Als Präsident Donald Trumps Nationaler Sicherheitsberater, der Hardliner John Bolton, während eines Moskaubesuchs Ende Oktober erklärte, dass „da draußen eine neue strategische Realität" existiere, gab er im gleichen Atemzug bekannt, dass sich die Vereinigten Staaten aus dem einunddreißig Jahre alten INF-Vertrag, einem bilateralen Abkommen zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion über nukleare Mittelstreckensysteme (Intermediate Range Nuclear Forces; Anmerkung des Übersetzers), zurückziehen würden. „Es handelt sich dabei um einen bilateralen Vertrag des Kalten Krieges in einer multipolaren Welt ballistischer Raketensysteme.", so Bolton.
"Wir Amerikaner sind der Ansicht, dass die Russen den Vertrag verletzen", sagte Bolton auf einer Pressekonferenz im Anschluss an ein neunzigminütiges Treffen mit Russlands Präsident Wladimir Putin. "Die Russen behaupten jedoch, dass sie das nicht tun. Also müssen wir uns fragen, wie wir die Russen bitten können, sich an einen Vertrag zu verhalten, den sie, wie sie sagen, gar nicht verletzen."
Bolton verschwieg allerdings, dass die Russen die Amerikaner gebeten hatten, Beweise für ihre angebliche Nichteinhaltung des Vertrags vorzulegen, was letztere bislang jedoch noch nicht getan haben. "Die Amerikaner haben bis jetzt keinen einzigen Beweis geliefert, um ihre Anschuldigungen zu untermauern", erklärte ein Sprecher des Kreml letzten Dezember, nachdem eine US-Delegation die NATO darüber informiert hatte. "Sie können diese Beweise auch gar nicht erbringen, weil es diese nämlich nicht gibt."
Bolton spiegelt mit seiner Aussage letztendlich nur ein früheres Statement von Trump wider, als jener sagte: "Ich werde den Vertrag aufkündigen, da [die Russen] die Abmachungen verletzt haben." Als Trump gefragt wurde, ob dieser Kommentar als eine Drohung gegenüber Putin verstanden werden könne, meinte er: "Sie können das als eine Drohung gegenüber wem Sie wollen auffassen. Dazu gehören sowohl China als auch Russland und überhaupt jeder, der denkt, er könne uns an der Nase herumführen. Das werden wir nämlich nicht erlauben. Ich lasse mich doch nicht reinlegen."
Es hat also ganz den Anschein, als hätte sich Trump John Boltons Philosophie der Unterbindung jeglicher Waffenkontrollen unterworfen. In Boltons augen dienen derlei Abkommen lediglich dazu, Amerikas Macht zu beschneiden. Immerhin war Bolton schon im Jahre 2001 mitverantwortlich für Präsident George W. Bushs Aufkündigung des ABM-Vertrags von 1972, was die Russen damals als einen Akt der Destabilisierung betrachteten. Indem Trump jetzt die Chinesen mit ins Spiel bringt, die ja 1987 den INF-Vertrag nicht mit unterzeichnet hatten, sieht es ganz danach aus, als wende der US-Präsident einen plumpen Verhandlungstrick an, indem er mit früheren Ängsten der Russen vor China als Nuklearmacht spielt und zum Ziel hat, sich aus dem Abkommen zurückzuziehen.
Noch im Jahr 2007 hatte Putin damit gedroht, den INF-Vertrag aus diesem Grund zu verlassen. "Wir reden hier von den Plänen einiger Nachbarländer, die darauf abzielen, Kurz- und Mittelstreckenraketensysteme zu entwickeln", erklärte Putins damaliger Sprecher Dmitri Pesko und meinte damit China, Indien und Pakistan. "Während unsere beiden Länder [die USA und Russland] an den INF-Vertrag gebunden sind, gibt es in der Region nichtsdestoweniger ein gewisses Ungleichgewicht."
Nun scheint es so, als würden Bolton und Trump versuchen, einen Keil zwischen Russland und China zu treiben, ohne das jedoch direkt auszusprechen.
Sie tun das angesichts der chinesisch-russischen Annäherung, die da Ziel verfolgt, eine gemeinsame Antwort auf das zu finden, was sie als US-Vorherrschaft im Handel und in der internationalen Sicherheit betrachten. Während die Russen vor zehn Jahren sicherlich besorgt darüber waren, dass die Chinesen über nukleare Mittelstreckensysteme verfügten, ist das heutzutage offenbar nicht mehr der Fall.
