Was man nicht sehen kann, ist erklärungsbedürftig. Eine Tatsache, die Menschen, die an einer psychischen Erkrankung leiden, rund um den Globus in quälender Regelmäßigkeit immer wieder erleben müssen. Ohne die gravierenden Probleme eines Alltags etwa mit körperlicher Behinderung relativieren zu wollen: Ein Rollstuhlfahrer muss weitaus weniger erklären. Er muss nicht erklären, wieso er die dritte Etage eines Gebäudes ohne Fahrstuhl nicht eigenständig betreten kann – und niemand wird diese Erklärung von ihm einfordern.
Psychisch erkrankte Menschen müssen in den meisten Fällen ohne diese Selbstverständlichkeit zwischenmenschlichen Anstands klarkommen: Da die soziale Umwelt ihnen ihr Leiden nicht von außen ansieht, müssen sie es in regelmäßigen Abständen wieder erklären, sich mit ihrer vermeintlichen Schwäche „outen“ und begründen, warum gerade was einfach nicht geht. In diesen Momenten werden oft Ausreden und Notlügen geboren, die die Funktion haben, gegenüber Fremden – aber auch Bekannten – nicht allzu viel von sich preisgeben zu müssen.
Denn selbst ein „Outen“ oder Sich-Erklären gewährleistet noch kein Verständnis: Was nicht physisch greifbar ist und nicht naturwissenschaftlich oder technisch messbar, das ist für nicht wenige Menschen selbst heute noch „Hokuspokus“ (das kriegen übrigens nicht nur die Patienten, sondern auch die Profis zu spüren: Es gibt wohl kaum einen Sozialwissenschaftler, der noch nicht irgendwem hat erklären müssen, wieso sein Fach neben den Naturwissenschaften ebenfalls seine Existenzberechtigung hat). Was in der Psyche eines Menschen oder in der Interaktion zwischen Menschen vorgeht, dem fehlt der Touch des Objektiven, des „Wahren“, des Realen, weil man es nicht direkt wahrnehmen kann.
Für von psychischer Krankheit betroffene Menschen mündet dieser begrenzte Horizont eines Teils seines Umfelds in einer zusätzlichen, sozialen Tortur, die als negativer Verstärker wirken kann: Wer auf zaghafte Versuche hin, das eigene Leid zu erklären, ein „ach, stell dich mal nicht so an“ oder vermeintlich gute Ratschläge wie „Du musst halt mal den Arsch hochkriegen!“ oder „Lenk dich mal ab!“ erntet, der zieht sich mit hoher Wahrscheinlichkeit noch weiter zurück und verliert sich mitunter im Strudel seiner Erkrankung.
Der Teufelskreis PTBS
Eine – wenn auch nicht die einzige – psychische Erkrankung, bei der dieses Phänomen im besonderen Maße auftritt, ist die sogenannte Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), welche infolge traumatischer Ereignisse „erworben“ wird. Nicht selten kann es sich hierbei um sexualisierte Gewalt handeln (Vergewaltigung oder auch sexueller Missbrauch in der Kindheit); um erlebte Unfälle mit Schwerverletzten oder Toten oder um Gewalterfahrungen. Besonders gefährdet sind insofern Angehörige von Berufsgruppen wie Soldaten, Polizisten oder Feuerwehrleuten. Auch Lokführer sind aufgrund von „Schienen-Suiziden“ und des Erlebens von deren Folgen gefährdet, an einer PTBS zu erkranken.
Die Symptomatik einer PTBS ist vielfältig. Das wohl prominenteste Symptom sind die sogenannten Intrusionen: Flashbacks oder auch Albträume, die das Erlebnis – manchmal schlagartig, oft aufgrund von „Triggern“ wie bestimmten Geräuschen, Gerüchen oder Eindrücken, die daran erinnern – wieder hervorholen und so präsent machen, dass der Betroffene buchstäblich wie paralysiert ist. Er kommt nicht von den Erinnerungen los, die übliche tröstliche Redewendung „Die Zeit heilt alle Wunden“ greift hier nicht mehr: Man fällt immer wieder zurück in das traumatische Erlebnis und bekommt somit keine Chance, sich davon zu lösen, sein Leben wieder zu normalisieren.
