Der australische „Think Tank Institute for Economics and Peace“, der jährlich einen „Global Peace Index“ herausgibt, resümiert für 2018: „So wenig friedlich wie jetzt war die Welt zu keinem Zeitpunkt in den letzten 10 Jahren“ (1).
Doch neben den materiellen Schäden an Menschen und Staaten, hat auch die internationale Ordnung, die 1945 mit der UNO errichtet wurde, um zukünftige Kriege einzudämmen und Frieden zu garantieren, Schaden genommen und offensichtlich ihre friedenstiftende Kraft verloren. Skeptiker werden sagen, sie habe sie nie gehabt. Andere halten die in der UNO-Charta vereinbarten Normen für nicht mehr in der Lage, die modernen Formen von Krieg und Terror zu regeln und halten Korrekturen für dringend erforderlich.
Da jedoch die Änderung der Charta auf Grund der dafür erforderlichen Zweidrittelmehrheit der Staaten außerordentlich schwierig ja unmöglich erscheint, sind die Staaten selbst darangegangen, die Regeln neu zu interpretieren, zu dehnen und wenn nötig zu durchbrechen.
Jugoslawien - Humanitäre Intervention
Es war die Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als die westlichen Interessen sich wundersam mit ihren Werten zu dem Imperativ verbanden, die Werte der Freiheit, die Herrschaft des Gesetzes und die Menschenrechte in einer offenen Gesellschaft weltweit durchzusetzen – wenn nötig mit Gewalt. Die erste Gelegenheit bot sich 1999 mit dem Krieg gegen Jugoslawien zur Verhinderung einer „Menschenrechtskatastrophe“ im Kosovo 1999. Dies war die offizielle Begründung für die Bombardierung Jugoslawiens.
Trotz begründeter Zweifel wird an ihr bis heute festgehalten, da nur mit ihr der offenkundige Verstoß gegen die UNO-Charta zu rechtfertigen war und den NATO-Regierungen aus der Begründungsnot half: der Rückgriff auf eine alte Figur des kolonialen Völkerrechts der Vor-Charta Ära, die sogenannte humanitäre Intervention. Zwar haben die USA bei ihren Interventionen in Lateinamerika – Grenada 1983, Nicaragua 1984, Panama 1989 – immer wieder auf diese Rechtfertigung zurückzugreifen versucht, haben jedoch dabei nirgendwo Zustimmung oder Gefolgschaft finden können.
Abgesehen von den politischen Konsequenzen einer derartigen Doktrin, die immer wieder als Vorwand für den Missbrauch einer Intervention diente, widerspricht die „humanitäre“ Intervention dem System und der Dogmatik der UNO-Charta.
Hauptziel und zentrale Aufgabe der UNO sind die Friedenssicherung, worunter sich alle anderen Ziele einzureihen haben. Den einzelnen Staaten ist es grundsätzlich nicht erlaubt, selbst Gewalt anzuwenden, Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta, es sei denn im Fall der Selbstverteidigung gegen einen unmittelbaren Angriff, Art. 51 UN-Charta, oder auf Grund eines Mandats vom UN-Sicherheitsrat, Art. 39, 42 UN-Charta.
Diese Regel ist strikt und verbindlich. Tritt etwa das Gewaltverbot der Friedenssicherung in Konkurrenz zu einer Verpflichtung aus einem der Menschenrechtspakte und -konventionen, so hat das Gewaltverbot Vorrang. Dies macht Art. 103 UN-Charta deutlich:
„Widersprechen sich die Verpflichtungen von Mitgliedern der Vereinten Nationen aus dieser Charta und ihre Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften, so haben die Verpflichtungen aus dieser Charta Vorrang.“
Dies ergibt sich aber auch aus der Prinzipiendeklaration von 1970, an deren Spitze das Gewaltverbot sowie die Unabhängigkeit und Souveränität der Staaten rangieren.
Erst an fünfter Stelle wird dort das Prinzip der „internationalen gegenseitigen Zusammenarbeit zur Lösung wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Probleme und zur Stärkung der Menschenrechte“ erwähnt. Eine Verknüpfung beider Prinzipien derart, dass die Sicherung der Menschenrechte eine Ausnahme vom Gewaltverbot zulasse oder gar erfordere, ist im System der UN-Charta also nicht angelegt.
Dies hat der Internationale Gerichtshof, IGH, schon 1986 in seinem Urteil im Rechtsstreit Nicaraguas gegen die USA unmissverständlich unterstrichen:
„Die Vereinigten Staaten mögen ihre eigene Einschätzung hinsichtlich der Achtung der Menschenrechte in Nicaragua haben, jedoch kann die Anwendung von Gewalt keine geeignete Methode sein, die Achtung der Menschenrechte zu überwachen oder zu sichern. Hinsichtlich der ergriffenen Maßnahmen (ist festzustellen), dass der Schutz der Menschenrechte, ein strikt humanitäres Ziel, unvereinbar ist mit der Verminung von Häfen, der Zerstörung von Ölraffinerien, oder ... mit der Ausbildung, Bewaffnung und Ausrüstung von Contras. Das Gericht kommt zu dem Ergebnis, dass das Argument, das von der Wahrung der Menschenrechte in Nicaragua hergeleitet wird, keine juristische Rechtfertigung für das Verhalten der USA liefern kann“ (2).
Im gleichen Jahr hat das Foreign Office Großbritanniens auf die zwingenden politischen Gründe für die Ablehnung der „humanitären Intervention“ als weitere Ausnahme vom Gewaltverbot hingewiesen:
„Die überwältigende Mehrheit der zeitgenössischen Rechtsmeinung spricht sich gegen die Existenz eines Rechts zur (einseitigen) humanitären Intervention aus, und zwar aus drei Gründen:
Erstens enthalten die UN-Charta und das Völkerrecht insgesamt offensichtlich kein spezifisches derartiges Recht; zweitens liefert die Staatenpraxis in den letzten zweihundert Jahren und besonders nach 1945 allenfalls eine Hand voll wirklicher Fälle einer humanitären Intervention, wenn überhaupt – wie die meisten meinen; und schließlich, aus Gründen der Vorsicht, spricht die Möglichkeit des Missbrauchs stark dagegen, ein solches Recht zu schaffen.... Der wesentliche Gesichtspunkt, der deshalb dagegen spricht, die humanitäre Intervention zu einer Ausnahme vom Prinzip des Interventionsverbots zu machen, sind ihre zweifelhaften Vorteile, die bei weitem durch ihre Kosten in Form des vollen Respekts vor dem Völkerrecht aufgewogen werden“ (3).
