Die Polarisierung zwischen liberal und konservativ ist nicht nur in den USA zu beobachten, sondern überall auf der Welt: in der kulturellen Entwicklung insgesamt und auch in den verschiedenen Religionen. Die Menschheit ist gespalten! Die liberalen Kräfte ziehen die allgemeine Entwicklung in Richtung einer absoluten individuellen Freiheit, während die konservativen Kräfte auf der Bremse stehen, um die bewährte Tradition und die herkömmlichen Werte zu retten. Dort wo die Konservativen ihre Vorstellungen und Werte gern in eiserne, oft unlebendige Normen und Vorschriften gießen wollen, da verabsolutieren die Liberalen die individuelle Freiheit und lösen sie von ihrer Verantwortung.
Beide Fronten agieren dabei mit einem dogmatischen Absolutheitsanspruch! Dies war sehr deutlich im zurückliegenden US-Wahlkampf zu beobachten, in dem der Ton in den Diskussionen und Publikationen zunehmend schärfer wurde. Die Stimmung war medial so aufgeheizt, dass viele Menschen diese Polarisierung als ihren persönlich notwendigen Krieg verstanden. Aus Sichtweisen und Standpunkten wurden gewaltige Burgen mit dicken Mauern, aus denen regelrechte Festungen entstanden sind — ohne Fenster, aber mit Schießscharten.
Passend zur heutigen Fake-Kultur wurden im Kampf Geschosse aus Beleidigung und Denunziation eingesetzt, das Pulver bestand aus Aggression, die Bomben aus dem Versuch oder dem Vorwurf des Wahlbetrugs. Doch leider trafen und treffen solche Geschosse und Bomben nicht nur die gegnerischen Anhänger. Sie treffen immer auch die Demokratie selbst, denn sie zerstören gnadenlos deren Substanz: Kooperation, Fairness, Toleranz und Edelmut.
Ein Trauerspiel
Das ehemalige Spielfeld der Demokratie wurde auf diese Weise zu einem Schlachtfeld, auf dem alle verlieren werden — und dies nicht nur in den USA. Zu beobachten ist ein sinkendes Niveau von Kommunikation und von Verhaltensweisen, sowohl bei manchen Politikern als auch bei manchen Wählern. Phänomene wie Separierung und Polarisierung sind jedoch Aspekte, die nicht von Gott oder einer höheren Wahrheit kommen, sie entstehen aus unserem Ego. Unser Ego braucht einen festen Standpunkt, um sich in der eigenen Burg sicher zu fühlen, das ist normal.
Schwierig wird es, wenn es seine Sicherheit aus der Überzeugung bezieht, selbst absolut Recht zu haben. Egal, auf welcher Seite der Polarisierung, Egos wollen Recht haben. So entsteht zunehmend der Eindruck, dass diese Polarisierung das Schlechteste in Menschen aktiviert, zu dem sie anscheinend fähig sind. Das, was einmal Demokratie war, ist zu einem Trauerspiel verkümmert; es scheint, dass sie ihr schmähliches Ende erreicht hat. Aber was kommt danach? Wo ist der Ausgang aus diesem unwürdigen Schauspiel?
Wo ist der Ausgang?
Ich persönlich hoffe, dass die Demokratie noch nicht ihr Ende erreicht hat, denn noch gibt es einen Ausweg. Die Polarisierung spaltet nämlich nur Menschen, die sich polarisieren lassen. Es wird Zeit, dass wir uns — individuell und als Gesellschaft — das hohe Niveau zurückerobern, das für eine funktionierende Demokratie unerlässlich ist. Helfen könnte uns dabei die Entwicklung einer persönlichen Integrität und einer wirklich gelebten Spiritualität. Einer Spiritualität, die sich auf den geistigen Wesenskern im Zentrum unserer Person richtet. Die sich auf die eigentliche Seele besinnt, die in jedem von uns anwesend ist, auch in unserem ärgsten Feind.
Und obwohl es allgemein üblich ist, auch die Psyche als Seele zu bezeichnen, ist die eigentliche Seele nicht Teil unserer Psyche, sondern sie befindet sich im Kern der Psyche. Die Seele beziehungsweise dieser geistige Wesenskern ist die verbindende Mitte zwischen allen Polen. Im Christentum wird diese Seele oft als der mystische Christus-in-uns bezeichnet. Aber auch die anderen Religionen wissen um diesen bewussten Kern im Zentrum einer Person, allerdings haben sie andere Bezeichnungen dafür: nafs im Islam und purusha im Hinduismus.
Ein höheres Niveau
Auf dem Weg der spirituellen Entwicklung können wir diesen Wesenskern in uns entdecken, ihn entwickeln und ihn in unserem eigenen Leben wahrmachen, indem wir danach leben. Mitten auf dem Spielfeld, mitten in den härtesten Auseinandersetzungen zwischen den Kontrahenten, können wir dann wachsen und uns entwickeln — wenn wir ethisch bleiben. Dabei entwickeln wir uns nicht nach links oder rechts, nicht in Richtung von liberal oder orthodox, sondern nach oben. Die höheren Niveaus einer Person sind nur erreichbar, wenn wir uns nicht auf Macht, Geld und Karriere, sondern auf Entwicklung ausrichten.
Egal, ob mit oder ohne Religion, ob liberal oder konservativ: Entwicklung hat vor allem etwas mit Ethik zu tun. Wir sollten ethisch bleiben, um uns selbst und das Spielfeld frei von jeder Aggression zu halten. „Liebet Eure Feinde“, ist für die meisten von uns wahrscheinlich noch nicht möglich, aber wir können unsere Feinde ehren und sie gut behandeln. Die Demokratie wird es uns danken!
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