Das Grundproblem kreiert Folgeprobleme wie beispielsweise Schlafstörungen, was dann wiederum zu Konzentrationsstörungen und / oder Gereiztheit im Alltag führt. Man kommt nicht zur Ruhe. Die Fähigkeit zu arbeiten leidet, bis hin zur Berufsunfähigkeit. Es mehren sich Konflikte sowohl am Arbeitsplatz als auch in der Familie und im Freundeskreis. Man ist „konstant auf 180“, die Selbstdisziplin leidet (manchmal bis hin zu eigener physischer Gewalt), soziale Beziehungen zerbrechen. Oft scheinen Alkohol oder starke Medikamente der einzige Ausweg zu sein; letztlich aber verschlimmern sie all die bestehenden Probleme nur noch. Manchmal führen sie gar zu Psychosen und damit zu weiteren psychischen Erkrankungen. Im schlimmsten Fall bilden Suizide das traurige Ende des Leids.
Schweigen und Untätigkeit der Politik
Freilich beschreibt dieses Szenario den schlimmsten Fall, der längst nicht immer eintreten muss. Fest steht aber, dass er schon allzu oft eingetreten ist – lange Zeit, ohne dass man für das Phänomen wirklich einen Namen hatte. Erst mit den Folgen des Vietnamkrieges in den USA entstand ein langsam präsenter werdendes öffentliches Bewusstsein für das „Vietnamkriegssyndrom“, das das Leben unzähliger heimgekehrter Soldaten zerstörte.
Auch in Deutschland gibt es, spätestens seit Beginn des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr, der nicht als Krieg bezeichnet werden soll, mit den zurückgekehrten Soldaten einen völlig neuen PTBS-Patientenkreis. Einen Patientenkreis, der jedoch im öffentlichen Bewusstsein noch immer nicht wirklich angekommen ist. Die Verantwortung dafür trägt vor allem auch die Politik, die um die Wirkung, die – u. a. – das Bekanntwerden des „Vietnamkriegssyndroms“ in den 70er Jahren auf die breite Bevölkerung gehabt hat, gut Bescheid weiß: Die Akzeptanz für „militärische Interventionen“, wie Kriege der westlichen Industriestaaten im liberaldemokratischen Neusprech heißen, ist deutlich zurückgegangen.
Die betroffenen Soldaten werden politisch noch immer nur in sehr geringem Maße zur Kenntnis genommen; um Hilfeleistungen seitens des Staates muss oftmals lange gekämpft werden – ein Kampf, zu dem gerade die Betroffenen häufig kaum noch die Kraft haben. Im Gegenteil: Zu oft rauben sie ihnen noch das letzte Bisschen Selbstvertrauen, was abermals die Symptome der Erkrankung verstärkt. Ein Missstand, dessen Folgen sich heimlich, still und leise tagtäglich vor unseren Augen vollziehen. Würden all jene Soldaten, die mit einer handfesten PTBS aus dem Ausland zurückkehren, stattdessen erblindet sein oder im Rollstuhl sitzen, wäre der gesellschaftliche Aufschrei längst da. Doch abermals gilt: Was nicht physisch greif- oder messbar ist, das wird schlechter wahrgenommen – und kann von der politischen Klasse besser unter den Teppich gekehrt werden.
Der Stolz der Betroffenen
In anderen Feldern ist der staatliche Umgang mit dem Thema verantwortungsvoller: Das Bewusstsein für die Folgen sexualisierter Gewalt ist besser ausgeprägt (wenn auch noch nicht so, wie es oft wünschenswert wäre). In der Polizeiausbildung z. B. in Nordrhein-Westfalen (in der der Autor dieser Zeilen tätig ist) wird der Umgang mit dem Thema mehrfach thematisiert: Die Polizei-Studenten lernen in psychologischen Lehrveranstaltungen und im „Training Soziale Kompetenzen“ (TSK) die auch hier thematisierten Grundlagen über PTBS und bekommen mit auf den Weg, nach traumatischen Ereignissen auf sich zu achten und gegebenenfalls Anzeichen der Erkrankung nicht zu ignorieren, sondern sich in Behandlung zu begeben, damit der oben beschriebene Teufelskreis gar nicht erst eintreten kann.
