Putins Ansprache an die russische Bundesversammlung — de facto eine Rede zur Lage der Nation — glich einem Judogriff, der die Falken der transatlantischen Sphäre verblüffte.
Der „Westen“ wurde nicht einmal explizit erwähnt. Nur indirekt oder über eine genüssliche Metapher aus Kiplings „Dschungelbuch“. Um Außenpolitik ging es erst am Ende, fast wie ein nachträglicher Gedanke.
Den größten Teil seiner 90 Minuten konzentrierte sich Putin auf innenpolitische Themen und stellte eine Reihe von Strategien vor, wie der russische Staat notleidenden Bürgern — einkommensschwachen Familien, Kindern, alleinerziehenden Müttern, jungen Berufstätigen, Unterprivilegierten — helfen könne mit Maßnahmen, die von kostenlosen Vorsorgeuntersuchungen bis zu der Möglichkeit reichten, bald ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen.
Natürlich würde er nicht umhinkommen, auf den gegenwärtigen, sehr volatilen Status der internationalen Beziehungen einzugehen. Doch die prägnante Art, wie er das anging, angesichts der in der transatlantischen Sphäre vorherrschenden Russophobie, war beeindruckend.
Zuerst Grundsätzliches. Russlands Politik „soll Frieden und Sicherheit für das Wohlergehen unserer Bürger und für die stabile Entwicklung unseres Landes gewährleisten“.
Wenn aber jemand „keinen Dialog will, sondern einen egoistischen und arroganten Tonfall wählt, dann wird Russland immer einen Weg finden, seinen Standpunkt zu verteidigen“.
Putschpläne für Weißrussland
Er erwähnte exemplarisch die „Praxis politisch motivierter, illegaler Wirtschaftssanktionen“ und verband sie mit „etwas viel Gefährlicherem“, das im Narrativ des Westens verschwiegen wird: „Der kürzlich erfolgte Versuch, einen Staatsstreich in Weißrussland zu organisieren, einschließlich der Ermordung des Präsidenten dieses Landes.“ Putin legte großen Wert auf die Feststellung, dass hier „alle Grenzen überschritten worden sind“.
Der Plan, Lukaschenko zu töten, wurde von den Geheimdiensten Russlands und Weißrusslands aufgedeckt, in deren Gewahrsam sich mehrere Akteure befinden, hinter denen — wer sonst — US-Geheimdienste stehen. Erwartungsgemäß dementierte das US-Außenministerium jede Verbindung mit dem Komplott.
Putin (1):
„Es genügt schon, auf die Geständnisse der Verschwörer hinzuweisen, dass eine Blockade von Minsk in Vorbereitung war, die sich auch auf die Infrastruktur und die Kommunikationswege erstrecken sollte — der totale Shutdown des Stromnetzes der weißrussischen Hauptstadt. Das bedeutet aber, dass sie einen massiven Cyberangriff planten. Oder was sonst? Mit einem Schalter werden Sie das nicht schaffen.“
Und das führt zu einer sehr unbequemen Wahrheit:
„Offenbar hatte es seinen Grund, dass unsere westlichen Kollegen hartnäckig viele Vorschläge der russischen Seite abgelehnt haben, auf dem Feld der Informations- und Cybersicherheit einen internationalen Dialog zu etablieren.“
Putin (1):
„Hören Sie, Sie können ja denken, was Sie wollen, etwa über den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch oder Nicolas Maduro in Venezuela. Ich wiederhole, Sie können sie mögen oder nicht, inklusive Herrn Janukowitsch, der auch fast getötet wurde (2) und in einem bewaffneten Staatsstreich von der Macht entfernt wurde. Und Sie können Ihre eigene Meinung haben über die Politik des weißrussischen Präsidenten Lukaschenko. Aber die Praxis, Staatsstreiche zu inszenieren und politische Morde zu planen, einschließlich solcher an hohen Funktionären (10) — das geht eindeutig zu weit. Das überschreitet alle Grenzen.“
Putin (1):
„Und was, wenn der Putschversuch in Weißrussland stattgefunden hätte? Der war ja das eigentliche Ziel. Wie viele Menschen wären dabei zu Schaden gekommen? Was wäre aus Weißrussland geworden? Aber davon redet niemand. Ebenso wie man sich keine Gedanken über die Zukunft der Ukraine machte während des Putsches in jenem Land“ (2).
