Diese europäische Sicherheits- und Dominanzarchitektur wurde unmittelbar nach Beendigung des Kalten Krieges 1990/91 etabliert, trotz aller Beteuerungen eines Neuanfangs des friedlichen Miteinanders und eines gemeinsamen Sicherheitsraums in Europa in Form der „Charta von Paris“. Der Westen als Sieger des Kalten Krieges agierte nicht souverän und auf Ausgleich mit dem „Verlierer“ bedacht, sondern beanspruchte aus dem Sieg auch die Beute und das gilt noch heute. Diese Beute sind die vormaligen Warschauer-Pakt-Staaten sowie Nachfolgestaaten der UdSSR, die via Nato-Osterweiterung, Politik der offenen Tür, und EU-Erweiterung beziehungsweise „Östliche Partnerschaft“ in den westlichen Einflussbereich integriert werden sollen.
Mit dem Wechsel der Herrschafts- und Funktionseliten in Osteuropa gelangten Personen und ihre Nachfolgegeneration als Entscheider an die Macht, die zuvor in fundamentaler Opposition zu den staatssozialistischen Systemen standen. Diese Post-Kalte-Kriegs-Eliten sind nicht nur stramm antikommunistisch, sondern auch stark russophob eingestellt. Sie vermochten es, ihre russophoben Einstellungen zumindest in Teilen ihrer Gesellschaften zu verankern und zu einem nationalen Selbstverständnis, ja zu einem nationalen Identitätsmerkmal zu erhöhen.
Ein institutioneller Beitritt in den Westen via Nato und nach „Europa“ ist in den Augen dieser Eliten alternativlos, um damit die Ordnung von Jalta aus dem Jahr 1945 endgültig ad acta zu legen. Darüber hinaus muss in ihren Augen Russland aus Europa hinausgedrängt werden, da ein Europa mit Russland für diese Eliten kein westliches Europa wäre. Und in dieser Frage decken sich die Positionen dieser osteuropäischen Eliten mit denen in den USA und manchen transatlantischen Kräften in Westeuropa.
Russlands Niedergang in den 1990ern
Russland konnte in den 1990er Jahren bis zu Beginn des zweiten Jahrtausends dem westlichen Dominanzgebahren nichts entgegensetzen, ja unterschrieb sogar die „Charta von Paris“ in dem Glauben, dass der Sieger den Neuanfang in Europa tatsächlich ernst meint. Die in der Charta formulierten Ziele stellten tatsächlich einen Quantensprung in der internationalen Politik, insbesondere für Europa dar. Allerdings sind auch widersprüchliche Aussagen und Zielsetzungen darin enthalten. So legt die „Charta von Paris“ einerseits und sehr dezidiert fest:
„Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden.“
Diese Aussage fordert mindestens ein kollektives Sicherheitsverständnis im KSZE/OSZE-Raum. Selbst wenn es seinerzeit und bis heute keinerlei Initiativen gegeben hat, diese Forderung institutionell und strukturell in Form einer tatsächlichen sicherheitskollektiven OSZE auszubauen, so ist diese Festlegung zumindest dahingehend zu respektieren, dass keinerlei unilateralen Maßnahmen ergriffen werden, die eine geteilte Sicherheit zugunsten der einen und zu Lasten der anderen Seite darstellen, und somit früher oder später in der Entstehung eines Kalten Krieges 2.0 münden — inklusive Rüstungswettlauf und Eskalationen, wie wir sie derzeit erleben.
Die Aussage und das Versprechen des Westens Moskau gegenüber, die Nato nicht zu erweitern, stand und steht in Übereinstimmung mit dem Konzept der ungeteilten, gemeinsamen Sicherheit.
Demgegenüber findet sich zudem folgende, letztlich konterkarierende Aussage in der „Charta von Paris“:
„In diesem Zusammenhang bekennen wir uns zum Recht der Staaten, ihre sicherheitspolitischen Dispositionen frei zu treffen.“
Also, die freie sicherheitspolitische Bündniswahl. Beide Aussagen sind deshalb widersprüchlich, da entweder gemeinsame Sicherheit, einerseits Sicherheitskollektiv oder zumindest entsprechendes Verständnis, oder andererseits Militärbündnis, was jedoch — in der Natur der Sache begründet — geteilte Sicherheit bedeutet. Diese Widersprüchlichkeit ist nur dann identifizierbar, wenn man die konträren Konzeptionen zwischen Sicherheitskollektiv und Militärbündnis kennt, was leider sowohl im politischen Berlin als auch bei den Hauptstadtmedien bisweilen zu bezweifeln ist.
Da die „Charta von Paris“ allein bei der Nennung beider Konzepte wesentlich häufiger und auch dem Geiste des Dokuments als Folge der Zäsur 1989/91 die gemeinsame ungeteilte Sicherheit benennt, hat dieser Ansatz definitiv Vorrang. Dennoch verweisen westliche politische Entscheider und die Mainstream-Medien nahezu ausschließlich auf die freie Bündniswahl und unterschlagen auf diese Weise das eigentliche Ziel der „Charta von Paris“, nämlich der Schaffung eines ungeteilten gemeinsamen europäischen Sicherheitsraums.
