Nach dem Aufsatz „Die drinnen und die draußen“ von Peter Singer (1) unter Berücksichtigung unterschiedlicher Argumente zum Thema Migration. Während Andreas Cassee grenzenlose Migration befürwortet (2), ist Julian Nida-Rümelin gegenteilige Meinung und ein Befürworter kontrollierter Zuwanderung (3).
Artikel 14 der UN-Menschenrechtserklärung von 1948: „Everyone has the right toseek and to enjoy in other countries asylum from persecution“.
Der Bunker
Stellen Sie sich vor: Es ist kurz nach einem Atomkrieg. Die radioaktive Strahlung ist so hoch, dass aller Wahrscheinlichkeit nach nur Menschen in Atombunkern die kommenden acht Jahre überleben werden. In diesem Atombunker ist Platz für 10.000 Menschen inklusive einer sehr guten Versorgung, vorgesehen für 20 Jahre. Ein riesiger Bunker, in dem es an nichts fehlt. Das Leben im Bunker wird auf Grundlage einer vorab beschlossenen Verfassung verwaltet, welche besagt, dass über wichtige, die gesamte Gemeinschaft betreffende Entscheidungen abgestimmt werden muss.
Durch große Glasscheiben kann man die Außenwelt sehen und natürlich auch, wie sich Menschmassen gegen die Zugänge drücken. Zwischen den Anwesenden kommt es zu Auseinandersetzungen, weil viele der Auserwählten noch weitere, weniger Begünstigte einlassen wollen. Immerhin reicht die exklusive Verpflegung für 20 Jahre, während der reale Bedarf wahrscheinlich nur für acht Jahre benötigt wird.
Zwischen folgenden drei Optionen soll abgestimmt werden:
- Jeder Luxus wird aufgegeben, um Raum für weitere 10.000 Menschen zu schaffen.
- Minimale Einschränkungen bei Freizeitanlagen und Nahrungsmitteln ermöglichen weiteren 500 Menschen Zugang.
- Niemand wird zusätzlich aufgenommen.
Wie würden Sie abstimmen?
Es ist doch so: Wenn sich die Leute frühzeitig informiert hätten, hätte jeder die Möglichkeit gehabt, auch einen Platz in einem dieser Bunker zu erwerben. Warum also sollten wir Vorausschauenden jene hereinlassen, die ihre Verantwortung nicht tragen wollen und sie auf uns abwälzen? Sind sie nicht selbst schuld? Wie kommen wir dazu, uns zurückzunehmen, uns einzuschränken, um denen da draußen ein angenehmes Leben auf unsere Kosten zu ermöglichen?
Es ist unser Vorrecht, dass wir aussuchen, wer herein darf! Wir nehmen nur unseresgleichen, jene die auch etwas für die Gesellschaft leisten.
Aber! Damit wir nicht ganz so hartherzig erscheinen, nehmen wir noch ein paar der Anderen auf, als mildtätiges Entgegenkommen, damit sich die Gemüter beruhigen.
Was dürfen, was können, was sollen wir tun?
Die gegenwärtige Flüchtlingsproblematik ist eine ethisch-moralische Frage bezüglich der Grenzen unserer Gemeinschaft. Wo fängt Flüchtlingshilfe an und an welchem Punkt ist es genug? Niemand ist in der Lage, ein schlüssiges Konzept vorzulegen, welches allen Anforderungen gerecht wird.
Von unseren europäischen Staaten – allen voran von jenen, an denen der Großteil des Flüchtlingsstromes anlandet, wird verlangt und erwartet, dass sie „alles stehen und liegen lassen“ und sich um ankommende Flüchtlinge kümmern, sie registrieren, Infrastruktur und Grundversorgung bereitstellen, ihnen also schnellstmögliche Integration ermöglichen. Sprachkurse, soziale Integrationsprojekte und psychologische Betreuung müssen zusätzlich angeboten werden. Eine große Herausforderung für die ohnehin wirtschaftlich ärmeren Regionen des Südens.
