Nach 19 Monaten der faktischen Auseinandersetzung mit all den Themenbereichen, die der Komplex „Coronavirus“ umfasst, sind die Geduld und das Verständnis einer immer größer werdenden Bevölkerungsgruppe erschöpft. Die ständigen Versprechen, die uns im „gemeinsamen Kampf gegen das Virus“ immer wieder gegeben und gebrochen wurden, die sich häufenden Widersprüche in den Aussagen der Medien und der Politiker und die reifer werdende Erkenntnis, dass es hier nicht vorrangig um Gesundheit geht, lassen mehr und mehr Menschen nachdenklich werden — zumindest meinem subjektiven Empfinden nach.
Während schätzungsweise ein Viertel der Bevölkerung jegliche Maßnahmen begrüßt, ja regelrecht einfordert, steht diesem Teil ein anderes Viertel gegenüber, das sich klar gegen eine Reihe von Grundrechtseinschränkungen ausspricht. Dazwischen existiert eine große Bevölkerungsgruppe, die ich als die „einfachen Menschen“ bezeichne.
Der „einfache Mensch“
In jedem Herrschaftssystem gibt es stets die grobe Dreiteilung in eine sehr linientreue und eine eher rebellische Minderheit, die die ideologischen Pole bilden, zwischen denen sich eine opportunistische Mehrheit hin und her bewegt. Diese Mehrheit wird von „einfachen Menschen“ geprägt, die sich stets an der aktuell stärker scheinenden Gesellschaftskraft innerhalb des Herrschaftssystems orientiert, selbst wenn ihnen dies offensichtlich zum Nachteil gereicht oder gegen ihre ureigene Moralvorstellung verstößt.
Der Ausdruck „einfacher Mensch“ ist dabei jedoch keineswegs abwertend zu verstehen. Aus meiner Sicht sind diese Menschen die sozialeren und intuitiveren Wesen der Gesellschaft. Sie sind das Fundament einer jeden Gemeinschaft, und dies nicht nur, weil sie eher in Ausbildungsberufen arbeiten, die die Realwirtschaft voranbringen.
Die „einfachen Menschen“ bilden auch das emotionale Bewusstsein einer Gesellschaft, da sie eher aus dem Bauch heraus und damit menschlicher agieren. Menschlich ist hierbei nicht als human, sondern eher als emotionsgeleitet zu verstehen. Zudem verhält sich diese große Bevölkerungsgruppe oft träge, was im politischen Jargon als konservativ bezeichnet wird. Dieser Begriff lässt sich vom lateinischen „conservare“ ableiten, was so viel wie „bewahren“ oder „erhalten“ bedeutet (1).
Aus dieser Perspektive ist jeglicher Schutzgedanke — sei es Naturschutz, Umweltschutz oder Schutz der Bevölkerungsgesundheit — im Eigentlichen eine sehr konservative Haltung, da es um das Bewahren eines Status quo oder das Wiederherstellen, das Heilen einer beschädigten oder gefährdeten Sache geht. Wahrscheinlich würden viele Jüngerinnen und Jünger der „Fridays for Future“-Bewegung sehr verdutzt reagieren, wenn man ihnen eine konservative Haltung attestierte.
Diese verstärkt emotionsgetriebene Handlungsweise ist allerdings ein zweischneidiges Schwert. Grundsätzlich ist Empathie eine essenzielle menschliche Eigenschaft.
Emotionen sind vor allem in der oft so kalt scheinenden Welt wichtig und notwendig. Zugleich lassen sich Emotionen aber sehr leicht manipulieren. Die zielgerichtete emotionale Manipulation eines großen Teils der Bevölkerung nennt man Propaganda.
Die gesellschaftlichen Eliten, die aufgrund ihres vom Kapital beflügelten Einflusses ihre Interessen über die Medien verstärkt geltend machen können, prägen das gesellschaftliche Klima vor allem über diesen Hebel in erheblichem Maße, da die „einfachen Menschen“ stark darauf ansprechen. Dies hat allerdings nicht zwangsläufig etwas mit Intelligenz oder dem Bildungsgrad zu tun.
Das Ringen um die Massenseele
Seitdem der Mensch sich in größeren Gruppen organisiert und dadurch eine Form der gesellschaftlichen Führung durch eine Einzelperson, einen Personenkreis oder ein Konsensverfahren notwendig wurde, ist die vorrangig emotionsgeleitete Handlungsweise der Masse „einfacher Menschen“ vermutlich bekannt. Darum hat es zu allen Zeiten mächtige Menschen gegeben, die es verstanden, große Menschengruppen anzuführen.