Wenn sich die Regierung Blair auch nicht an diese Mahnung gehalten hat, so haben diese Argumente in den vergangenen Jahren doch nicht ihre Gültigkeit verloren. Sie sind auf einem Treffen der Außenminister der 133 Mitgliedstaaten der Gruppe 77 am 24. September 1999 noch einmal bestätigt worden. Ein Report des Foreign Affairs Committee des Britischen Unterhauses vom 23. Mai 2000 hat das Vorgehen der eigenen Regierung zudem noch einmal eindeutig als rechtswidrig qualifiziert.
Betrachten wir die völkerrechtliche Literatur, so müssen wir davon ausgehen, dass die Legalisierung der „humanitären Intervention“ als neue Doktrin gescheitert ist.
Dennoch haben sich einige durchaus prominente Vertreter ihres Faches zu dem problematischen Spagat verführen lassen, die Illegalität der Kriege zwar einzugestehen, sie jedoch als moralisch legitim zu rechtfertigen. Es muss ihnen bewusst sein, dass sie vor allem den NATO-Staaten die Tür zu noch weitgehenderen Interventionen öffnen. In ihrer NATO-Strategie von 1999 sind sie benannt, sie reichen bis zur militärischen Intervention bei der Blockade lebenswichtiger Ressourcen – nach dem einfachen Motto: illegal aber legitim.
Es lag offensichtlich auch in ihrer Intention, die Verbindlichkeit des Gewaltverbots zu schwächen. Denn wo die Grenzen zwischen Recht und Moralphilosophie verschwimmen, ist letztlich jeder Aggressionskrieg zu begründen. Im Syrienkrieg taucht die „humanitäre Intervention“ zur Rechtfertigung wieder auf, ich werde darauf zurückkommen.
Afghanistan – Selbstverteidigung gegen Organisationen
Schon die nächste militärische Intervention von USA und NATO 2001 in Afghanistan forderte eine weitere rechtliche Legitimation. Lassen wir einmal die immer noch nicht geklärten Umstände der Anschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center und das Pentagon und die nicht verstummenden Zweifel an der Urheberschaft beiseite, so qualifizierte sie der UNO-Sicherheitsrat doch in seiner ersten Resolution 1368 vom folgenden Tag als „Bedrohung für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit“.
Diese Feststellung hätte gemäß Art. 39 UNO-Charta die Möglichkeit eröffnet, Zwangsmaßnahmen gemäß Art. 42 UNO-Charta zu verfügen. Dieses hatten die USA gewünscht, der Sicherheitsrat konnte sich jedoch weder so früh nach dem Anschlag noch in seiner späteren Resolution 1373 vom 28. September 2001 zu einem solchen Schritt entschließen. Er wies lediglich allgemein und abstrakt auf das Recht zur Selbstverteidigung hin und rief die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus mit politischen, wirtschaftlichen, polizeilichen und gesetzgeberischen Maßnahmen auf.
Die Schnelligkeit, mit der die US-Regierung die Täter als bis dahin in der Öffentlichkeit noch völlig unbekannte Al Qaida und ihren Operationsort Afghanistan identifizieren konnte, verblüffte zumindest. Dennoch sprangen Bundesregierung und Bundestag sofort auf den Zug der „kollektiven Selbstverteidigung“ auf, und beschlossen die Beteiligung der Bundeswehr an der Operation Enduring Freedom, OEF, auf der Grundlage des Art. 51 UNO-Charta. Der damalige Verteidigungsminister Struck sollte das damit begründen, dass die deutschen Sicherheitsinteressen auch am Hindukusch verteidigt würden.
Hält man sich allerdings an den Wortlaut des Art. 51 UNO-Charta, so bestanden schon damals, noch zur Zeit der Herrschaft der Taliban, Zweifel, ob es sich bei einem einmaligen Anschlag einer Terrorgruppe um einen Angriff Afghanistans handelte. Es stellten sich viele Fragen: Kann man Afghanistan direkt für die Terroranschläge der Taliban verantwortlich machen? Führt auch das Land einen „bewaffneten Angriff“ im Sinne des Art. 51 aus, das die Angreifer lediglich beherbergt? Darf die territoriale Integrität Afghanistans verletzt werden? Kam die Verteidigungsreaktion „umgehend“, wie in Art. 51 gefordert, kann sie auf unbestimmte Zeit und andere Territorien zur Verhinderung weiterer Anschläge ausgedehnt werden? Waren die militärischen Maßnahmen notwendig, geeignet und verhältnismäßig?
An dem Vorliegen dieser Voraussetzungen sind erhebliche Zweifel geltend gemacht worden, so dass der Vorwurf der Überdehnung des Art. 51 UNO-Charta durchaus berechtigt ist. Die bloße Beherbergung von Terroristen macht das Land noch nicht verantwortlich für deren Terrorakte gegenüber einem anderen Staat, es sei denn, „es spielt eine Rolle bei der Organisation, Koordinierung oder der Planung der militärischen Aktivitäten der militärischen Gruppe zusätzlich zur Finanzierung, dem Training und der Ausrüstung oder Gewährung operativer Unterstützung“ (4) wie das Internationale Tribunal zu Ex-Jugoslawien in dem Fall Tadić ausgeführt hat.
So reduziert sich das Problem auf die Beweisfrage, ob diese Voraussetzungen im Verhältnis Al-Qaidas zu dem Afghanistan der Taliban vorgelegen haben. Das mehrfache Angebot der Taliban, den Führer von Al Qaida, Osama Bin Laden, auszuliefern, hatte man schon vor dem Anschlag abgelehnt, und wies man offenbar auch nach dem Anschlag zurück.