Die große Mehrheit an Flüchtlingen wird zeitweilig, oft aber auch über lange Zeit, von Nachbarstaaten aufgenommen, denen es selbst schwer fällt, diese Menge an Flüchtlingen zu versorgen. Und selbst wenn Hilfe von außen eintrifft – die Schäden etwa durch Verödung der Landschaft, Rodung von Holz, Müllberge und innere Unruhen – welche durch große Flüchtlingslager entstehen, sind enorm und über viele Jahre sichtbar.
Laut Artikel 14 der UN-Menschenrechtserklärung hat jedermann das Recht, in anderen Ländern um Gewährung von Asyl vor Verfolgung anzusuchen. Er dient dem Schutz aller Personen, die ihre Heimat aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen Rasse, Religion, Volkszugehörigkeit oder politischer Ansichten verlassen müssen.
Diese enge Auslegung – auf Verfolgung beschränkt – war die Antwort auf die im 2. Weltkrieg stattfindenden Vertreibungen. Da zur damaligen Zeit weder Umweltschäden noch Chancenlosigkeit aktuell waren, wurden diese als Gründe nicht berücksichtigt.
Keiner der seither stattfindenden Völkerwanderungen aufgrund von Bürgerkriegen, Hungersnöten oder anderen Fluchtursachen konnte diese UN-Erklärung gerecht werden. Zur heutigen, mobilen Zeit ist die Fixierung nur auf Verfolgung als Fluchtgrund längst überholt. Die Menschen wissen, wie es anderswo aussieht, welche Möglichkeiten es gäbe und wie sie Mittel und Wege finden, um ihre lebensfeindliche Heimat zu verlassen.
Entledigen wir uns nicht einer unliebsamen Verantwortung, wenn wir all jenen, die nicht verfolgt werden, den Status „Wirtschaftsflüchtling“ aufdrücken?
Ist es menschlich angemessen, dass wir aufgrund unseres Geburtsadels Menschen mit geringen Chancen auf ein gutes Leben den Zugang zu unseren Ländern verwehren und sie dadurch noch weiter massiv benachteiligen?
Wir, die wir quasi „ins gute Leben“ hineingeboren und dort aufgewachsen sind, sehen nicht, worauf unser Wohlergehen aufgebaut ist und was dieser Wohlstand, auf den wir mit harten Fingern pochen, andernorts anrichtet. Unser wohl erworbener Wohlstand beruht darauf, dass wir über Jahrhunderte hinweg Bodenschätze zu Billigstpreisen und Arbeitskräfte zu Billigstlöhnen aus den Kolonialländern abgezogen haben. Nicht nur das – wir pflanzen auf ihren spärlich vorhandenen reichen Böden Pflanzen für unser Wohlergehen an, während sie lediglich die verbliebenen, schlechteren Gründe behalten und bearbeiten dürfen, um zu ernten, womit wir uns niemals abfinden würden. Wir haben sie ihrer Art der selbst erhaltenden Landwirtschaft entfremdet und sie von Lohnarbeit abhängig gemacht, von Arbeitsplätzen, die wir ihnen freundlicherweise zur Verfügung stellen. Wir versorgen sie auch mit unseren Gütern, die wir hier kaum verkaufen können und ermöglichen ihnen einen halbwegs ordentlichen, westlichen Lebensstandard in den Slums der Großmetropolen.
Nicht-Verfolgte sind keine Flüchtlinge im „richtigen“ Sinne. Sie sind Wirtschaftsflüchtlinge, mit der Folge, dass ihnen keinerlei Unterstützung zusteht. Eine fragwürdige Praxis, wenn Menschen, die nach wochenlanger, gefahrvoller Flucht mittellos im erhofften „sicheren" Hafen ankommen, so behandelt werden.
Was wiegt schwerer, was ist aktueller, wer soll entscheiden und beurteilen? Politische Verfolgung oder Hungersnot, Dürrekatastrophe nach jahrelanger Hitze oder Nichtausübung von Religionsfreiheit? Wer braucht da unsere Unterstützung gleich und wer kann auf unsere Unterstützung noch etwas warten?
Haben Menschen, die in unser wohlhabendes Europa kommen wollen, ein Recht zu kommen? Steht es ihnen zu oder dürfen wir sie abweisen? Unter welchen Voraussetzungen können sie bleiben und welche guten Gründe haben wir, ihnen den Zugang in unsere Länder zu verwehren, wenn sie bei manchen noch vor der Tür und bei anderen schon im Wohnzimmer stehen?