Asymmetrisch, schnell und hart
Putin bemerkte, wie das Diffamieren Russlands „zu einem neuen Sport geworden ist, wer die lauteste Anschuldigung erhebt“. Und dann benutzte er ein Bild aus Kiplings Dschungelbuch:
„Russland wird bald hier, bald dort angegriffen, ohne Grund. Und natürlich laufen alle Arten von Schakalen herum, wie Tabaqui um Shir Khan, den Tiger, herumlief, und stehen — genau wie in Kiplings Buch — heulend bereit, ihrem Meister zu Diensten zu sein. Kipling war ein großer Schriftsteller.“
Diese — vielschichtige — Metapher wird sogar noch verblüffender, weil sie auch auf das große geopolitische Spiel des ausgehenden 19. Jahrhunderts zwischen dem britischen und dem russischen Imperium passt, in dem Kipling ein Beteiligter war.
Wieder musste Putin betonen:
„Wir wollen wirklich keine Brücken abbrechen. Wenn aber jemand unsere guten Absichten als Unentschlossenheit oder Schwäche deutet und diese Brücken vollständig abbrennen oder sprengen will, dann sollte er wissen, dass Russlands Antwort asymmetrisch, schnell und hart sein wird.“
Also hier ist das neue Gesetz des geopolitischen Dschungels — unterstützt von Herrn Iskander, Herrn Kalibr, Herrn Avangard, Herrn Peresvet, Herrn Khinzal, Herrn Sarmat, Herrn Zirkon (3) und anderen respektablen Herren, hyperschallschnell oder anders, Details werden nachgeliefert. Wer immer den Bären reizt bis zum Punkt der Gefährdung „unserer grundlegenden Sicherheitsinteressen, wird bedauern, was geschehen ist, wie er seit Langem nichts bedauert hat“.
Die verblüffenden Entwicklungen der letzten paar Wochen — der China-US-Gipfel in Alaska, der Gipfel mit Lawrow und Wang Yi in Guilin, der NATO-Gipfel, der strategische Pakt zwischen China und Iran, die Rede Xi Jinpings vor dem Boao-Forum — fügen sich zu einer neuen, schlichten Tatsache zusammen: Die Zeit, in der ein unilateraler Leviathan den anderen seinen Willen aufzwingen konnte, ist vorbei.
Für all jene Russophoben, die es immer noch nicht verstanden haben, fügte ein kühler, ruhiger und gefasster Putin hinzu:
„Ganz sicher haben wir genügend Geduld, Verantwortungsgefühl, Professionalität, Selbstvertrauen, Vertrauen in die Richtigkeit unseres Standpunkts und Menschenverstand, wenn es gilt, Entscheidungen zu treffen. Ich hoffe aber, dass keiner auf die Idee kommt, Russlands sogenannte rote Linien zu überschreiten. Und wo diese verlaufen, werden wir selbst in jedem Einzelfall festlegen.“
Zurück zur Realpolitik, musste Putin aufs Neue die „besondere Verantwortung“ der „fünf Atommächte“ betonen, ernsthaft über „Themen der strategischen Rüstung“ zu verhandeln. Es ist eine offene Frage, ob die Biden-Harris-Administration — hinter der ein giftiger Cocktail von Neocons und humanitären Imperialisten steht — sich darauf einlässt.
Putin:
„Das Ziel solcher Verhandlungen könnte es sein, eine Umgebung konfliktfreier Koexistenz, basierend auf gemeinsamer Sicherheit, zu schaffen, die nicht nur strategische Waffen wie Interkontinentalraketen, schwere Bomber und U-Boote abdeckt, sondern, wie ich betonen möchte, jegliches offensive oder defensive System, das für strategische Aufgaben vorgesehen ist, egal mit welcher Ausrüstung.“
Wie Xis Ansprache an das Boao-Forum vorwiegend an den globalen Süden gerichtet war, hob Putin hervor: „Wir erweitern die Kontakte mit unseren engsten Partnern in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, der BRICS-Gruppe, dem Commonwealth of Independent States und den Verbündeten aus der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (4)“ und lobte „gemeinsame Projekte im Rahmen der eurasischen Wirtschaftsunion“, vorgesehen als „praktische Werkzeuge zur Lösung nationaler Entwicklungsprobleme“. Kurz: Integrationsprojekte gemäß dem russischen Plan für „Großeurasien“.
