CO2, das Maß aller Dinge
Versetzen wir uns in die Gedankenwelt jener, die allen Ernstes meinen, das Schicksal der Welt hinge vollständig von der Konzentration der Treibhausgase ab. Wenn eine Zahl, nämlich die Ppm-Konzentration von CO2 in der Atmosphäre (1), tatsächlich über das Schicksal der Menschheit entscheidet, dann ist diese Zahl alles, sie ist die Wahrheit unserer planetaren Existenz. Die CO2-Konzentration wird zum Maß aller Dinge. Ob Menschen oder Tiere, ob Land oder Stadt, ob Pflanzen, Wälder oder Siedlungsräume, alles wird danach beurteilt, ob dadurch die eine, alles entscheidende Zahl steigt oder sinkt. Der Welt wird ein Zahlenkleid übergeworfen, und diese nackten Zahlen sind realer als das, was sie messen. Die Messung ist realer als das Gemessene, weil sie das tatsächliche Schicksal des Planeten anzeigt. Nur wer die Augen vor der Gefährdung des Planeten verschließt, für den bleibt eine Kuh eine Kuh, ein Baum ein Baum, ein Meer ein Meer und ein Mensch ein Mensch.
Wer sich jedoch der planetarischen Verantwortung bewusst wird, begreift, dass jede Steigerung der Zahl zur irreversiblen Katastrophe führen wird. Alle Katastrophen, die gegenwärtigen und die zukünftigen, alle extremen Wetterereignisse und alle zukünftigen Überflutungen, Waldbrände, Dürren, kurzum die künftige Unbewohnbarkeit der Welt ist letztlich durch diese eine Zahl bestimmt. Wer dies erkennt, weiß : Eine Kuh ist keine Kuh, sondern ein Emittent von Treibhausgasen, ein Baum ist kein Baum, sondern eine CO2-Senke, ebenso die Ozeane, und ein Mensch ist unabdingbar eine problematische CO2-Größe. Diese Denkweise ist in geradezu unheimlicher Präzision im Plan „Fit für 55“ der EU verwirklicht.
Zusätzlich zu den im vorherigen Kapitel genannten Themenbereichen gibt es auch Aussagen zu Land- und Forstwirtschaft. Dieser Teilplan trägt das bürokratische Abkürzungsmonster LULUCF-Verordnung, was so viel wie „Land Use, Land Use Change and Forestry“ bedeutet. Und was ist ein Wald, was ist ein Moor, was ein Feuchtgebiet ? Für die EU eine CO2-Senke. Unter diesem Gesichtspunkt, und nur unter diesem, werden Wald, Moor und Feuchtgebiete thematisiert. „Der Rat hat sich im Juni 2022 auf eine allgemeine Ausrichtung zur Überarbeitung der LULUCF-Verordnung geeinigt, mit der Regeln für die Senkung der Emissionen und den Abbau von CO2 im Sektor Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft (LULUCF) festgelegt werden. (…) Die überarbeitete Verordnung wurde vom Rat im März 2023 förmlich angenommen“ (2).
Alles, was nicht durch das Maß aller Dinge zu messen ist, verfehlt das eigentliche Ziel, das Ziel aller Ziele, nämlich die Senkung der magischen Zahl berechenbar zu machen. Jede Maßnahme, jede Aktivität, die nicht am Maß aller Dinge gemessen werden kann, ist vergebens.
Küstenschutz durch Dammbauten gibt es in Norddeutschland seit über 100 Jahren, warum also nicht auch zum Beispiel in Bangladesch ? Hitze-, aber auch Kältewellen können durch Klimaanlagen und Heizungen gemildert werden. Schwammstädte können das Regenwasser länger speichern, ebenso trägt eine Entsiegelung des Bodens dazu bei, starke Regenfälle für eine Erhöhung des Grundwasserspiegels zu nutzen. Gebiete, die unter geringerem Niederschlag leiden, könnten durch Hunderte Kilometer lange Pipelines mit Wasser versorgt werden. Städte können auf vielfache Weise abgekühlt werden.