Zurück in die Zukunft — Russlands Forderung nach ungeteilter Sicherheit
Russland ist nicht mehr bereit, die eigenwillige Interpretation der „Charta von Paris“ sowie die daraus entwickelte westliche Sicherheitsarchitektur im Sinne westlicher Geo- und Imperialpolitik zu akzeptieren:
Zum einen, weil die Ostausdehnung westlicher geopolitischer Konstrukte, wie Nato und EU, das legitime Sicherheitsbedürfnis Russlands in dessen Augen auf bedrohliche Weise negiert, Stichwort: Einkreisung Russlands. Und zum zweiten, weil Russland in den letzten Jahren seine militärische Rückständigkeit durch eine geschickte Rüstungs- und Reformpolitik seiner militärischen Strukturen — nach der Devise Qualität statt Quantität — sowie infolge einer durchaus wider Erwarten stabilen Wirtschaftspolitik massiv an politischer Macht hinzugewonnen hat. Auf der Grundlage dieses Machtgewinns weist Russland im Tandem mit China die unilaterale Dominanzpolitik des Westens mittlerweile scharf zurück.
Die beiden von der russischen Regierung an die USA und die Nato im Dezember 2021 überwiesenen Dokumente (1) reflektieren genau diese Forderungen: Gemeinsame Sicherheit und nicht Sicherheit auf Kosten von Drittstaaten. Der konkrete Forderungskatalog ist tatsächlich auf eine defensive Sicherheitsordnung in Europa im Sinne der „Charta von Paris“ ausgelegt. Die Antworten der USA und der Nato wurden inzwischen veröffentlicht (2, 3).
Die Zurückweisung der russischen Kernforderung — keine weitere Osterweiterung der Nato, keine Dislozierung von Großwaffensystemen nahe den russischen Grenzen und Rückzug militärischer Nato-Infrastruktur auf den Stand des Jahres 1997 — zeigt, dass die US-geführte Nato keinerlei Interesse an einer ernsthaften Verständigung, an einem Ausgleich mit Russland und an einer Revision der noch auf Unipolarität aufgebauten europäischen Sicherheitsarchitektur hat. Damit wird sich Russland indes nicht abfinden. Allein die Tatsache, wie offensiv Russland seine Forderungen formuliert und sie auch publik gemacht hat, erlaubt es der russischen Führung im Prinzip nicht, die Kernforderungen vom Westen zerreden zu lassen und sich mit zweit- oder drittrangigen Konzessionen, wie mehr Transparenz bei Manövertätigkeiten et cetera abspeisen zu lassen.
Damit ist die weitere Eskalation vorprogrammiert, sollte jenseits der Öffentlichkeit keine Regelungen gefunden werden, mit der die Nato und Russland ohne Gesichtsverlust leben können. Zumal einige Nato-Staaten, insbesondere die USA, Großbritannien und Polen, mit der Behauptung geradezu Benzin in das Feuer gießen, Russland wolle die Ukraine militärisch angreifen und daher müsse der Wesen der Ukraine Rüstungsgüter, Personal und Ausbildung zu legitimen Selbstverteidigungszwecken liefern. Denn es geht ja genau in der russischen Forderung darum, dass es keine geteilte Sicherheit, sondern gleiche und gemeinsame Sicherheit für alle Staaten des OSZE-Raumes geben müsse.
Die westliche Politik, die Ukraine gegen Russland noch stärker in Stellung zu bringen, so wie es der britische Premier Boris Johnson bei seinem Besuch in Kiev am 1. Februar 2022 formulierte, wonach „die Ukrainer bis zum letzten Bluttropfen kämpfen werden“ (4), steigert die Gefahr einer tatsächlichen Konfrontation erheblich und das sehenden Auges, ganz, als ob die Konfrontation herbeigesehnt wird. Zugleich stellen sich die Medien, sowohl die öffentlich-rechtlichen als auch die Konzernmedien in Deutschland als Propagandamaschinen des Weißen Hauses und der Nato-Zentrale in Brüssel dar. Sie berichten nicht kritisch und mit gebotener Distanz über den Konflikt, sondern machen sich selbst die Positionen der westlichen Hardliner zu eigen und berauschen die Öffentlichkeit mit Kriegsgeschrei.
Mehr noch, sie üben massiven Druck auf die SPD aus, sich endlich der martialischen Politik Washingtons und der Nato unterzuordnen, also Waffenlieferungen für die Ukraine ernsthaft anzugehen sowie endlich das Aus für Northstream 2 zu verkünden — egal wie hoch der Preis für Europa, nicht zuletzt auch der Gaspreis sein mag. Die Verteidigung der eigenen Hegemonialordnung hat halt ihren Preis — zahlen muss ja nur der Otto-Normalverbraucher, sofern es nur beim Energiepreis bleibt. Sollte es allerdings zu einer militärischen Auseinandersetzung mit Russland kommen, dürfte es auch — je nach militärischer Dimension — für die kriegstreiberischen Redaktionen heiß werden.