Es gibt drei Möglichkeiten – die eine ideale Lösung wird es nicht geben.
Rückkehr in das Heimatland
Wenn sich die Lebensbedingungen gebessert haben, wäre das für die Meisten die beste Lösung. Jedoch, viele der heutigen Fluchtursachen lassen sich nicht rasch beheben, im Gegenteil: Aus manchen Gebieten werden sich die nächsten Jahre noch weit mehr auf die Beine machen. Es wäre eine äußerst barbarische Vorgehensweise, würden wir sie in ein Heimatland zurückschicken wo es an allem fehlt und die Überlebenschancen gering sind.
Die anfängliche Euphorie, die Flucht geschafft zu haben und hier sicher gelandet zu sein, wird bei vielen in einen dringenden Wunsch nach Rückkehr umgeschlagen haben, denen wird es am schwersten fallen, sich hier wohl zu fühlen und sich einzuordnen.
Ist es für willige Menschen schon schwierig, unter Fluchtbedingungen Fuß in einem völlig fremden Land zu fassen, für Menschen mit Heimweh wird es fast ein Ding der Unmöglichkeit. Aber eine rasche und umfassende Integration, selbst wenn manche lieber zu Hause wären, ist unabdingbar.
Kommen Flüchtlinge aus Kriegs- oder Bürgerkriegsgebieten, können sie wahrscheinlich in absehbarer Zukunft wieder heimkehren. In die vorübergehende Integration dieser Flüchtlinge sollte gerade so viel investiert werden, dass sie in den Aufnahmeländern ein angenehmes, menschenwürdiges Leben während dieser Zeit verbringen können.
Umsiedelung in Nachbarstaaten
Wenn die Bedingungen zuhause so schlecht sind, dass ein Weiterleben dort dauerhaft nicht möglich ist, ist Umsiedeln die einzige Möglichkeit.
Nachbarstaaten? Sie sind die ohnehin am meisten von der Flucht betroffenen. Nicht nur vom Flüchtlingsstrom, dem sie als erstes Anlaufziel ausgesetzt sind, sondern oft auch von den Fluchtursachen. Nachbarländer sind meist auch arme und politisch instabile Staaten, die trotz ihrer eigenen schlechten Bedingungen den meisten Flüchtenden Quartier und Verpflegung bieten.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie ihre Flüchtlingslager weder ausbauen noch verbessern. Die ankommenden Flüchtlinge sollen die Auffanglager so rasch wie möglich wieder verlassen und weiterziehen. Selbst wenn man die Situation für die Geflüchteten verbessern könnte, der Mangel an Wasser, Lebensmitteln und Quartier soll sie als Fluchtziel so unattraktiv wie möglich erscheinen lassen. Denn nicht nur, dass diese Erstaufnahmelager einer großen Dauerbelastung ausgesetzt sind – auf diese Ersthilfe leistenden Staaten fällt auch zurück, wenn in weiter entfernten Gebieten die Grenzen dicht gemacht werden. Dann haben diese Länder keine Chance, „ihre“ Flüchtlinge je wieder loszuwerden.
Umsiedelung in weiter entfernte Länder
Obwohl Umsiedeln als die sinnvollste Alternative erscheint, ist auch das nicht die Lösung eines Problems, welches vor unseren Augen gewachsen ist. Umsiedelung würde langfristig dazu beitragen, dass sich immer mehr auf den Weg machen. Auch wenn unsere Boote längst nicht voll sind, der Strom an Zuwanderern würde nie abreißen und eine dauerhafte Völkerwanderung von Süden nach Norden auslösen.
Wir können die zukünftig Ankommenden jedoch nicht vor der Tür, den Grenzen stehen lassen, sie können nicht vor und nicht zurück. Für Menschen auf der Flucht, die ihre Heimat aufgegeben haben und nirgendwohin können, ist unsere Entscheidung oft eine Entscheidung auf Leben und Tod.