Doch solche Maßnahmen lenkten letztlich nur davon ab, was wirklich zu tun sei. Sie sind letztlich nutzlos, weil nicht erkannt wird, dass alles in Wahrheit eine Zahl ist und alles davon abhängt, ob diese Zahl steigt oder sinkt. Wer sich nicht in die Schar jener einreiht, die das Maß aller Dinge zum Maßstab allen Handelns erhoben hat, ist verdächtig. „Gegenwärtig wird jeder, der sich nicht für die radikalsten Lösungen des Problems der globalen Erwärmung einsetzt (die Senkung der CO2-Emissionen), wie ein Aussätziger behandelt, als verantwortungslos bezeichnet und für eine potenzielle Marionette der Erdöllobby gehalten“ (Lomborg 2009, 10).
Die reale Welt in ihrer irreduziblen Mannigfaltigkeit und mit ihr alle Widersprüche und Probleme versinken bei den AlarmistInnen hinter dem einen, wahren Ziel. Es ist, als ob jene, die das wahre Ausmaß der kommenden Klimakatastrophe zu erkennen meinen, eine Brille aufhaben, die ihnen die wirkliche Bedeutung der Dinge zeigt. Wir sehen einen Ölofen, der unser Zimmer heizt – sie berechnen jedoch den CO2-Ausstoß. Wir betrachten ein Auto, unser Mittagessen, eine Fernreise, ein Kleid und eine Wohnsiedlung – sie erblicken immer nur das eine, das Mehr oder Minder der Zahl.
Die Mannigfaltigkeit der Welt gerinnt zu einem Monismus des Maßes aller Dinge. Als ob alles, was sich nicht am Maß aller Dinge messen lässt, zu einem anderen Universum gehören würde.
In dieses vormathematische Universum der Dinge fällt dann zum Beispiel eine Aussage wie diese : „Klimapolitik als Mittel zur Bekämpfung des Hungers in der Welt ist schlichtweg ungeheuer ineffizient“ (Lomborg 2009, 149). Sie macht in der Welt des wahren Maßes keinen Sinn, denn die Bekämpfung des Hungers ist eine Sache, die Rettung der Welt eine andere.
Camila Moreno, Daniel Speich Chassé und Lili Fuhr haben 2016 eine Broschüre mit dem Titel „CO2 als Maß aller Dinge“ geschrieben, die von der Heinrich-Böll-Stiftung herausgegeben wurde. Darin lesen wir : „Wenn CO2 zum Maß aller Dinge wird, verliert die Vorstellung von Biodiversität an Eigenwert, für den Generationen von Umweltschützer/innen weltweit gekämpft haben“ (Moreno C. et al. 2016, 53).
Die Erkenntnis, dass die Auflösung der Welt in Zahlen und Formeln diese in sinnlicher Fülle und materieller Realität auslöscht, ist keineswegs neu. Wirft man der Natur ein Zahlenkleid über, schlüpft die Wirklichkeit zwischen den Maschen hindurch. Dieses Motiv findet sich auch in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno und ebenso in der klassischen Gesellschaftskritik von Herbert Marcuse, unter anderem in seinem Buch „Der eindimensionale Mensch“, der sich in dieser Frage wiederum am französischen Philosophen Merleau-Ponty orientiert.
Man muss allerdings zwischen der Mathematisierung von konkreten Gegenständen und Prozessen und der Zahl als dem primären Weltzugang unterscheiden. Berechne ich die Stützmauern eines Hauses, so abstrahiere ich wohl von ästhetischen, lebenspraktischen Aspekten und den Bedürfnissen der BenutzerInnen. Diese Reduktion des Konkreten auf Zahlen ist zweifellos angebracht, soll das Gebäude nicht zusammenstürzen. Von der Entwicklung der Dampfmaschine bis zur Konstruktion von Computern beweist sich ununterbrochen die Sinnhaftigkeit dieses Verfahrens.
Davon ist ein Weltzugang zu unterscheiden, dem die Zahl zum einzigen Maß der Dinge wird. Das Reich der Vernunft beschränkt sich dann auf das Reich der Zahlen ; als rational und vernünftig gilt, was sich in mathematischen Formeln darstellen und berechnen lässt. Die Zahl wird zum Fetisch, verkörpert in Rankings, IQs und Klassifikationen. Was sich nicht in Zahlen darstellen lässt, existiert nicht. Ich weiß nicht, inwieweit die AutorInnen der Broschüre „CO2 als Maß aller Dinge“ mit den oben skizzierten philosophischen Denkrichtungen vertraut sind (3), aber sie kommen zu sehr ähnlichen Schlussfolgerungen: „Der Versuch, die Wirklichkeit und ihre Widersprüche in CO2-Einheiten abzubilden und miteinander austauschbar zu machen, bringt kulturelle, symbolische und epistemische Gewalt mit sich“ (Moreno C. et al. 2016, 65). Das mag im ersten Moment etwa überzogen klingen, ist aber der Sache nach korrekt.