Diese Menschen haben den oben erläuterten Umstand erkannt und daraufhin einen Weg gefunden, die Mehrheit emotional zu erreichen. Aufmüpfige Individuen gefährden dabei das von ihnen etablierte Machtgefüge, weshalb diese entweder argumentativ entwaffnet oder emotional niedergerungen werden müssen, um den Status quo zu erhalten. Das zweite ist aus mehreren Gründen häufig der effektivere Weg.
Die allgemeine Grundstimmung, der stille Konsens, der das Machtgefüge wie ein Kleber zusammenhält, wurde von Gustave Le Bon als Massenseele bezeichnet:
„Unter bestimmten Umständen, und bloß unter diesen, besitzt eine Versammlung von Menschen neue Merkmale, ganz verschieden von denen der diese Gesellschaft bildenden Individuen. Die bewusste Persönlichkeit schwindet, die Gefühle und Gedanken aller Einheiten sind nach derselben Richtung orientiert. Es bildet sich eine Kollektivseele, die wohl transitorischer Art, aber von ganz bestimmtem Charakter ist“ (2).
Diese Massenseele ist der Spielball, um den der rebellische und der linientreue Bevölkerungsteil stets miteinander ringen. Selbstredend ist dieses Ringen um die Massenseele zwischen einer rebellischen Minderheit und den derzeitigen Statthaltern der Macht eine ungleiche Auseinandersetzung, weil die stärkere Macht die Masse der „einfachen Menschen“ automatisch anzieht.
Die Liebe zum Status quo, die grundsätzlich konservative Haltung und die geringe Empfänglichkeit für reine Rationalität der „einfachen Menschen“ spielt den aktuellen Statthaltern ganz von selbst in die Karten. Eine Änderung des Status quo kann darum nur dann erreicht werden, wenn die Massenseele emotional stark erregt wird.
Gustave Le Bon gibt in „Psychologie der Massen“ viele historische Beispiele für starke Erregungen der Massenseele, die mit größerem historischen Abstand aus unserer Sicht völlig unverständlich erscheinen. Beispielsweise berichtet er von der Bergung eines vermissten Mädchens. Sie wurde von verschiedenen Personen — sogar von der Mutter der Vermissten selbst — identifiziert und für tot befunden. Erst bei ihrer Beerdigung wurde zufällig klar, dass diese vermeintliche Tote weder das vermisste Mädchen noch tatsächlich gestorben war (3).
Für die im Zuge der Coronapandemie immer deutlicher hervortretende rebellische Minderheit sind viele Handlungen im Kampf gegen das Virus lebendiger Ausdruck einer solchen überreaktiven Erregung der Massenseele. Darum werden einzelne zum Nachdenken anregende Ereignisse — wie die inzwischen in Vergessenheit geratenen Skandale um die Intensivbettenzahlen oder die Maskendeals — stets mit einer täglichen Flut emotionaler Meldungen hinfortgespült, sodass die Erregung aufrechterhalten werden kann, um die „Neue Normalität“ weiter voranzutreiben.
Als ein weiteres Beispiel führt Gustave Le Bon eine Influenzapandemie des 19. Jahrhunderts an, „infolge derer [sic] vor einigen Jahren in Paris fünftausend Menschen innerhalb weniger Wochen starben“.
Dies „machte auf die Volksfantasie wenig Eindruck. Freilich ward diese wahre Hekatombe nicht durch ein sichtbares Bild kenntlich, sondern nur durch die täglichen statistischen Berichte. Ein Unfall, der statt fünftausend nur fünfhundert Menschenleben verschuldet hätte, aber dies an einem einzigen Tage, auf einem öffentlichen Platze, in recht sichtbarer Weise, zum Beispiel der Zusammenbruch des Eiffelturmes, würde im Gegenteil einen ungeheuren Eindruck auf die Einbildungskraft ausgeübt haben (...). Nicht die Tatsachen als solche sind es also, was die Volksfantasie erregt, sondern die Art und Weise, wie sie sich verteilen und darstellen. Sie müssen, sozusagen durch ihre Verdichtung, ein packendes Bild, welches die Seele erfüllt und ergreift, bewirken. Wer die Kunst, die Einbildungskraft der Massen zu erregen, kennt, der kennt auch die Kunst, sie zu regieren“ (4).