Ex-Gratia
In Bezug auf Flüchtlinge wird hauptsächlich der „ex-gratia“-Ansatz, welcher „aus Gnade“ bedeutet, angewandt. Wir haben weder eine moralische noch eine rechtliche Verpflichtung, Flüchtlinge bei uns aufzunehmen. Wenn, wir das tun, dann aus einer Geste des Wohlwollens.
Liberale Regierungen meinen, dass sie das Recht haben, über die Gewährung von Asyl für einen jeden Flüchtling entscheiden zu können. Üblicherweise, solange sich die Zahl der um Asyl Ansuchenden in Grenzen hält, wird es auch unbürokratisch gewährt.
Wirtschaftsflüchtlinge haben nach vorherrschender Meinung keinen Anspruch auf Aufnahme, keinen Anspruch auf Sozialleistungen, keinen Anspruch darauf bleiben zu dürfen. Wie lässt sich diese Vorgehensweise mit Gleichheitsgrundsatz und Menschenwürde vereinbaren?
Wie erklärt sich der Unterschied zwischen jemandem, der um Asyl ansucht und als Fluchtgrund Kriegsgeschehen angibt, und jemandem, der aus anderen Gründen wie Umweltzerstörung, Klimawandel und dem Fehlen von lebensnotwendigen Gütern aus der Heimat geflohen ist?
Wie können wir zulassen, dass die Mehrheit der Menschen aufgrund zufälliger Abstammungsverhältnisse einem wesentlich höheren Risiko, an Hunger und Armut zu leiden, ausgesetzt sind, während ein kleiner Teil der Menschheit ein ungleich besseres Leben hat und obendrein bestimmt, wer an unserem Wohlstand teilnehmen darf oder nicht?
Die Unterscheidung zwischen „Asylsuchendem“ und „Wirtschaftsflüchtling“ sowie die Unterscheidungsgründe dürften wenig bekannt sein. Die sprachliche Abwertung des einen als „Wirtschaftsflüchtling“ macht den Unterschied zu einem echten und daher schützenswerten Kriegsflüchtling auch medial erkennbar. Die beiden Worte Asyl und Wirtschaft lösen unterschiedliche Denkreflexe aus. „Asyl“ bedeutet für uns –Menschen, die einer Notsituation entflohen sind, müssen wir helfen. Die positive Assoziierung mit „Asyl“ ist weltweit ungebrochen vorhanden.
Die Assoziation mit „Wirtschaft“ hingegen ruft gedankliche Reflexe wie „soziale Hängematte“ oder „auf unsere Kosten ein schönes Leben machen“ hervor.
Dass Wirtschaftsflüchtlinge aber zumeist aus sehr benachteiligten Weltregionen kommen, in denen sie kaum die Möglichkeit haben, ihrer Familie auch ein nur halbwegs gutes Leben bieten zu können, davon wird zwar berichtet, aber es wird nicht in Zusammenhang gebracht.
Ein weiterer Unterschied scheint von Bedeutung zu sein. Die Art der Handlung – etwas aktiv zu tun und etwas zu unterlassen – macht einen großen Unterschied aus. Jemanden aktiv abzuschieben, wir kennen das aus fast täglichen Nachrichten, ist eine Sache. Doch es bedeutet etwas anderes, jemanden, der eventuell asylberechtigt wäre – wir wissen es nicht und werden es nicht erfahren – gar nicht erst hereinzulassen.
Das Handeln an einer großen anonymen Masse ist etwas anderes als das Handeln an einer uns bekannten Person, sie in ein Flugzeug zu setzten und abzuschieben, wohl wissend, was sie zu Hause erwartet. Hier wird die Frage nach der Verantwortung für einen bekannten Mitmenschen und dem eigenen Gewissen akut, während es sich draußen, vor unseren Grenzen, um eine uns fremde, anonyme Menschenmenge handelt.
Interessengeleitete Einwanderungspolitik
Sollte Einwanderungspolitik nicht hauptsächlich von den Interessen der Betroffenen geleitet sein? Wo Interessen im Widerstreit sind, sollte da nicht abgewogen werden zwischen dringenden und weniger dringenden Interessen?