Zwei unterschiedliche Agenden — oder wie man gezielt einander vorbeiredet
Wie gering das Interesse des Westens an einer Verständigung mit Russland ist, zeigt, dass beide Seiten im Prinzip aneinander vorbeireden:
Während der Westen sich auf die Ukraine als zentrales Konfliktfeld fokussiert und wöchentlich den Einmarschplan und den -zeitpunkt der russischen Armee aktualisiert, stellt Russland die Revision der westlichen Hegemonialordnung inklusive der NATO-Osterweiterung in den Mittelpunkt seiner Forderungen.
Da der Westen unter US-Führung und auf Drängen einiger osteuropäischer Staaten die Forderung einer Anpassung der europäischen Sicherheitsarchitektur, inklusive Sicherheitsgarantien, an die neuen Machtrealitäten und auf der Grundlage der „Charta von Paris“ verweigert, muss er zugleich die europäische Öffentlichkeit von diesem Thema fernhalten, denn die russischen Forderungen sind erstens nicht ganz abwegig und zweitens öffentlich zugänglich. Die geeignete Taktik ist, erstens die russischen Forderungen der öffentlichen Wahrnehmung zu entziehen, das heißt, möglichst wenig Details dazu zu berichten, beziehungsweise mit selektivem Verweis auf die „Charta von Paris“, auf die Bündnisfreiheit, diese Forderungen zu delegitimieren. Und zweitens die Öffentlichkeit mit einem wirkmächtigen Thema, dem angeblich geplanten Angriff Russlands auf die Ukraine, zu betäuben.
Ob Russland tatsächlich einen solchen Angriff beabsichtigt oder in Erwägung zieht, wissen sicherlich nur die Entscheider in Moskau — alles andere sind wilde Spekulationen, die aber vom politischen und medialen Berlin als Tatsachen behauptet werden und in der Nachrichtenrelevanz zur Corona-Thematik aufschließen konnten. Diese Ablenkungstaktik hat darüber hinaus einen weiteren „positiven „Nebeneffekt: Da Russland in die Ukraine intervenieren wolle, wie westliche Politik und Medien nicht müde werden zu beteuern, und sogar Einmarschpläne anhand von Landkarten im Internet zu finden sind, beweise dass doch die Notwendigkeit der Existenz der Nato und ihrer fortgesetzten Ost-Expansion als einzigartiges Friedensprojekt für Europa.
Real- und Klimapolitik, statt Kriegspolitik
Ein realpolitischer Ansatz hingegen sieht anders aus: Zurück zur „Charta von Paris“ im Geiste dieser Charta! Das heißt, die Schaffung eines wirklichen gemeinsamen Sicherheitsraumes unter Einbeziehung Russlands und aller post-sowjetischen Staaten, statt der Vertiefung der europäischen Spaltung. Dies setzt indessen voraus, dass der Westen sein ohnehin geheucheltes moral- und wertebasiertes Politikverständnis und seinen missionarischen Charakter zugunsten einer friedlichen Co-Existenz und einer engen ökonomischen Kooperation zwischen der EU und der Eurasischen Union und China zurückstellt.
Die Menschheit steht vor einer riesigen Herausforderung, nämlich der sich zunehmend auswirkenden Klimakatastrophe. Statt militärische und geopolitische Sandkastenspielchen zur Freude der Rüstungsindustrie und Schreibtischstrategen in Redaktionen und Verteidigungsministerien zu betreiben, ist ein gemeinsames Handeln aller europäischen und globalen Kräfte vonnöten, um diese Menschheitsaufgabe angehen zu können — auch und besonders mit Russland als dem größten Flächenstaat und China als demnächst größter Wirtschaftsmacht der Welt.
Kurzum: Entweder wir akzeptieren die kulturelle und historische Pluralität sowie die legitimen Sicherheitsinteressen aller Staaten auf unserem Globus — und nicht nur des Westens — und tragen das UN-Völkerrecht aktiv mit, um zumindest die Klimakatastrophe durch gemeinsame Anstrengungen zu begrenzen, oder wir gehen gemeinsam unter — entweder durch die fortscheitende Klimakatastrophe oder zeitlich noch früher durch einen Krieg, der zunächst in Europa oder Südost-Asien seinen Anfang nimmt.
Quellen und Anmerkungen:
(1) „Treaty between The United States of America and the Russian Federation on securtity guarantees“, 17 Dec. 2022: https://mid.ru/ru/foreign_policy/rso/nato/1790818/?lang=en
„Agreement on measures to ensure the security of the Russian Federation and member States of the North Atlantic Treaty Organization“: https://mid.ru/ru/foreign_policy/rso/nato/1790803/?lang=en&clear_cache=Y
(2) https://elpais.com/infografias/2022/02/respuesta_otan/respuesta_otan_eeuu.pdf
(3) https://img.rt.com/deutsch/docs/2022.02/original/61faea2048fbef18494ce32a/NATO-Antwort+auf+russische+Forderungen+%28deutsche+Version%29.pdf
(4) Pressekonferenz in Kiew mit Wolodymyr Selenskyi und Boris Johnson
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