An diesem Punkt zeigt sich häufig noch eine andere relevante Problematik: Die gesellschaftlich weit verbreitete (wenn auch nur implizite, „gedachte“) Prämisse, dass psychische Erkrankung Schwäche bedeute, wird selbst von den Betroffenen oftmals unwillkürlich geteilt, da diese mit diesem Denken sozialisiert worden sind. Tragischerweise gilt dies im Besonderen bei jenen oben genannten Risiko-Berufsgruppen: Wer Soldat oder Polizist wird, sieht sich – insbesondere, wenn männlichen Geschlechts und mit dem entsprechenden Selbstbild aufgewachsen – gerne als „harten Kerl“, den nichts so schnell erschüttern kann.
Nun sind die „harten Kerle“ aber eben auch nur Menschen, was bedeutet, dass auch sie von traumatischen Ereignissen nachhaltigen Schaden davontragen können, selbst wenn sie es nicht wahrhaben wollen. Oft jedoch steht auch dieses Phänomen nochmal zusätzlich einer Suche nach Hilfe im Fall von PTBS entgegen: Man(n) möchte nicht als schwach gelten, hasst sich womöglich noch für die eigene „Schwäche“, die einen nachts nicht schlafen und tagsüber nicht zur Ruhe kommen lässt. Eine weitere Tragik im Problemkomplex PTBS, der etwa in der nordrhein-westfälischen Polizeiausbildung so gut es geht entgegen gewirkt werden soll. Und doch dürfte so mancher Appell an der Mauer maskulinen Stolzes verhallen.
PTBS als Radikalisierungsursache
Und damit noch nicht genug. PTBS ist nicht nur in den westlichen Industrienationen ein Thema, sondern dürfte insbesondere in Kriegsgebieten etwa in Afrika oder im Nahen Osten ein noch viel weiter verbreitetes Phänomen sein – vermutlich jedoch mit nicht einmal annähernd der (ja eben schon zu geringen) öffentlichen Aufmerksamkeit, die das Thema in unseren Breitengraden genießt.
Unterschätzt wird die Relevanz des Faktors PTBS auch dann, wenn über die Gründe politischer Radikalisierung diskutiert wird, welche gerade in politischen, leider aber auch so manchen wissenschaftlichen Debatten oft allzu monokausal hergeleitet werden. Es geht eben nicht immer nur um Frust über Armut oder „den“ Islam, sondern allzu oft auch um psychosoziale Ursachen als Folge von Kriegs- und Gewalterleben.
Es wurde oben bereits herausgestellt, dass PTBS eben durchaus auch gewaltbegünstigend wirken kann: Über Intrusionen und deren Folgen, physische Symptome usw. leidet das „Nervenkostüm“, die Hemmschwelle sinkt, Abstumpfung setzt ein. Man stürzt sich in den Kampf, um sich wieder zu fühlen – was in der westlichen Hemisphäre das Sich-Ritzen ist, ist anderswo die Kriegsteilnahme. Zugleich steigt die Wut – Wut auf den Staat, Wut auf andere Menschen, Wut auf das Schicksal, Wut auf sich selbst und die vermeintliche Schwäche: Ein festes Fundament für jeden politischen und / oder religiösen Radikalisierungsprozess. Dies entschuldigt freilich nicht terroristische Aktivitäten – es erklärt sie jedoch in vielerlei Fällen; und es ermöglicht zugleich eine Perspektive darauf, was die „militärischen Interventionen“ des Westens etwa im Irak bei der dortigen, nun kriegserfahrenen Jugend auch psychologisch angerichtet haben.
Und auch das Problem ist mittlerweile ein deutsches: Die Anzahl der Flüchtlinge in Deutschland, die unter einer PTBS – vielleicht durch Kriegserleben, vielleicht auch durch die Umstände der Flucht oder andere Tragödien – leiden, dürfte nicht allzu gering sein. Das Bewohnen von Flüchtlingsunterkünften – voll, ohne viele Ablenkungsmöglichkeiten, konfliktbehaftet durch die heterogene Zusammensetzung – dürfte die Lage diesbezüglich auch nicht verbessert haben.
Es sollte deutlich geworden sein: PTBS ist ein Thema, das politischer nicht sein könnte, und das – nicht nur deswegen – mehr Aufmerksamkeit verdient hätte, gerade auch angesichts der eben durchaus zahlreichen gesellschaftlichen Sphären, in denen es immer wieder seine Wirkung entfaltet. Erst so wird eine Gesellschaft erreichbar sein, in der Krankheit nicht als Schwäche gilt, für die Betroffene sich zu schämen haben, sondern in der der Kampf gegen diese offensiv und selbstbewusst in Angriff genommen werden kann.
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