Zu allererst sind wohl die Flüchtlinge selbst betroffen. Bei ihnen geht es oft ums nackte Überleben. Sie haben alles daran gesetzt, nach Europa zu kommen, haben gelitten und gekämpft und haben jetzt nichts mehr, außer dem, was sie am Leib tragen. Selbst wenn sie nie echter Lebensgefahr ausgesetzt waren, hat sie diese Reise geprägt. Ungeachtet dessen, dass sie in ihren Herkunftsländern eher zu den Bevorzugteren gehörten – hier angekommen sind sie weitgehend besitzlos, gelten als ungebildet und werden auch noch wie Rechtlose behandelt.
Diese Reise werden sie nicht mehr vergessen und wahrscheinlich niemals wiederholen wollen. Wenn sie Aufnahme finden, werden die Meisten ihr Möglichstes tun, um die ihnen gebotene Chance auch zu nutzen. Sie sind hier und im Gegensatz zu anderen eingereisten und erwünschten „Leistungsträgern“ können sie nirgendwohin, schon gar nicht wieder nach Hause und müssen sich hier auf Dauer einrichten. Ihnen sollte unsere volle Unterstützung zuteil werden.
Als zweite Gruppe sind die Bewohner des Aufnahmelandes von der Fluchtsituation betroffen. Wie sie reagieren, hängt wohl hauptsächlich von der Zahl der eingelassenen Flüchtlinge ab, wobei die Akzeptanz mit zunehmender Menge abnimmt. Der Widerstand wächst erwiesenermaßen nicht aufgrund wachsender Fremdenfeindlichkeit, sondern aufgrund mangelnder Aufklärung und einer großen sozialen Unausgewogenheit.
Es ist nicht zu erwarten, dass hier der freie Markt schafft, was er sonst auch nicht zu schaffen vermag: dass niemand unter den vielen Flüchtlingen und zukünftigen Arbeitssuchenden zu leiden hat. Am meisten werden ärmere Bevölkerungsschichten unter der Zunahme an Konkurrenten, im Wettstreit um Sozialleistungen und Arbeitsplätze zu leiden haben. In manchen Regionen wird sich eine wirtschaftliche Bereicherung feststellen lassen, aber auch davon werden nicht alle profitieren.
Zuwanderung muss gezielt und strukturiert ablaufen, alle, Zuwanderer wie Ansässige, müssen sozial begleitet werden, „dann klappt das mit den Nachbarn“. Das Wichtigste: Der Aufklärung über unsere Lebensweise sollte all unser Interesse gelten, leider wird genau das sträflich vernachlässigt, daraus resultieren da wie dort Missverständnisse, Übergriffe und Intoleranz.
Zuwanderung darf nicht befremdlich und nicht als aufgezwungen wahrgenommen werden, sondern sollte für Einheimische wie Zugewanderte die Möglichkeit des kontrollierten Kennenlernens bieten, indem Fremde nicht nur als fremd, gefährlich und konkurrierend erlebt werden, sondern als Mitbürger und Mitmenschen.
Noch längst sind viele Staaten Europas nicht an einem Punkt angelangt, an dem Flüchtlinge tatsächlich eine Bedrohung für Staat und Bevölkerung darstellen würden. Trotzdem ist es wichtig, auf die Bevölkerung zu hören und wahrzunehmen was an der Basis passiert. Immerhin müssen die Bürger tagtäglich mit ihren neuen Nachbarn leben und Lösungen finden, gut miteinander zurecht zu kommen. Entgegenkommen, Freundlichkeit und reibungsloses Zusammenleben wird vorausgesetzt, ohne zu bedenken, welche Herausforderung es für Einzelne bedeutet. Läuft es nicht reibungslos, folgt Erstaunen und man ist mit Schwierigkeiten konfrontiert, zu denen es bei rechtzeitig getroffenen Vorkehrungen nie hätte kommen müssen.
Sowohl die Versorgung von vielen Flüchtlingen als auch die Abwendung und Bekämpfung aufkeimender Ausländerfeindlichkeit kommen Kommunen teuer. Trotzdem sollten die Kosten nicht gescheut werden, denn eine wesentliche Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben ist, dass sich für soziale Randgruppen keine weiteren Benachteiligungen durch die Anwesenheit Fremder ergeben.