Darum sind die Ereignisse in Bergamo mit ihren dramatischen Bildern der Militärtransporte durch den norditalienischen Ort bis heute ein wichtiger Bestandteil des Corona-Narrativs. Statistiken allein sind zu abstrakt; erregende Bilder von vollen Intensivstationen, überforderten Pflegekräften und Desinfektionsmittel versprühenden Schneekanonen beeinflussen die Massenseele unvergleichlich stärker.
Geschwurbel, Populismus und die Macht der Autorität
Das Dilemma, in welchem sich die sogenannte Aufklärungsbewegung befindet, ist wirklich verzwickt. Bevor ich diesen Beitrag begonnen hatte, war ich recht ratlos, über welchen Themenbereich im Kontext der aktuellen Lage man denn noch schreiben könne. „Es ist im Prinzip alles schon gesagt“, war bei den Überlegungen ein häufiger Gedanke. Darum ist es an der Zeit, vorauszudenken und produktive Lösungen zu erarbeiten. Doch wie will man produktive Lösungsansätze kommunizieren, wenn keine Kommunikationsgrundlage besteht?
Weiter oben habe ich erläutert, dass die Gesellschaft mehrheitlich aus „einfachen Menschen“ besteht. Diese „einfachen Menschen“ sind in der Masse nach Le Bon (1895) rational-argumentativ aber nicht zu erreichen. Im Zweifel werden gute Argumentationen von Faktencheckern als „Geschwurbel“ enttarnt, oder die argumentierende Person wird gesellschaftlich diskreditiert. In beiden Fällen werden Emotionen in eine sachliche Debatte hineingetragen, um den eventuellen informativen Mehrwert zu unterminieren. Darum bedienen sich einzelne „rebellische Kräfte“ in der Gesellschaft immer wieder emotionaler und einfacher Kommunikationsstrategien. Wenn diese Form der Kommunikation einen gewissen Erfolg erzielt, wird von der aktuellen Herrschaftsseite versucht, sie als Populismus abzustempeln, da dieser Begriff stark negativ aufgeladen ist. Dabei bedeutet er eigentlich nur, komplexe Inhalte allgemein verständlich zu verpacken und zu vereinfachen.
Wenn in plattester Manier im Spiegel oder in der Tagesschau ein Kommentar abgeliefert wird, der offensichtlich einzig emotionale Erregung zu evozieren versucht, dann ist das natürlich kein Populismus. Auch die Experten bei Maischberger, Markus Lanz und Anne Will „schwurbeln“ nicht, sie diskutieren. Wie ist es möglich, die für einen aufgeklärten Menschen so offensichtlichen Parallelen für den „einfachen Menschen“ zu verschleiern? Dies hat viele Gründe, von denen sich die meisten vermutlich auf die naturgegebene „Macht der Autorität“ und die psychologischen Gesetze der Massen zurückführen lassen.
Die Masse der „einfachen Menschen“ nimmt an, die Statthalter der Macht, die Autoritäten im Fernsehen, in der Zeitung und im Radio wüssten es eben einfach besser.
Wenn diese sagen, nur im Internet würde man „Schwurbler“ finden, während man den offiziellen Quellen vertrauen könne, oder nur die AFD, die Querdenker und Donald Trump würden sich populistischer Argumente bedienen, während von offizieller Seite alles wissenschaftlich, faktenbasiert und gesetzeskonform sei, dann verhält es sich für die Masse der „einfachen Menschen“ auch so. Genau so, wie man als Kind die Worte der Eltern oder als Schüler die Worte der Lehrer oft einfach geglaubt hat, glauben die „einfachen Menschen“ den Statthaltern des Systems. Dieser Umstand lässt sich auf das zurückführen, was ich als die Macht der Autorität bezeichne.
Die Gewaltspirale durchbrechen
An dieser Stelle sei noch angemerkt, dass sich nur die wenigsten, seien sie auch Teil der aufgeklärten oder der linientreuen Bevölkerungsgruppe, den psychologischen Gesetzen der Massen vollständig entziehen können. Vertreterinnen und Vertreter der Coronamaßnahmen können sich im Einzelgespräch durchaus zugänglich für kritische Argumente zeigen. Ebenso können aufgeklärte Individuen sehr schnell Irrtümern und Illusionen erliegen, wenn sie Teil einer größeren Gruppe sind — Stichwort Fake News in Telegram-Gruppen oder YouTube-Videos. Pauschalisierend von festen Gruppen und dazugehörigen Einstellungen und Haltungen zu sprechen, ist für die allgemeine Analyse hilfreich, für die Überwindung dieses Umstands allerdings nur ein erster bescheidener Schritt.