"Das chinesische Raketenprogramm hat nichts mit dem INF-Problem zu tun", bemerkte Konstantin Siwkow von der Russischen Akademie für Raketen- und Artilleriewesen unlängst. "China hat schon immer über Mittelstreckenraketen verfügt, weil es sich ja nie an dem bilateralen Abkommen mit den USA über Kurz- und Mittelstreckenraketen beteiligt hat." Amerikas Spekulationen über die chinesischen Raketen seien somit "lediglich ein Vorwand", um sich aus dem INF-Vertrag zurückzuziehen, so der russische Waffenkontrollexperte.
Außerdem hat China den Köder offenbar nicht geschluckt. Wie Yang Chengjun, ein chinesischer Raketenexperte, feststellte, hat die Entscheidung der USA, sich aus dem INF-Vertrag zurückzuziehen, einen "negativen" Einfluss auf Chinas nationale Sicherheit. Dadurch sehe sich Peking als Antwort dazu "gezwungen, die bescheidene Entwicklung seiner Mittelstreckenraketen voranzutreiben". Diese Waffen würden so aufgestellt werden, dass damit jedweder Aufrüstung der Amerikaner in der Region begegnet werden könnte. Für die Russen wären sie damit nicht notwendigerweise eine Bedrohung.
Jeder, der sich mit dem INF-Vertrag auseinandergesetzt hat, weiß, dass Russlands Haltung gegenüber China bezüglich seiner nationalen Sicherheit zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung völlig verständlich war.
Im Laufe der INF-Verhandlungen in den 1970ern und 1980ern hatten die Sowjets ja immer wieder auf den Erhalt ihres Potentials an nuklearen Mittelstreckensystemen im asiatischen Raum als Teil ihrer Abschreckungsstrategie gegenüber den Chinesen beharrt. Das Beharren der Sowjets auf diese Waffen war im Übrigen auch einer der Hauptgründe für die von den Amerikanern 1982 vorgeschlagenen "Null-Option", die einen vollständigen Bann von nuklearen Mittelstreckensystemen beinhaltete. Die USA wussten, dass eine vollständige Vernichtung dieser Waffensysteme eine giftige Pille war, die die Russen niemals schlucken würden, wodurch alle weiteren Verhandlungen zum Scheitern verurteilt waren.
1986 jedoch drehte Michail Gorbatschow den Spieß um, als er die "Null-Option" plötzlich akzeptierte und die Amerikaner aufforderte, sich auf ein Abkommen einzulassen, das den Bann all dieser Waffen beinhaltete.
Der Sowjetunion war es nämlich sehr viel wichtiger, jene Bedrohung zu eliminieren, die von den nuklearen Mittelstreckensystemen ausging, die die Amerikaner in Europa stationiert hatten,
als ein begrenztes nukleares Abschreckungspotential gegenüber China aufrecht zu erhalten.
Die Stationierung von Pershing-II-Raketen in Europa im Herbst 1983 ließ die sowjetische Führung befürchten, dass die USA auf diese Weise eine realistische nukleare Erstschlagfähigkeit gegenüber der Sowjetunion anstrebten.
Also sammelten sie nun verstärkt geheimdienstliche Informationen zu US-Zielen, um von einem Erstschlag der USA/NATO nicht überrascht zu werden, und entwarfen zugleich einen Plan, um eine solche Attacke augenblicklich mit einem entsprechenden Gegenangriff zu kontern.
Im November 1983, als die USA unter dem Codenamen Able Archer 83 eine großangelegte Übung für einen Atomkrieg in Europa durchführten, interpretierte der sowjetische Geheimdienst die Übungsvorbereitungen als Ernstfall. Also wurden die russischen Nuklearstreitkräfte in höchste Alarmbereitschaft versetzt, was hieß, dass es für einen Abschuss nur noch den Befehl des damaligen Generalsekretärs Juri Andropow bedurft hätte.
Kurz zuvor, im September 1983, hatte das Sowjetsystem bereits eine Art Stresstest durchlaufen, als defekte Frühwarnsatelliten anzeigten, dass die USA fünf Minuteman-3 Internkontinentalraketen auf die Sowjetunion abgefeuert hatten. Nur der diensthabende Offizier, der die Warnung korrekt als Fehlalarm identifizierte, verhinderte einen möglichen nuklearen Gegenschlag.