Irak – Präemptive Verteidigung
Schon ein Jahr später erweiterte Präsident George W. Bush die Verteidigungsdoktrin beträchtlich mit seiner West-Point-Rede, die das neue Präemptivkonzept verkündete und welches in der National Security Strategy vom September 2002 offizielle Gestalt annahm. Diese sogennante Bush-Doktrin ermöglicht Selbstverteidigung gegen Bedrohungen durch Terror und Massenvernichtungsmittel, auch wenn ein Angriff noch nicht unmittelbar bevorsteht, die sogenannte präemptive, vorbeugende Verteidigung.
Dabei ist durchaus anerkannt, dass ein Staat nicht erst abzuwarten hat, bis die erste Angriffswelle sein Territorium erreicht, sondern – wie es Sir Humphrey Waldock schon Anfang der 1950er Jahre formuliert hat – dann,
„wenn es überzeugende Beweise nicht nur von Drohungen und möglichen Gefahren, sondern eines unmittelbar bevorstehenden Angriffs, „an attack beeing actually mounted“, gibt, dann mag davon gesprochen werden, dass ein Angriff begonnen hat, obwohl er noch nicht die Grenzen überschritten hat“ (5).
Der Irak-Krieg wird gemeinhin als erster Anwendungsfall der neuen Präemptiv-Doktrin gewertet, obwohl sich die USA nie ausdrücklich auf sie bezogen haben. Doch nimmt man die am häufigsten genannte Begründung, die Zerstörung der angeblich angesammelten Massenvernichtungswaffen, um einem Angriff zuvorzukommen, so ist das dieselbe Argumentation, mit der 1981 die Israelis die Zerstörung des Nuklearreaktors Tamuz I zu rechtfertigen versuchten, und die seinerzeit mit der Stimme der USA vom Sicherheitsrat verurteilt wurde.
Das Dilemma derartiger erweiternder und den klaren Wortlaut des Art. 51 UNO-Charta – „if an armed attack occurs“ – transzendierender Interpretationen liegt in der Unklarheit ihrer Grenzen. Sie verleitet derzeit nicht wenige dazu, die traditionelle Dogmatik der Gewaltbegrenzung in der UNO-Charta aus den Angeln zu heben und sich hinter den machtpolitischen Fanfaren der Bush-Doktrin einzufinden.
Wenn Israel seine Liquidierungsstrategie der gezielten Tötung mutmaßlicher palästinensischer Terroristen als präventive Selbstverteidigung zu rechtfertigen versucht, so spiegelt das den befürchteten Zerfall ursprünglich klar umrissener Rechtsregeln wider, der mit einer rücksichtslosen Selbstjustiz offensichtlich gezielt betrieben wird.
Die Wissenschaft ist dieser Entwicklung allerdings bislang nicht gefolgt und hält wie auch der IGH zu Recht an der restriktiven Fassung des Art. 51 fest.
Libyen – Responsibility to protect
In ihrem vierten Krieg nutzte die NATO verbreitete Unruhen in Libyen, um eine Intervention zu rechtfertigen. Am 15. Februar 2011 hatte das libysche Militär begonnen, auf Befehl Gaddafis die Demonstrationen gewaltsam niederzuschlagen. Seitdem war die Situation eskaliert. Der Konflikt kam vor den UN-Sicherheitsrat, der am 26. Februar politische Zwangsmaßnahmen nach Art. 41 UN-Charta mit seiner Resolution 1970 beschloss. Er verhängte ein umfassendes Waffenembargo und ein Reiseverbot für Personen aus dem Führungskreis um Gaddafi, ferner verfügte er das Einfrieren von Vermögenswerten einzelner Personen.
Am 17. März gelang es den USA, ein Mandat zu bekommen, das alle UN-Mitglieder gem. Art. 42 UN-Charta zum Einsatz militärischer Gewalt gegen das Regime des Muammar al-Gaddafi ermächtigte. Zwei Tage später schon – der achte Jahrestag des Überfalls auf Bagdad! – begann die Intervention durch eine Koalition von 11 Staaten unter Führung der USA, Frankreichs und Großbritanniens, die am 27. März von der NATO übernommen wurde.
Beide Resolutionen, 1970 und 1973, berufen sich für ihre Zwangsmaßnahmen auf Kapitel VII der UN-Charta. Das setzt die Feststellung der Friedensgefährdung nach Artikel 39 UN-Charta voraus, „ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt.“ Frieden im Sinne von Artikel 39 bedeutet der internationale Frieden. Der Sicherheitsrat hätte also eine grenzüberschreitende Gefährdung der Nachbarstaaten durch die Rebellion feststellen müssen, die faktisch jedoch nicht vorlag. Die Rebellion in Libyen hatte zu keiner Zeit weder Tunesien noch Algerien noch einen anderen Staat in der weiteren Umgebung gefährdet.
Eine besondere Rolle spielte bei der Begründung der Intervention das neue Konzept der „Responsibility to Protect“, RTP. Es ist von der „International Commission on Intervention and State Sovereignty“, ICISS, 2001 entwickelt worden. Der Bericht ist zum Katechismus des Menschenrechtsschutzes zwischen den Staaten geworden. Seine zentrale These lautet, dass
*„souveräne Staaten eine Verantwortung haben, ihre eigenen Bürger vor vermeidbaren Katastrophen – vor Massenmord und Vergewaltigung, vor Hunger – zu schützen, dass aber, wenn sie nicht willens oder nicht fähig dazu sind, die Verantwortung von der größeren Gemeinschaft der Staaten getragen werden muss“. *
Allerdings legt er damit die Verantwortung nicht in das Ermessen einzelner Staaten und entlässt sie nicht aus dem Gewaltverbot des Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta. Unmissverständlich heißt es in dem Report: „Bevor eine militärische Intervention durchgeführt wird, muss in jedem Fall die Autorisierung durch den Sicherheitsrat gesucht werden“ (6). Dieses spiegelt nichts anderes als den aktuellen Stand des Völkerrechts wider. Die UN-Generalversammlung hat es einige Jahre später bestätigt, als sie auf dem World Summit 2005 das neue Konzept annahm und in ihr Abschlussdokument einarbeitete.