Spannungen und Rhetorik wie in Kriegszeiten
Vergleichen wir nun alles Obige mit der White House Executive Order (EO, Durchführungsverordnung des Weißen Hauses), in der ein „nationaler Notstand“ erklärt wird, um „auf die russische Bedrohung zu reagieren“.
Sie kommt direkt von Präsident Biden — genauer gesagt dem Team, das ihm sagt, was er tun soll, komplett mit Hörgerät und Teleprompter — und verspricht dem ukrainischen Präsidenten Zelensky, dass Washington „Maßnahmen ergreifen werde“, um Kiews Wunschvorstellung von einer Rückeroberung der Krim und des Donbass zu unterstützen.
In dieser EO gibt es mehrere beunruhigende Punkte. Sie verweigert de facto jedem russischen Staatsbürger das volle Zugriffsrecht auf sein US-Eigentum. Jeder US-Bürger kann angeklagt werden, ein russischer Agent zu sein, der die Sicherheit der USA gefährdet. Es gibt einen „Unterunterparagrafen“ betreffend „Aktionen oder Strategien, die demokratische Prozesse oder Einrichtungen in den USA oder im Ausland unterminieren“; das ist vage genug, um jeden Journalismus zu eliminieren, der Russlands Positionen in internationalen Angelegenheiten unterstützt.
Käufe russischer OFZ-Bonds (5) sind ebenso sanktioniert wie eine der Firmen, die in die Herstellung des Impfstoffes Sputnik V involviert ist. Doch der Zuckerguss auf diesem Sanktionskuchen scheint zu sein, dass von jetzt an alle russischen Staatsbürger, auch solche mit amerikanischem Pass, am Betreten amerikanischen Bodens gehindert werden können, wenn sie nicht zusätzlich zum normalen Visum eine seltene Sondererlaubnis haben.
Die russische Zeitung Wedomosti stellte dazu fest, dass in solch einer paranoiden Atmosphäre die Risiken für große Unternehmen wie Yandex oder Kaspersky Lab deutlich steigen. Trotzdem ist man in Moskau wenig überrascht über die Sanktionen. Das Schlimmste kommt noch, wissen Washington-Insider: zwei Sanktionspakete gegen Nord Stream 2, die bereits vom US-Justizministerium abgesegnet sind.
Der springende Punkt ist, dass diese EO faktisch jeden, der über Russlands politische Positionen berichtet, als potenzielle Gefahr für „die amerikanische Demokratie“ darstellt. Wie der politische Topanalyst Alistair Crooke es ausdrückte, ist dies „eine Prozedur, wie man sie normalerweise im Krieg auf Bürger von feindlichen Staaten anwendet“. Er fügt hinzu: „Die US-Falken erhöhen drastisch ihren Einsatz gegen Moskau. Spannungen und Rhetorik erreichen ein Niveau wie in Kriegszeiten.“
Eine Verschnaufpause
Es ist eine offene Frage, ob Putins Rede von der toxisch-verrückten Gang von Neocons und humanitären Imperialisten ernsthaft untersucht werden wird, die sich auf das simultane Drangsalieren von Russland und China verlegt haben.
Tatsache ist aber, dass auch etwas Außergewöhnliches begonnen hat: eine Art Deeskalation.
Noch vor Putins Ansprache haben offenbar Kiew, die NATO und das Pentagon die implizite Botschaft verstanden, die sich aus der schnellen Verlegung zweier russischer Armeen und massiver Artillerie- und Luftwaffeneinheiten in die Krim und an die Grenzen des Donbass ergibt — nicht zu reden von den Marineeinheiten, die aus dem Kaspischen ins Schwarze Meer verlegt wurden. Die NATO kann von solchen Kunststücken nur träumen.
Die Tatsachen sprechen Bände. Paris und Berlin waren erschrocken angesichts eines möglichen direkten Zusammenstoßes zwischen Kiew und Russland und rieten, unter Umgehung aller NATO- und EU-Instanzen, dringend davon ab.
Dann muss jemand — vielleicht Jake Sullivan — in Bidens Hörgerät geflüstert haben, dass man nicht herumläuft und den Präsidenten einer Atommacht beleidigt und erwartet, auf internationaler Ebene noch ernst genommen zu werden.
So kam es nach Bidens berühmtem Telefonat mit Putin zu der Einladung zu einem Klimagipfel, auf dem viele luftige Versprechungen weitgehend rhetorisch bleiben, da das Pentagon weiterhin der größte Klimasünder auf dem Planeten bleiben wird.
