkeit ganz im Sinne des Finanzkapitals von den eigentlichen systemischen Ursachen des Übels ab. Ein tieferer Blick in die Geschichte – sowohl in die 1920er wie auch in die 1980er Jahre – reicht jedoch aus, um zu erkennen, dass der spekulative Finanzsektor das Ergebnis eines Systemwechsels im Kapitalismus ist.

Die Symptome dieses Systemwechsels sind übrigens in allen kapitalistischen Staaten beinahe gleichzeitig aufgetreten: eine steigende Schuldenquote, die steigende Massenarbeitslosigkeit, eine sinkende Lohnquote – letztere übrigens als Indiz einer gigantischen Umverteilung von unten nach oben – und im Ergebnis auch eine dramatische Aufblähung des spekulativen Finanzsektors (2). So stieg das Finanzvolumen von weltweit 5 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts im Jahr 1975 auf 160 Prozent 2008. Sinkende Löhne bescherten den Unternehmern überschüssige Gewinne, die diese angesichts schrumpfender Binnenkaufkraft nicht mehr in der Realwirtschaft investierten, sondern den Banken und Vermögensverwaltern überließen.

Insofern ist der spekulative Finanzsektor nicht plötzlich vom Himmel gefallen und er ist auch kein Naturereignis, sondern das Ergebnis der Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu Gunsten der globalen Unternehmer, Immobilienbesitzer und Rohstoffeigentümer. Fortan flossen auch die oft vernachlässigten und bis dato in der Realwirtschaft investierten Immobilien- und Rohstoffrenten in den Finanzsektor – genauso wie die Pensionsfonds und Rücklagen aus Versicherungen, die diesen beflügelten.

Der Finanzsektor speist sich auch nach der Finanzkrise 2008 weiterhin aus diesen Quellen. So konnte der Anteil des globalen Finanzvolumens, das zunächst als Folge der Finanzkrise zwischen 2008 und 2013 von 160 Prozent auf 88 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gefallen war, erneut auf gegenwärtig circa 180 Prozent ansteigen. Um die Finanzkrise zu bewältigen, wurden in der EU zwischen 2008 und 2015 rund 2.000 Milliarden Euro an den Finanzsektor ausbezahlt. Kein Wunder, dass – allein in Deutschland – heute 40 Prozent der Menschen weniger Einkommen beziehen als 1997. Kein Wunder auch, dass im reichen Deutschland immer mehr Menschen keine bezahlbaren Wohnungen mehr finden können.

Die steigende Staatsverschuldung und die in der Verfassung verankerte Schuldenbremse zwangen Länder und Kommunen dazu, circa 2,5 Millionen Sozialwohnungen zu verscherbeln. In weniger reichen oder gar armen EU-Ländern, wie in Italien, Spanien, in Portugal und vor allem in Griechenland, dominiert mittlerweile Massenarbeitslosigkeit, Massenarmut und eine dramatische Absenkung des Lebensstandards.

Die nächste Finanzkrise kommt ganz sicher, weil ihre Quellen weiter sprudeln und weil die Regierungen der kapitalistischen Staaten offenbar entweder nicht begriffen haben, dass man das Übel an der Wurzel packen muss, oder sie beugen sich weiterhin dem Diktat des Finanzsektors und streuen mit aktionistischem Klein-Klein Sand in die Augen von Abermilliarden betroffener Menschen. Die heikle Frage, die heute angesichts der zu erwartenden dritten Weltfinanzkrise offen gestellt werden muss, ist:

Kann es der Politik wieder gelingen, den Menschen erneut mehrere Tausend Milliarden Euro oder Dollar zur Bankenrettung aus den Taschen zu ziehen – und werden die Menschen dazu bereit sein, diese Last noch einmal zu tragen?

Werden wir dann vor ähnlichen Verhältnissen stehen wie in den 1920er Jahren? Mir geht es nicht um Panikmache, sondern darum, dieses schreckliche Szenario verhindern zu helfen.


Quellen und Anmerkungen:

(1) http://www.fr.de/wirtschaft/lehman-pleite-der-grosse-knall-a-1582926,0
(2) Vertiefende Informationen im letzten Buch des Autors „Braucht die Welt den Finanzsektor?“, VSA Verlag Hamburg, 2017, S. ff.


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