Es ist wichtig, die Bindung der Entscheidung über Zwangsmaßnahmen an den Sicherheitsrat zu betonen, weil immer wieder versucht wird, dem RTP-Konzept Rechtsverbindlichkeit zuzusprechen, die es nicht hat, und auch einseitige humanitäre Interventionen der Staaten zu rechtfertigen. Zudem laden derartige unbestimmte Konzepte zur Erweiterung ein, was Lee Feinstein und Anne-Marie Slaughter nutzten, um die Doktrin um eine „duty to prevent“ zu ergänzen.
Damit wird den Staaten eine Verpflichtung auferlegt, „to prevent nations run by rulers without checks on their power from acquiring or using weapons of mass destruction.“ Eine weitere nachträgliche Rechtfertigung des Überfalls auf den Irak. Denn dass es bereits lange vor dem Kriegsbeginn im Frühjahr 2003 genügend Beweise dafür gab, dass das irakische Regime nicht mehr über Massenvernichtungsmittel verfügte, wurde der Weltöffentlichkeit damals vorenthalten und wurde erst später enthüllt.
Syrien – „unwillig und unfähig“
Hatte sich Russland noch ebenso wie Deutschland der Stimme bei der Resolution 1973 enthalten, so war es unmittelbar darauf nicht mehr zu einer Intervention in Syrien nach den auch dort ausbrechenden Unruhen in Daraa bereit. Nicht ohne Grund warf es der NATO Missbrauch des UNO-Mandates vor, da sie sich nicht auf die Errichtung einer Flugverbotszone und die Sicherheit der Zivilbevölkerung beschränkt, sondern von Anfang an einen regime change geplant und mit der Ermordung Gaddafis erreicht hatte.
Die USA haben ihren militärischen Einsatzes gegen den IS in Syrien mit einer neuen Doktrin gerechtfertigt:
„Staaten müssen in der Lage sein, in Übereinstimmung mit dem unveräußerlichen Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung, wie es in Art. 51 UN-Charta steht, sich selbst in Situationen wie dieser, zu verteidigen, in denen die Regierung eines Staates, von dem die Bedrohung ausgeht, unwillig oder unfähig ist, die Benutzung ihres Territoriums für einen Angriff zu verhindern. Das Syrische Regime hat gezeigt, dass es nicht in der Lage oder nicht willens ist, diese 'safe havens' wirksam zu bekämpfen. Deshalb haben die Vereinigten Staaten notwendige und angemessene militärische Maßnahmen in Syrien unternommen, um die weiter bestehende Bedrohung des Irak durch ISIL zu unterbinden, die irakische Bevölkerung vor weiteren Angriffen zu schützen und den irakischen Streitkräften zu helfen, die Kontrolle über die irakischen Grenzen zurückzugewinnen“ (7).
Diese neue Doktrin des „unable and unwilling“ beruft sich auf ein kollektives Selbstverteidigungsrecht gegen den „IS“ zugunsten des Irak und hat bereits weite Resonanz aber auch Kritik in der Literatur erhalten. Die Wissenschaftlichen Dienste des deutschen Bundestages haben sich zur Begründung des Einsatzes der Tornado-Flugzeuge in Syrien der neuen Doktrin angeschlossen.
Zur Abstützung berufen sie sich auf die Resolution 2249 des UN-Sicherheitsrats vom 20. November 2015, die Frankreich eingebracht hatte, um die militärischen Interventionen der Staaten auch gegen die Willen der syrischen Regierung völkerrechtlich zu rechtfertigen. Man ist sich allerdings darin einig, dass die Resolution, die in Punkt 5 die Staaten auffordert, „alle notwendigen Maßnahmen … in Syrien und Irak zu ergreifen, …um terroristische Akte vor allem des ISIL zu verhindern und zu unterdrücken“, kein Mandat für kollektive Militäraktionen auf syrischem Gebiet gibt. Dennoch wollen die Dienste die Resolution so deuten, dass sie sogar ein präventives Selbstverteidigungsrecht gegen die ständige Bedrohung durch den IS ermöglicht, auch ohne dabei auf ein – weiteres – Zustimmungsrecht seitens der irakischen oder syrischen Regierung rekurrieren zu müssen.
Sollte sich die „Staatenpraxis verfestigen“, das heißt bei zukünftigen Interventionen ohne ein Mandat des Sicherheitsrats und die Zustimmung des betroffenen Staates, so könnte darin sogar „eine gewohnheitsrechtliche Weiterentwicklung des Völkerrechts“ liegen.
Damit wären endlich die territoriale Integrität und Souveränität keine Barriere mehr für jederzeit begründbare Selbstverteidigungsinterventionen – eine Auflösung der territorialen Integrität, die Claus Kreß ohnehin bei Staaten, deren Organe Völkerrechtsverbrechen begehen, vorschlägt (8).
Aber abgesehen davon, dass diese Doktrin völkerrechtlich äußerst umstritten ist, da sie faktisch die Souveränität nur der schwächeren Staaten aushöhlt, und nicht als allgemein anerkannt gelten kann, liegen auch die tatsächlichen Voraussetzungen nicht vor. Nicht Syrien ist unwillig, den IS zu bekämpfen, sondern die USA und mit ihnen die Verbündeten weigern sich, mit Präsident Assad überhaupt über die Bekämpfung des Terrors zu sprechen. Die syrische Regierung hat auf die Mitteilungen von Großbritannien und Australien gegenüber dem UN-Sicherheitsrat vom 8. und 9. September 2015, dass sie militärische Aktionen gegen den IS auf syrischem Territorium beginnen, mit einem Brief vom 21. September 2015 eindeutig erklärt, dass diese Aktivitäten gegen internationales Recht verstoßen und sie Eingriffe fremder Staaten in ihre Souveränität nicht dulden werde.