Auch Menschen, ihr Wissen, ihr Charakter, ihre Fähigkeiten, kurzum ihre Persönlichkeit soll mit Zahlen erfasst werden. Das geschieht zum Beispiel durch die österreichische Arbeitsmarktverwaltung (AMS), die Erwerbsarbeitslose mittels eines Computerprogramms in drei Kategorien einteilt. Es ist offensichtlich, dass der reale Mensch dabei nicht erfasst wird.
Ebenso wenig kann die Mannigfaltigkeit der Mensch-Natur-Verhältnisse durch Zahlen, noch dazu durch eine einzige, erfasst werden. All diese Messungen werden den Dingen nicht gerecht, weder der Natur noch dem Menschen. Genau das aber geschieht, wenn die Ppm-Zahl der CO2-Konzentration zum Maß aller Dinge wird. Alles, was aus dem Raster der CO2-Messungen herausfällt, wird gewaltsam als Nebensache abgestempelt.
Insofern macht die Aussage, CO2 zum Maß aller Dinge zu machen führe zu „kultureller, symbolischer und epistemischer Gewalt“, durchaus Sinn. Die unbestrittene, vom Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC, Zwischenstaatlicher Ausschuss für Klimaänderungen) über die Staatskanzleien bis zur Klimabewegung hegemoniale Orientierung ist geradezu ein Musterbeispiel für den Triumph der Mathematisierung der Natur.
Auch die AutorInnen der Studie sehen sehr klar, dass die Zahl als Maß aller Dinge weit über eine bloße Berechnung der Welt hinausgeht und in praktisches Verhalten umschlagen muss: „Ein metrischer (in Zahlen messender) Verstand erfordert eine metrische Geisteshaltung, eine eigene Denkweise, mit der sich die Welt in Form von Zahlen begreifen lässt. Von zentraler Bedeutung ist dabei auch, wer misst und wer oder was vermessen wird oder wie und wozu gemessen wird“ (Moreno C. et al. 2016, 59). Aus dem Wie, Wer und vor allem dem Wozu resultiert der Fokus auf die Emissionsreduktionen, alles andere kann nur Beiwerk sein. Die Doppelbedeutung des Wortes „Nenner“ als mathematischer Fachausdruck wie auch als primäres Ziel des Handelns erlaubt die Aussage : Entscheidend ist, dass alle Maßnahmen gegen die Klimaveränderung auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können.
Das kennen wir doch
Aber warum ist uns die Thematisierung der Welt durch einen einzigen Maßstab so vertraut ? Warum scheint es einzuleuchten, dass CO2 tatsächlich das Maß aller Dinge ist, jene Zahl, deren Minderung nicht nur den Planeten rettet, sondern zahlreiche Probleme wie Hunger, Krieg, Krankheiten, wirtschaftliche Krisen, schwindende Artenvielfalt und so weiter angeblich entschärft ? Weil es diese Zahl schon längst gibt und wir tagtäglich damit rechnen. Es ist das Geld, das Maß aller Dinge. Eine Wiese ist keine Wiese, sondern ein Grundstück mit Marktwert. Eine Kuh ist keine Kuh, sondern einige Kilogramm Fleisch mit unterschiedlicher Qualität, die unterschiedliche Preise ermöglichen. Die bunte Warenwelt ist in Wirklichkeit nur Träger von Geldwerten.
Marx zeigt gleich zu Beginn seines Hauptwerkes „Das Kapital“, dass alle Dinge an einem einzigen Maßstab gemessen werden. Es ist dies sehr vereinfacht gesagt das Geld ; alles hat so seinen Preis. Doch dabei bleibt es nicht, der Zweck des Kapitals besteht darin, sich zu vermehren, aus Geld noch mehr Geld zu machen. Unter diesem Gesichtspunkt verwandelt sich alles in Geldwerte, die als solche in die Kalkulation eingehen. Auch die Menschen werden so zu Kostenfaktoren. Das Kapital prüft die Arbeitskraft und versucht sie Gewinn maximierend einzusetzen.