Aus meiner Sicht sollten wir im nächsten Schritt die eigene Fehlbarkeit anerkennen, uns stets für neue Argumente offen zeigen und in Verständnis üben. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich von Freunden gehört, ihre Impfentscheidung würde von Skeptikern der Corona-„Impfstoffe“ nicht toleriert werden, weswegen es ihnen schwerfiele, die Ungeimpften und ihr Zögern zu tolerieren. Dabei kamen wir auf den springenden Punkt zu sprechen: Toleranz sollte bedingungslos sein. Dies bedeutet also auch, jemanden mit seiner Meinung zu tolerieren, selbst wenn diese Person eine intolerante Haltung hat. Mir wurde entgegengehalten, dass man Intoleranz aber nicht tolerieren dürfe. Wenn also Skeptiker der Corona-„Impfstoffe“ die Impfentscheidung einer Person kritisierten, so müsse man dann auch deren Entscheidung dagegen kritisieren können.
Meinem Empfinden nach ist genau diese Dynamik, die eine sehr menschliche ist, in vielen Diskussionen der Knackpunkt. Wenn von irgendeiner Seite in einem Punkt Kritik geäußert wird, beginnt die Gewaltspirale genau dann, wenn die Gegenseite aus Prinzip die Meinung der anderen Seite ebenfalls kritisiert, obwohl erstere Kritik vielleicht sogar sehr sachlich geäußert wurde. Menschen, die sich „aufgeklärt“ wähnen, sollten also sehr bedacht vorgehen, wenn sie der Gegenseite Dummheit oder Naivität attestieren, wenn diese eventuell eine fragwürdige Aussage trifft.
Allzu oft wird dadurch nur eine Verteidigungshaltung provoziert, die einen sachlichen Dialog verunmöglicht. Zugleich kann man sich als „aufgeklärter“ Mensch in wirklicher Aufklärungshaltung üben, wenn man sich genau dieser Dynamik entzieht, indem man die Kritik der Gegenseite nicht gleich mit Gegenkritik beantwortet. Ich halte jeder Person, die meine Entscheidung bezüglich der Corona-„Impfstoffe“ infrage stellt, dennoch entgegen, dass ich ihre Haltung dazu wertfrei tolerieren kann, wenngleich meine Meinung dazu anders sein mag.
Wie beispielsweise beim Fußball oder beim Eishockey ist es meiner Erfahrung nach besser, wenn der Torhüter den Ball fängt, als ihn abprallen oder gar zurückprallen zu lassen. Abpraller führen — leider zu häufig — dennoch zu einem Treffer, selbst wenn die erste Parade noch so meisterhaft ist.
Es ist in Diskussionen, die wir immer noch über dieses unsägliche Thema Corona führen, also weitaus zielführender, den Sorgen und Ängsten, die häufig hinter den Aussagen der Maßnahmenbefürworter stecken, Verständnis und Mitgefühl entgegenzubringen.
Ein Mensch, der allein an der frischen Luft eine FFP-2-Maske trägt, verdient unser Mitgefühl, nicht unseren Hohn. Zudem wissen wir nicht, welche Geschichte dieser Mensch hat.
Darum lautet mein Appell an Maßnahmenkritiker und Maßnahmenbefürworter: Übt euch in Mitgefühl und wahrer Toleranz! Die Übung beginnt genau dann, wenn einem selbst Intoleranz entgegengehalten oder Mitgefühl verwehrt wird. Dann sollten wir erst recht Mitgefühl und Toleranz zeigen, um die ewige Gewaltspirale zu durchbrechen. Daniele Ganser hat es bereits auf den Punkt gebracht: „Wir sind alle Teil der Menschheitsfamilie“ (5).
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.navigium.de/latein-woerterbuch/conservare?nr=null
(2) Le Bon, Gustave (2016): Psychologie der Massen. Anaconda Verlag: Köln, ISBN: ISBN : 3730603485, Seite 26.
(3) Ebenda, Seite 44.
(4) Ebenda, Seiten 67 und 68.
(5) https://www.lokalo24.de/lokales/fulda/interview-friedensforscher-daniele-ganser-wir-sind-alle-teil-menschenfamilie-11607855.html
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