Hingegen hat sie der russischen Regierung ihre Zustimmung zum gemeinsamen Kampf gegen den IS gegeben und damit eindeutig ihren Willen zur Abwehr bekundet. Dass sie nicht in der Lage war, den IS zu besiegen, ist kaum eine Kritik, die Syrien alleine trifft, sondern richtet sich an alle Staaten, die den Kampf gegen den IS aufgenommen haben. Man kann auch nicht davon ausgehen, wie es mitunter jedoch getan wird, dass die Bombardierung von IS-Stellungen im Interesse Syriens liege, und man deshalb von einer stillschweigenden Zustimmung ausgehen könne.
Die USA und ihre Verbündeten haben ausreichend öffentlich und wiederholt verkündet, das Regime Assad beseitigen zu wollen, so dass sie sich nun kaum auf eine stillschweigende Zustimmung dieser Regierung berufen können, Bombardierungen im ganzen Land ohne Abstimmung mit Damaskus vornehmen zu können. In jüngerer Zeit haben sie sogar syrische Truppen angegriffen, die sich ihrem Stützpunkt im Osten des Landes näherten.
Schließlich geht auch ein letzter Versuch fehl, die militärischen Operationen in jenen Gebieten zu rechtfertigen, in denen der IS sein Kalifat errichtet und damit faktisch die Souveränität Syriens beseitigt hat. Ein Staat, ob unter Besatzung oder als sogenannter „failed state“, verliert nicht den Schutz seiner territorialen Integrität. Durch eine rechtswidrige Okkupation wird ein Staat nicht zu einem offenen, seiner Grenzen beraubten Gebiet, in das jeder andere Staat nach Belieben eindringen kann. Zudem hat der IS seine territoriale Herrschaft in Syrien weitgehend wieder verloren und ist auf Gebiete wie Idlib im Nordwesten zurückgedrängt worden, die ihm für die Reste seiner Kämpfer und Familien von der Regierung in Damaskus eingeräumt worden sind.
Der ganze argumentative Aufwand ist schlicht ein weiterer Versuch, das strenge Gewaltverbot der UN-Charta aufzuweichen und den Staaten die militärische Intervention in fremden Staaten auch ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats zu ermöglichen und durch die Bildung neuen Völkergewohnheitsrechtes bestandfest zu machen.
Es ist einsichtig, dass dieser Weg nur für die Staaten interessant ist, die über das militärische Potential verfügen, in schwächere Staaten einzufallen. Die Befürworter dieser neuen Doktrin kommen denn auch alle aus den Staaten des atlantischen Bündnisraumes.
Die beiden Raketenangriffe der USA im April 2017 auf Al Sheirat und der Koalition aus USA, Frankreich und Großbritannien im April 2018 auf Duma und Homs haben die Diskussion um die Rechtfertigung erneut entfacht. Da auch hier weder ein Mandat des UN-Sicherheitsrats vorlag und Syrien die Staaten auch nicht angegriffen hatte, war der Verstoß gegen das Völkerrecht so offensichtlich, dass zumindest die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages das eingestehen mussten, während die Bundesregierung die Angriffe als „notwendig und angemessen“ unterstützte.
Die Trump-Administration enthielt sich, wie Frankreich, einer völkerrechtlichen Begründung der Angriffe, bekam aber weite Unterstützung im Lande. Der prominente Journalist Fareed Zakaria pries den Angriff im April 2107 als „großen Moment“ und verkündete: „Vergangene Nacht wurde Donald Trump der Präsident der USA.“ Und Ann-Marie Slaughter, Präsidentin der New American Foundation und ehemalige Direktorin für politische Planung in der Obama-Administration schrieb zum Angriff im April 2018:
„Richtig gehandelt. Das wird zwar weder den Krieg beenden, noch die syrische Bevölkerung vor vielen anderen Schrecken bewahren, nach internationalem Recht ist es illegal. Aber schließlich zieht es irgendwie eine Linie und sagt, genug“ (9).
Anders ausgedrückt: illegal aber legitim – eine Formel, die immer mehr um sich greift und die fehlende rechtliche Begründung ersetzen muss.
Allein Großbritannien hat in einem Policy Paper vom 14. April 2018 versucht, den Angriff juristisch zu rechtfertigen: Das Völkerrecht erlaube, in Ausnahmefällen Maßnahmen zu ergreifen, um überwältigendem menschlichem Leiden abzuhelfen. Diese extreme humanitäre Notlage müsse nur international anerkannt sein, es dürfe keine praktikable Alternative zur Gewaltanwendung geben, die überdies notwendig und verhältnismäßig sein müsse. Diese „extreme humanitäre Notlage“ sieht die Regierung durch die beiden Giftgaseinsätze in Khan Sheichoun und Duma sowie die Gefahr weiterer Giftgasangriffe ausgelöst.
Sie versucht also, die alte Rechtfertigung durch die „humanitäre Intervention“ hervorzuholen, die das Foreign Office schon 1986 verworfen hatte. Der Einsatz von Giftgas ist in jedem Fall eine schwere Verletzung des Völkerrechts. Aber selbst, wenn man unterstellt, dass die syrische Regierung für beide Giftgasanschläge verantwortlich ist, wie es die OPCW-Kommission für den Anschlag im April 2017 tut, können die Raketenangriffe ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrats völkerrechtlich nicht legitimiert werden. Zwar gibt es Stimmen, die „humanitäre Intervention“ wiederzubeleben, um auch zukünftigen Angriffen den Makel des Verstoßes gegen das Völkerrecht zu nehmen, ganz überwiegend wird dies jedoch in der Literatur abgelehnt.
Es handelt sich um einen völkerrechtlich nicht zulässigen Vergeltungsschlag, wie bereits 1970 die UN-Generalversammlung in ihrer Friendly Relations Declaration von 1970 beschlossen hatte: „Die Staaten haben die Pflicht, Vergeltungsmaßnahmen, welche die Anwendung von Gewalt einschließen, zu unterlassen.“ So bleibt für die westlichen Mächte nur die zweifellos nicht angenehme und offen nie eingestandene Erkenntnis, dass allein Russland und der Iran mit der Zustimmung der Regierung in Damaskus eine völkerrechtliche Legitimation für ihr militärisches Eingreifen in Syrien auf der Seite der Regierung haben.