Ein ähnlicher Fehlalarm, diesmal aus dem Jahr 1995, verdeutlichte erneut die Gefahr, die von der unmittelbaren Alarmbereitschaft für Nuklearwaffen ausging:
Damals hielten russische Radartechniker eine norwegischen Forschungsrakete für eine einzelne US-Atomrakete, die die russische Verteidigung durch einen von einer nuklearen Luftdetonation verursachten elektromagnetischen Impuls durchbrechen sollte. Boris Jelzin, der damalige russische Präsident, befahl, die Atom-Codes für einen sofortigen russischen Gegenschlag zu aktivieren, und stand kurz davor, diesen Gegenschlag anzuordnen, als russische Analysten die wahre Absicht der Rakete ermittelten und die Krise abgewendet wurde. Zunächst waren die Europäer zurückgeschreckt vor dem Ansinnen, US-amerikanische Mittelstreckenraketen auf ihrem Territorium zu stationieren, da sie fürchteten, dass die Waffen Ziele für einen sowjetischen Atomschlag sein würden, der Europa zerstören, aber die USA unversehrt lassen würde.
Um die Bedenken der Europäer zu zerstreuen, erklärten sich die Amerikaner schließlich bereit, ihre INF-Waffen in ihre allgemeine Strategie der nuklearen Abschreckung zu integrieren, was hieß, dass der Einsatz nuklearer Mittelstreckenraketen automatisch einen strategischen Nuklearschlag auslösen würde. Mit diesem Ansatz sollte der der Abschreckungswert dieser Waffen vergrößert werden, da es so keinen „lokal begrenzten" Atomkrieg geben würde. Das bedeutete aber auch, dass jede Seite in Anbetracht der verkürzten Flugzeiten der in Europa stationierten Mittelstreckenraketen in unmittelbarer Alarmbereitschaft stand und nur einen minimalen oder gar keinen Fehlerspielraum hatte.
Der selbstmörderische Charakter dieses Arrangements half schließlich, Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan zur Unterzeichnung des INF-Vertrags am 8. Dezember 1987 zu bewegen.
Diese geschichtlichen Zusammenhänge scheinen Trump und Bolton nicht zu kennen. Obendrein erhöht die kürzliche Stationierung des auch als Aegis Ashore bekannten Mk-41-Universal-Trägersystems in Rumänien und Polen als Teil der ballistischen Raketenabwehr der NATO die Gefahr eines unbeabsichtigten Konflikts.
Mit seiner gegenwärtigen Konfiguration für SM-3-Boden-Luft-Raketen ist das Mk41-System gleichfalls in der Lage, Tomahawk-Marschflugkörper abzufeuern, die, wenn sie in der Bodenkonfiguration gezündet würden, den INF-Vertrag verletzen würden. Für das Geschäftsjahr 2018 hat der US-Kongress insgesamt 58 Milliarden Dollar zur Entwicklung eines nuklearen Mittelstreckensystems bewilligt, welches sich auf umgebaute Tomahawk-Raketen konzentriert.
Sollten die USA das Mk-41-Trägersystem jemals zur Raketenabwehr einsetzen, hätten die Russen nur wenige Sekunden zur Aufklärung darüber, ob sie von nuklearen Marschflugkörpern angegriffen werden. In einer Rede, die er kürzlich in Sotschi hielt, erklärte Putin öffentlich, dass die russische Nuklear-Doktrin das Konzept des Vergeltungsschlags „on Warning" vorsehe. Das bedeutet, dass Russland, nachdem ein U.S.-oder NATO-Raketenangriff festgestellt wurde, sofort sein gesamtes nukleares Arsenal einsetzen würde, um die angreifenden Staaten zu vernichten. „Wir wären die Opfer eines Angriffs und würden als Märtyrer in den Himmel kommen“, sagte Putin. Die Angreifer jedoch würden „einfach nur sterben und hätten keine Zeit zur Reue“.
„Wir werden diese Waffen entwickeln müssen“, meinte Trump, als er seine Entscheidung zur Aufkündigung des INF-Vertrages verkündete, und fügte hinzu: „Wir haben enorm viel Geld, um mit unserem Militär herumzuspielen.“
Nukleare Abschreckung ist jedoch kein Spiel – vielmehr ist sie, wie Putin feststellte, eine Frage von Leben und Tod, wobei eine im Bruchteil einer Sekunde erfolgte Fehlberechnung ganze Nationen, wenn nicht gar die Welt zerstören kann. Es bleibt also zu hoffen, dass der US-Präsident und einstige Immobilienmogul dies versteht, bevor es zu spät ist. Im Falle eines Atomkriegs kann man sich nämlich nicht mit Hilfe einer Bankrotterklärung aus der Affäre ziehen.
*Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Trump Surrenders to John Bolton on Russia and Arms Control“. Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.
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