So mag Washington einen Weg gefunden haben, wenigstens einen Dialogkanal mit Moskau offen zu lassen. Dabei kann Moskau keine Illusionen haben, dass das Ukraine-Donbass-Krim-Drama zu Ende sei. Obwohl Putin es in seiner Rede zur Lage der Nation nicht erwähnt hat. Und trotz der Deeskalation, die Verteidigungsminister Shoigu befohlen hat.
Der unbezahlbare Andrej Martjanow hat schadenfroh den „Kulturschock“ beschrieben, „als es Brüssel und Washington dämmerte, dass Russland die Ukraine gar nicht haben will. Was Russland will, ist, dass das Land verrottet und implodiert, ohne dass Russland von den Exkrementen getroffen wird. Den Westen für das Aufräumen dieses Riesenschlamassels bezahlen zu lassen, gehört mit zu Russlands Plan für das ukrainische Bantustan“ (6).
Die Tatsache, dass Putin dieses Bantustan in seiner Rede nicht einmal erwähnt, stützt diese Analyse. Was die „roten Linien“ anbelangt, bleibt Putins implizite Botschaft bestehen: Ein NATO-Stützpunkt an Russlands Westflanke wird auf keinen Fall toleriert. Paris und Berlin wissen das. Die EU verdrängt es. Und die NATO wird es niemals zugeben.
Es läuft immer auf die gleiche Schlüsselfrage hinaus: Wird es Putin gelingen, mit einem kombinierten Bismarck-Sun-Tzu-Manöver (7) gegen alle Wahrscheinlichkeit eine dauerhafte deutsch-russische Entente Cordiale — das ist weit weniger als ein Bündnis — zu schmieden? Nord Stream 2 ist dafür eine essenzielle Zutat — und das ist es, was die Falken in Washington zur Weißglut treibt.
Egal was noch passiert, für alle praktischen Zwecke haben wir jetzt den Eisernen Vorhang 2.0, der wird so schnell nicht verschwinden. Es wird noch mehr Sanktionen geben. Man hat den Bären mit allem beworfen, außer mit einem heißen Krieg. Es wird sehr spannend sein zu beobachten, wie und mit welchen Schritten Washington seine „Deeskalation und den diplomatischen Prozess“ (8) mit Russland versuchen wird.
Der Hegemon mag immer einen Weg finden, eine große PR-Kampagne aufzusetzen und am Ende diplomatischen Erfolg für die „Auflösung“ der Pattsituation zu vermelden. Nun, das ist besser als ein heißer Krieg. Ansonsten weiß der bescheidene Dschungelabenteurer nun Bescheid: Probier irgendwelche Tricks und mach dich gefasst auf „asymmetrisch, schnell und hart“.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien am 23. April 2021 mit dem Titel „Putin rewrites the law oft he geopolitical jungle“ und wurde von Christoph Hohmann aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzerteam erstellt/übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratteam lektoriert.
Quellen und Anmerkungen:
Anmerkungen des Übersetzers:
(1) Ich habe hier das Putin-Zitat des Autors durch ein ausführlicheres ersetzt (Quelle: https://www.moonofalabama.org/2021/04/vladimir-putin-on-petty-tabaquis-and-other-international-issues.html#more ).
(2) Im Februar 2014, bei dem Putsch in Kiew.
(3) Alles Namen russischer Waffensysteme.
(4) Ein Militärbündnis Russlands mit einer Reihe ehemaliger Sowjetrepubliken.
(5) OFZ-Bonds sind russische Staatsanleihen. Sie wurden bis 2018 zu rund einem Drittel ihres Ausgabevolumens von ausländischen Investoren gehalten.
(6) „Bantustan“ ist die verächtliche Bezeichnung für ein Gebiet, dessen Einwohner ein Leben ohne volle zivile und politische Rechte führen müssen.
(7) Sun Tzu, geboren 544 vor Christus, war ein chinesischer General, Militärstratege, Philosoph und Autor des zeitlosen Klassikers „Die Kunst des Krieges“.
(8) Das kündigte Präsident Biden mit diesen Worten an (Mitte April 2021).
(9) Mehr über diesen Vorgang in https://www.rubikon.news/artikel/die-lugenmaschine.
(10) Ein Beispiel war die Ermordung des iranischen Generals Qasem Soleimani am 3. Januar 2020, die von den USA offiziell zugegeben wird.
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