Überblicken wir die verschiedenen Argumentationen, Konzepte und Doktrinen, mit denen das Gewaltverbot des Art. 2 Zif. 4 UN-Charta geschwächt und die Ausnahme der Art. 39/42 und 51 UN-Charta erweitert und ergänzt werden soll – von der „humanitären Intervention“ über die „responsibility to protect“, die präemptive Verteidigung bis zur „unable and unwilling“-Doktrin –, so handelt es sich zwar um ein breites Angebot legitimierender Eingriffsermächtigungen, von denen aber keine in der Wissenschaft als völkerrechtlich belastbar anerkannt wird. Die Hoffnungen, dass sich die eine oder andere Variante bereits als Völkergewohnheitsrecht durchgesetzt hätte, haben sich nicht erfüllt.
Denn zur Herausbildung von Völkergewohnheitsrecht gehört nicht nur eine lang anhaltende Praxis der Staaten, sondern eine Praxis, die auch in der Überzeugung einer bestehenden Rechtsregel ausgeübt werden muss. Dies mag den USA angesichts ihrer historisch weit ausgreifenden Interventionspraxis so erscheinen, nicht jedoch den zahlreichen Staaten, die Opfer dieser Interventionen geworden sind. Dieses Ungleichgewicht zwischen den wenigen zu einer militärischen Intervention fähigen und den zahlreichen von derartigen Interventionen bedrohten Staaten, lässt in diesen Fragen eine gemeinsame Rechtsüberzeugung ohnehin nicht aufkommen.
Haben diese Doktrinen also alle keine völkerrechtlich verbindliche Relevanz, so spielen sie bei der Legitimierung illegaler Praxis dennoch eine bedeutsame Rolle – illegal aber legitim. Es ist nicht nur so, dass die Berufung auf die Legitimität des Angriffs die Staaten und ihre Rechtsberater über die Illegalität ihres Vorgehens hinwegtröstet, diese Rechtfertigungskonzepte werden insbesondere bei der Frage nach der Verantwortung für Akte der Aggression in Zukunft eine Rolle spielen.
Der Internationale Strafgerichtshof – zahnlose Justiz?
Eine der zentralen und immer wieder beklagten Schwächen des Völkerrechts ist das Fehlen einer Sanktionsgewalt, die die Einhaltung des Rechts garantiert. Zwar kann der UNO-Sicherheitsrat Maßnahmen gemäß Art. 41 UNO-Charta ergreifen, um seinen Beschlüssen und dem Recht Wirksamkeit zu verleihen, doch sind sie an die Feststellung der Bedrohung oder des Bruchs des Friedens gemäß Art. 39 UNO-Charta gebunden und unterliegen dem Veto-Vorbehalt.
Er hat jedoch in zwei außergewöhnlichen Fällen, der Intervention der NATO in Jugoslawien und dem Völkermord in Ruanda, zum Instrument des Gerichtsverfahrens als Mittel der Friedensstiftung und Rechtsdurchsetzung gegriffen. Die beiden Tribunale waren die Vorläufer des Internationalen Strafgerichthofs, IStGH, in Den Haag, der anders als die Tribunale nicht durch einen Beschluss des UNO-Sicherheitsrats gegründet wurde, sondern auf vertraglicher Basis seit 2002 in Den Haag judiziert. Sein Vorbild waren die Tribunale von Nürnberg und Tokio.
Das materielle Strafrecht, auf dem die Rechtsprechung des IStGH beruht, das „Römische Statut“ von 1998, ist den Nürnberger Prinzipien von 1946 nachgebildet. Es umfasst die Tatbestände der „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ sowie neu hinzugekommen den „Völkermord“. Der schon in Nürnberg umstrittene Tatbestand des „Angriffskrieges“ taucht im Römischen Statut als „Aggression“ wieder auf, ohne allerdings bisher angewandt worden zu sein.
Es gelang erst 2010 auf der ersten Überprüfungskonferenz in Kampala, sich auf eine Definition dessen zu einigen, was Aggression ist: „Im Sinne dieses Statuts bedeutet ‚Verbrechen der Aggression‘ die Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Ausführung einer Angriffshandlung, die ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt, durch eine Person, die tatsächlich in der Lage ist, das politische oder militärische Handeln eines Staates zu kontrollieren oder zu lenken.“ Zugleich einigte man sich auf den 1. Juli 2018 als Stichtag, von dem an die „Aggression“ verfolgt werden kann.
Doch haben die Staaten die Definition so gefasst, dass ihr jede Schärfe und Wirksamkeit genommen ist. Die Angriffshandlung muss eine „offenkundige Verletzung der Charta“ darstellen, um als Verbrechen vom IStGH verfolgt werden zu können. „Offenkundig“ ist die Verletzung der Charta jedoch dann nicht, wenn sie bestritten wird.
Hinter dieser Formulierung steht die „nicht nur amerikanische Befürchtung..., dass der Tatbestand des Angriffskrieges auch eine humanitäre Intervention kriminalisiere, wenn diese – wie etwa 1999 im Fall Kosovo – ohne eine Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat durchgeführt wird,“ teilt uns Claus Kreß mit (10), der an der Konferenz in Kampala teilgenommen hat und die Befürchtung teilt. So enthält er sich zwar einer Bewertung des Raketenangriffs der USA auf den syrischen Luftwaffenstützpunkt Al-Sheirat im April 2017, berichtet jedoch, dass der Angriff von den USA als “völlig gerechtfertigt“ erklärt wurde und „eine deutlich größere Zahl von Staaten von einer solchen Verurteilung ausdrücklich abgesehen“ habe.