Auch die Auswirkungen großer Fluchtbewegungen auf Umwelt und Infrastruktur, besonders in Ballungszentren, müssen Berücksichtigung finden.
Wollten wir endlos Flüchtlinge aufnehmen, würden ohne ständige Anpassungen der Systeme die Nachteile eines immer weiter erhöhten Zustroms auf jeden Fall überwiegen. Irgendwann könnte das Ökosystem heillos überlastet sein – oder irgendwann die Geduld der bereits hier lebenden Bürger reißen. Aus dieser Überlastung und diesem Toleranzverlust der Bürger ihren neuen Nachbarn gegenüber könnte sich eine ernsthafte Gefahr für das friedliche Zusammenleben und die Sicherheit aller entwickeln.
Eine schwer abschätzbare Folge der Aufnahme vieler Flüchtlinge ist der sich vielleicht verstärkende Flüchtlingsstrom. Je besser die Aufnahme in reiche Länder funktioniert, umso weniger wäre es für die Verbliebenen notwendig, den Anforderungen in der Heimat zu trotzen beziehungsweise die Lebensbedingungen der Verbleibenden zu verbessern. Die Folgen, wenn gut gebildete und tatkräftige junge Menschen ihre Heimat verlassen, sind weit reichend; zunehmende Verarmung und Überalterung, Verödung und Ausverkauf von Grund und Boden an wohlhabende Investoren nehmen zu.
Angenommen wir holen Vertriebene aus überfüllten Lagern – aus welchen Gründen auch immer – mit dem Ausblick auf Integration in einem wohlhabenden Land, kein Flüchtlingslager würde sich je leeren. Peter Singer schreibt dazu: „Da das Interesse der Flüchtlinge an einer Umsiedlung in ein wohlhabenderes Land stets schwerer wiegen wird als die dagegen stehenden Interessen der Bürger jener Staaten, scheint das Prinzip der gleichen Interessenabwägung auf eine zukünftige Welt zu verweisen, in der alle Länder weiterhin Flüchtlinge so lange einlassen, bis sie sich auf ein und derselben Stufe der Armut und Überbevölkerung befinden wie die Länder der Dritten Welt, aus der die Flüchtlinge zu fliehen versuchen“ (1).
Es ist kompliziert. Denn wie wir uns auch entscheiden, es besteht immer die Gefahr des Vertrauensverlustes, entweder in der eigenen Bevölkerung oder auf internationaler Ebene, indem wir den Anschein unsolidarischen Verhaltens vermitteln. Wie sollten wir auch als solidarisch wahrgenommen werden, wenn wir zum Beispiel Griechenland, Italien oder den Libanon mit diesem übermächtigen Problem der Flüchtlingsfrage allein und sie mit ihren übervollen Flüchtlingslagern sich selbst überlassen?
Der Vorwand, dass moralisch-ethische Grundsätze politisch nicht durchsetzbar wären, gilt als unrühmliche Entschuldigung für unterlassenes Handeln. Tatsächlich handelt es sich um ein kompliziertes Geflecht an unterschiedlichen Interessen, die so abgewogen werden sollten, dass Wichtigkeit und Wertigkeit ausreichend Anerkennung finden und das geht nur über ernsthafte moralisch-ethische Auseinandersetzungen.
Resümee
Die demnächst stattfindende Abstimmung über das UN-Migrationsabkommen ist eine heikle Angelegenheit. So rühmlich manche Aspekte sein mögen, ist das oberste Ziel doch, einen grenzenlosen Arbeitsmarkt zu schaffen, denn nicht umsonst waren hauptsächlich Großunternehmen an der Ausarbeitung beteiligt.
Mag das Abkommen jetzt noch eine unverbindliche Form haben, früher oder später sollen seine Regelungen in gültiges Recht überführt werden. Dies wird den Weg dafür ebnen, den Arbeitsmarkt mit weiteren Arbeitskräftenzu fluten, um unter dem Deckmantel des Fachkräftemangels den Druck auf hiesige Arbeitnehmer zu erhöhen.