Die Homologie zwischen CO2 als Maß aller Klimadinge und dem Geld als Maß aller Wirtschaftsdinge ist verblüffend. Sowohl die CO2-Monisten wie auch die KapitalbesitzerInnen behandeln die Dinge, Menschen, Landschaften, Wälder und Wiesen, als wäre ihr wahres Wesen eine Zahl. Es ist derselbe Weltzugang, der sich von der bunten Oberfläche der Dinge nicht täuschen lässt und auf den Rechengrößen als ihren wirklichen, entscheidenden Kern beharrt.
Das Konkrete wird dem Abstrakten untergeordnet. Man weiß, in Wirklichkeit besteht die Welt aus Zahlen. Ist das Kapital daran interessiert, wie profitabel die Produktion ist und welche Waren sich besonders gut verkaufen, so fragen die Alarmisten danach, was sich besonders gut zur Emissionssenkung eignet und was nicht.
Einen Unterschied gibt es jedoch : Die Prinzipien stehen in einem reziproken Verhältnis zueinander. Vom einen soll es möglichst wenig, vom anderen möglichst viel geben. Aber auch hier zeigt sich eine geradezu verblüffende Wahlverwandtschaft. Beide Kalküle, das Weniger des einen und das Mehr des anderen, tendieren zu einer schrankenlosen Umsetzung. Widerstand soll nicht geduldet werden. Wer sich der Rationalität der Berechnung nicht unterordnet, wird moralisch verurteilt und mit Zwangsmaßnahmen bedroht. Profit wird ohne zu zögern auch mit Gewalt herausgepresst. Ebenso zögern nicht wenige innerhalb der Klimabewegung, für Zwangsmaßnahmen zu plädieren, manche erwägen sogar eine Klimadiktatur.
Es ist eine Illusion zu meinen, die Reduktion des CO2-Gehalts stünde im Widerspruch zur Vermehrung des Geldes. Entweder das eine oder das andere ? Es gibt wohl Stimmen aus der Wirtschaft, die befürchten, der Green New Deal würde zu höheren Rohstoff- und Energiepreisen führen, die die Wettbewerbsfähigkeit ihres Geschäftes mindern würden. Ebenso gibt es innerhalb der Klimabewegung Strömungen, die fest davon überzeugt sind, die Reduktion von CO2 sei mit dem Kapitalismus nicht zu machen. Das mag im Detail zutreffen, aber in Wahrheit harmonieren beide Kalküle bestens miteinander. Beiden ist die reale, raumzeitliche Welt nur das Mittel, nicht der Zweck. Es vereint derselbe Weltzugang, nämlich die konkrete, raumzeitliche Mannigfaltigkeit einem einzigen Maß zu unterwerfen. Man sollte herrschende Kreise nicht unterschätzen.
Was sich aus der Perspektive eines kleinen mittelständigen Unternehmens als Problem darstellen mag, so man nicht in der Sparte der erneuerbaren Energieproduktion tätig ist, stellt sich aus der Perspektive der großen Konzerne als Chance dar. Das Kapital hat längst begriffen, dass sich die Steigerung des Profits wunderbar in die Senkung von CO2 fügt. Es kann im Prinzip, sich einem einzigen Maß aller Dinge zu verschreiben, nichts Bedrohliches finden, es ist doch auch sein Prinzip : Die vielfältigen Interessen und Bedürfnisse der Menschen sollen den Berechnungen untergeordnet werden.
Erklären die einen höhere Löhne als wirtschaftlich schädlich und günstige Wohnungen als ökonomisch unvernünftig, so die anderen das Bedürfnis nach einer warmen Wohnung oder gar nach Fernreisen als unverantwortlich und klimaschädlich. Das eigene Prinzip der Verwandlung der Welt in das Maß aller Dinge, den Preisen einerseits und der CO2-Emission andererseits, soll gesellschaftlich verpflichtend werden. Die Menschen haben sich dem Kalkül der Zahlen zu unterwerfen.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Es werden auch andere Treibhausgase in derselben Weise thematisiert, allerdings werden sie in CO2-Äquivalente umgerechnet, insofern kann schon gesagt werden, CO2 ist das Maß aller Dinge. Es misst eben alles, auch Methan, Lachgas und so weiter.
(2) https://www.consilium.europa.eu/de/infographics/fit-for-55-lulucf-land-use-land-use-change-and-forestry/
(3) Sie beziehen sich offenbar primär auf Werner Sombart und Eve Chiapello, die aus anderen Denktraditionen kommen.