Die „wohlwollende deutsch-französische Reaktion auf den amerikanischen Gewalteinsatz“, die den Angriff als „nachvollziehbar“ entschuldigt hatte, erklärt er damit, „dass Staaten Rechtsansprüche im Wissen um völkerrechtliche Grautöne und politische Sensibilitäten nicht stets in lehrbuchartiger Klarheit artikulieren.“ Die Konsequenz jedoch ist klar: der Raketenangriff ist keine „offenkundige Verletzung der UNO-Charta“ und also straffrei.
Kreß ist durchaus optimistisch, dass dies auch zukünftig bei vergleichbaren Angriffen so sein wird, denn „nach alldem darf es als sehr wahrscheinlich bezeichnet werden, dass der Internationale Strafgerichtshof Staatenlenker, die sich zukünftig in einer extremen Notlage auch ohne UN-Mandat für eine humanitäre Intervention entscheiden sollten, nicht mit einem internationalen Strafverfahren überziehen würde…
Überzeugende Gründe sprechen dafür, dass die Entscheidung für eine humanitäre Intervention diese Schwelle zu einem Verbrechen der Aggression nicht überschreitet.“ So wie Großbritannien die Raketen auf Al Sheirat als „humanitäre Intervention“ deklariert hat, werden auch in Zukunft „extreme Notlagen“ gefunden werden, um die militärische Intervention „humanitär“ zu rechtfertigen und der Strafverfolgung zu entziehen. Damit ist auch dieser Versuch, mittels gerichtlicher Entscheidung die Durchsetzungsmöglichkeiten des Völkerrechts zu erhöhen, neutralisiert.
Krise des Völkerrechts?
Blicken wir zurück auf die erheblichen Anstrengungen, die gemacht werden, das Gewaltmonopol der UNO zu lockern, und betrachten wir die Varianten der Ausnahmen, die dabei entwickelt worden sind, so festigt sich der Eindruck, dass auch das Völkerrecht zunehmend zu einem Instrument der Kriegsführung gemacht wird. Die ursprüngliche Aufgabe, Frieden zu schaffen und zu garantieren, ist in den Hintergrund getreten.
Der Untergang der Sowjetunion und die Auflösung des „Ostblocks“ hat nicht die erhoffte Friedensdividende im Geiste der UNO-Charta erbracht, sondern eine Renaissance des Krieges – unmittelbar danach begonnen mit dem Überfall auf Jugoslawien.
Die Neuausrichtung der Welt an den Handels- und Rohstoffinteressen der transnationalen Konzerne gelingt immer weniger mit Mitteln völkerrechtlicher Verträge und der Institutionen der UNO. Brzezinskis‘ „Hegemonie neuen Typs“, „die Ausübung globaler Herrschaft“ wird heute weniger durch die „Dynamik der amerikanischen Wirtschaft“ gesichert, wie Brzezinski es noch 1997 prognostizierte, als durch ungehemmte Aufrüstung und den Einsatz militärischer Gewalt ohne Rücksicht auf das Völkerrecht.
Schon US-Präsident Wilson hatte sich in seiner Hoffnung getäuscht, mit dem Völkerbund eine Herrschaft des Rechts in den internationalen Beziehungen etablieren zu können. Ohne das Gewicht einer politischen und militärischen Gegenmacht scheint auch das Recht keine Chance zu haben. Dies ist offensichtlich die Erkenntnis gewesen, die Nord-Korea zu seiner Atomrüstung getrieben hat: Frieden durch Abschreckung statt durch Recht.
Doch bleibt die immer wieder gestellte Frage, ob, wann und wie einer akut existenzbedrohten Zivilbevölkerung mit militärischen Mitteln geholfen werden kann, wenn der UNO-Sicherheitsrat zu keiner Entscheidung kommt, unbeantwortet. Sie lässt sich auch nicht am Beispiel der militärischen Interventionen in Jugoslawien, Irak, Libyen und Syrien diskutieren, denn in allen vier Fällen handelte es sich in Wahrheit nicht um jene behaupteten äußersten Notfälle.
War in Jugoslawien die „humanitäre Katastrophe“ umstritten, so in Syrien die Chemieeinsätze, die angeblich die syrische Regierung zu verantworten hat. Der Angriff auf Bagdad beruhte auf einer Lüge und die Beseitigung Gaddafis konnte sich nicht darauf berufen, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern.
Dringlich bleibt die Frage allerdings in den Fällen, in denen aus unterschiedlichen Gründen nicht interveniert wurde, den Völkermorden in Kampuchea und Ruanda. Nicht interveniert wurde auch in Israel trotz der verheerenden und völkerrechtswidrigen Kriege im Gaza-Streifen 2008/09, 2012, 2014 und den jüngsten Massakern während des Rückkehrmarsches in Gaza.
Wäre es nicht Israel gewesen, hätte die „responsibility to protect“ durchaus die Rechtfertigung für eine „humanitäre Intervention“ mit dem Mandat des Sicherheitsrats gegeben. Dass eine militärische Intervention unterblieben ist, ist uneingeschränkt zu begrüßen. Dass jedoch nicht einmal politische oder ökonomische Sanktionen – ein durchaus beliebtes Mittel gegen andere Staaten – erwogen wurden, weist ein weiteres Mal auf die Heuchelei und Doppelbödigkeit der Diskussion, wenn es um die Begründung von Interventionen geht.
Die „Internationale Kommission über Intervention und staatliche Souveränität“ ICISS hat seinerzeit selbst zwei Alternativen diskutiert, die eingreifen könnten, wenn der Sicherheitsrat seiner „Schutzverantwortung“ nicht nachkommt. Die erste Alternative bezieht sich auf die bekannte „Uniting for Peace“-Resolution 377 V von 1950, die genau für die Situationen geschaffen wurde, in denen der Sicherheitsrat handlungsunfähig ist. Sie ermöglicht es der Generalversammlung, in einer Notsondersitzung über die notwendigen Maßnahmen zu entscheiden. Ob es für die Generalversammlung allerdings leichter ist, eine Zweidrittelmehrheit für eine Entscheidung über einen Militäreinsatz im Plenum zu erhalten, ist zweifelhaft.