Norbert Häring zitiert dazu aus dem informellen Multi-Stakeholder-Hearing für das Migrationsabkommen im Jahr 2017 das Statement von Stephanie Winet für den Global Forum on Migration and Development Business Mechanism: „In Herkunftsländern ist der Wunsch nach einem besseren Leben durch größere wirtschaftliche Chancen ein starker Anreiz (zu wandern N.H.). Die gegenwärtige Realität demonstriert (…) die Inkonsistenz von Förderung des internationalen Handels, nicht aber der entsprechenden Mobilität des Humankapitals. Das Migrationsabkommen wird versuchen das zu verbreitern, indem Kanäle für Arbeitsmobilität geschaffen werden. (...) Unternehmen verlieren Gelegenheiten, wenn es keine klaren Wege gibt, Arbeiter aus anderen Ländern anzuheuern. Das Wichtigste ist, dass Mitgliedsstaaten Wanderungsprogramme auflegen, die es Zielländern ermöglichen, Wanderarbeiter aufzunehmen, wenn sie im Arbeitsmarkt gebraucht werden“ (4).
Welche Auswirkungen hat die unbegrenzte Migration auf unsere staatlichen Kernkompetenzen wie Sozialleistungen, Bildung, Infrastruktur? „Als Vox-Redakteur Ezra Klein Bernie Sanders eine Politik der offenen Grenzen vorschlug, antwortete der Senator in Manier der oldleft: „Open borders? Nein. Das ist ein Vorschlag der Koch-Brüder“(5).
Solange um Staaten Grenzen gezogen sind, müssen alle Staaten dieser Welt auf ihre Grenzen achten. Souveräne Staaten können Rechte und Pflichten ihrer Bürger nur innerhalb ihres staatlichen Hoheitsgebietes waren und verteidigen.
Jedem, dem an sozialen Leistungen, Bürgersicherheit und der Gewährleistung eines möglichst reibungslosen Zusammenlebens gelegen ist, sollte auch daran gelegen sein, dass Grenzen erhalten bleiben. Zu allererst müssen jene Migranten aufgenommen werden, die unsere Unterstützung am dringendsten brauchen und nicht jene, die den Interessen der Wirtschaft dienen, also scheinbar dringend benötigte Fachkräfte.
Weiterhin muss darauf geachtet werden, dass unsere Arbeitsuchenden zu einem Lohn angestellt werden, der fair ist und ein sorgenfreies Leben sichert. Es darf keine Möglichkeit geben, mithilfe und auf dem Rücken von Migranten und Einheimischen Löhne und Gehälter zu kürzen.
Quellen:
(1) Singer, P.: Praktische Ethik; „Die drinnen und die draußen“; Stuttgart 1994
(2) Cassee, A.: Die Schweiz leidet definitiv nicht unter einem Asylchaos, https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/die-schweiz-leidet-definitiv-nicht-unter-einem-asylchaos (aktuell: 04.12.18)
(3) Nida-Rümelin, J.: Philosophie und Migration, 14.11.2016, https://www.deutschland.de/de/topic/politik/deutschland-europa/philosophie-und-migration# (aktuell: 04.12.18)
(4) Häring, N. Blog: Geld und Mehr, http://norberthaering.de/de/27-german/news/997-migrationsabkommen-2 (aktuell: 04.12.18)
(5) Nagle, A.: Die Linke und die „Open Borders“, Makroskop: Migration und Freie Märkte 3.12.2018, https://makroskop.eu/2018/12/die-linke-und-der-fall-open-borders/ (aktuell. 5.12.18)
Weitere Hinweise:
Bleisch, B.: Alle wollen Integration – aber nicht alle wollen das Gleiche, https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/alle-wollen-integration-aber-nicht-alle-wollen-das-gleiche (aktuell: 04.12.18)
Carens, J. H.: „Plädoyer für offene Grenzen“, Oxford 2013
Manemann, J.: The borderas an interface – ethical-politicalperspectives after Auschwitz, Philosophie indebate, 13.Juni 2018; https://philosophie-indebate.de/author/amh/ (aktuell: 04.12.18)
Walzer, M.: Spheresof Justice: a defenseofpluralism and equality (dt Ausgabe 1992: Sphären der Gerechtigkeit: ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit). „Mitgliedschaft und Zugehörigkeit“
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