Die USA hatten zum Beispiel während der zähen Beratungen im Sicherheitsrat über ein Mandat für eine Intervention gegen den Irak im März 2003 erfolgreich eine Initiative kleinerer Staaten verhindert, eine Sondersitzung der Generalversammlung gemäß Resolution 377 V (1950) einzuberufen, um dort über den Angriff gegen Bagdad abzustimmen. Die USA hätten dort nur eine deutliche Absage für ihre Interventionspläne zu erwarten gehabt und konnten bereits mit dem Hinweis, dass diese Initiative überhaupt nicht in ihrem Interesse sei, die Initiatoren abschrecken.
Die zweite Alternative wären regionale Organisationen, die in vielen Fällen aufgrund ihrer nachbarschaftlichen Nähe zu der problematischen Zone viel besser für eine Intervention geeignet seien (11). Art. 52 UN-Charta gewährt ihnen eine gewisse Flexibilität und Art. 53 ermöglicht ihnen sogar, Zwangsmaßnahmen durchzuführen – allerdings nur unter der Autorität des Sicherheitsrats: „Ohne Ermächtigung des Sicherheitsrats dürfen Zwangsmaßnahmen aufgrund regionaler Abmachungen oder seitens regionaler Einrichtungen nicht ergriffen werden“, heißt es in Art. 53 Abs. 1 S. 2 UN-Charta.
Einige Staaten der ECOWAS hatten ihre militärischen Interventionen in Liberia und Sierra Leone 1997/98 allein auf eine Ermächtigung dieses Regionalsystems ohne Mandat der UNO gestützt. Würde ein solch eindeutiger Verstoß gegen die UN-Charta akzeptiert, hätte die NATO eine willkommene Möglichkeit der Selbstermächtigung nach Belieben. Da der Sicherheitsrat den Interventionen allerdings nachträglich zugestimmt hatte, sah die Kommission darin auch für die Zukunft einen gangbaren Weg.
Schließlich führen auch alle Überlegungen zur Beschränkung der Ausübung des Veto-Rechts im UN-Sicherheitsrat nicht zu dem erhofften „behutsamen Völkerrechtswandel“. Weder eine Begründungspflicht bei Ausübung des Veto, noch ein Ausschluss bei Beteiligung an einem Konflikt oder die Unbeachtlichkeit eines Veto, wenn mit ihm die „subsidiäre Schutzverantwortung der Staatengemeinschaft für akut existenzbedrohte Zivilbevölkerungen“ verhindert würde (12), hätten eine Chance bei den Veto-Mächten.
Es ist auch zweifelhaft, ob diese Operation am Veto für die Ziele der Friedensstiftung und des Friedenserhalts wirklich hilfreich sind. Selbst die Aufnahme einer eng begrenzten und klar definierten „humanitären Intervention“ in die UN-Charta würde nicht die Zweidrittel der notwendigen Stimmen in der Generalversammlung erlangen, da die Furcht vor einem Missbrauch des Mandats durch die intervenierenden Staaten nach den Erfahrungen der letzten Jahre zu groß ist.
Was immer wieder als Legitimationsproblem oder Krise des Völkerrechts beklagt wird, ist in Wahrheit eine Krise des internationalen Systems und der politischen Kultur der Staaten. Die Fixierung auf das Völkerrecht und seine Verantwortung für den Einsatz militärischer Gewalt übersieht die vorgängige Frage, ob militärische Gewalt überhaupt ein geeignetes Mittel zur Friedensstiftung ist.
Die horrenden Zerstörungen, die die Kriege in Irak, Libyen, Syrien an den Menschen und Gesellschaften bis heute hinterlassen, haben die Zustimmung zu diesem Mittel der „Friedensstiftung“ unter den Staaten nicht verstärkt.
Im Gegenteil, der Krieg als „Mittel zum Frieden“ bleibt weitgehend auf die Staaten beschränkt, deren Rüstungshaushalt und militärischer Apparat einen solchen Schritt überhaupt erlaubt und zu einer Alternative im Arsenal der politischen Überlegungen macht. Denn offensichtlich wichtiger als Frieden ist die Sicherung des Einflusses in der Region. Solange dieses System der neoliberalen Konkurrenz und Herrschaft die Staaten zum Kampf um die internationalen Märkte und Ressourcen treibt, wird auch das von ihnen selbst geschaffene Völkerrecht immer wieder auf der Strecke bleiben.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Vgl. Pany, Thomas, Global Peace Index: Fortgesetzte Verschlechterung der Friedenslage, www.heise.de v. 6. Juni 2018.
(2) IGH Military and Paramilitary Activities in and Against Nicaragua (Nicaragua v. USA), 1986 ICJ Reports 14, para. 268.
(3) UK Foreign Office Policy Document No. 148, British Yearbook of International Law 57/1986, S. 614.
(4) ICTY, Tadić v. 15. Juli 1999, No. IT-94-1-A, para. 137.
(5) Waldock, C. Humphrey M., The Regulation of the Use of Force by Individual States in International Law In: 81 Recueil des Cours 1952 II, S. 451, 498.
(6) ICISS 2001, Z. 6.15, S. 50.
(7) Die US-Botschafterin bei der UNO Samantha Power in einem Brief vom 23. September 2014 an VN-Generalsekretär Ban Ki-moon, http://justsecurity.org/15436/war-powers-resolution-article-51-letters-force-syria-isil-khorasan-group/.
(8) Kreß, Claus, The Fine Line Between Collective Self-Defence and Intervention by Invitation: Reflections on the Use of Force against ‚IS’ in Syria, v. 17 Feb. 2015, https://www.justsecurity.org/20118/claus-kreb-force-isil-syria/.
(9) Mishra, Pankay, The Mask it wears, in: London Review of Books, V. 19. Juni 2018.
(10) Kreß, Claus, Wird die humanitäre Intervention strafbar?, in: FAZ v. 9. November 2017, S. 7.
(11) ICISS 2001, Z. 631, S. 53 f.
(12) Kreß, Claus, Haidar, Anan Alsheikh, Anm. 52.
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