Das Land gehörte Ihnen
von Robert Fisk
Vor einem Vierteljahrhundert sah ich dabei zu, wie sich Israel das Land der palästinensischen Familie Khatib aneignete. Gemeinsam mit einem britischen Filmregisseur filmten wir die Bulldozer dabei, wie sie der Gartenmauer des Hauses von Mohamed und Saida Khatib und deren Sohn immer näher kamen – ihrem kleinen Olivenhain und ihrem Obstgarten mit Feigen, Aprikosen und Mandeln, daneben Saidas alter Hühnerstall.
„Es gehört mir – es gehörte meinem Vater und dem Vater meines Vaters“, sagte mir der verkrüppelte alte Mohamed. „Was erwartet Ihr denn von mir?“ Sein 35-jähriger Sohn, ein Lehrer, wolle vor ein israelisches Gericht gehen, um diesen Diebstahl zu verhindern, sagte er. Die Familie hatte eine Entschädigung abgelehnt. Es war ihr Land.
Der Film, den wir 1993 gedreht haben, Beirut to Bosnia: The Road to Palestine, und den man noch immer auf YouTube ansehen kann, zeigt die herzergreifenden Hoffnungen der Familie, die da in ihrem Obstgarten steht. Channel 4 und Discovery zeigten diese elende Geschichte von Enteignung und Hoffnungslosigkeit in einem Dreiteiler über die Frage, warum Muslime einen Hass auf den Westen entwickelt haben. Regie führte der inzwischen verstorbene Mike Dutfield. Ich denke, wir alle hofften naiverweise, dass wir die Familie mit unseren Filmkameras und unseren Interviews mit Mohamed und Saida sowie mit der Viertelstunde, die wir ihrem Kampf um den Erhalt ihres Landes östlich von Jerusalem widmeten, irgendwie vor dem amtlichen Raub ihres Besitzes würden bewahren können.
Wir hätten es besser wissen müssen. In all den Jahren, in denen sich die jüdische Kolonie Psgat Zeev – benannt nach dem nationalistischen und revisionistischen Zionistenführer Zeev Jabotinksy – im Tal unterhalb des arabischen Dorfes Hizme ausbreitete, habe ich es vielleicht deswegen vorgezogen, nicht zu der Baustelle zurückzukehren, die das Haus und den Garten der palästinensischen Familie umgab. Von der Hauptstraße aus konnte ich noch immer den Weg zum Haus sehen, das Haus selbst jedoch nicht. Da waren zu viele rote Dächer und junge, grüne Bäume und geteerte Straßen und jüdische Siedler. Die Geschichte war zu Ende.
Wir hatten unser Bestes gegeben. Journalismus ist eine flüchtige Tätigkeit. Ich hatte von Kriegen zu berichten, in Afghanistan, Algerien, Bosnien, und die Khatibs waren nicht die einzigen Palästinenser, die ihr Eigentum an Israels gewaltiges Kolonialprojekt in der Westbank verloren hatten. Hier wurden Häuser gebaut für Juden, und nur für Juden, auf arabischem Land.
Abgesehen davon lenkten andere Kriege – nochmal der Irak, Libyen, Syrien – die Aufmerksamkeit weg von der palästinensischen Tragödie.
Am 25. Jahrestag unseres alten Filmes jedoch – und am 25. Jahrestag des Osloer Abkommens, das die Khatibs hätte retten können, wäre es nicht so fehlerhaft gewesen – war ich zurück in Jerusalem. Weder den Weg zu dem Haus, noch das Fehlen des Gartens, in dem wir Tag für Tag – weil das Drehen eines solchen Filmes viele Stunden erfordert – mit der Familie gesprochen hatten, konnte ich inmitten der modernen israelischen Wohnblocks länger ignorieren.
„Wir essen, trinken oder schlafen nicht“, klagte Saida, mit einem weißen Kopftuch im Schatten der Bäume. Man kann sie noch heute sehen, wie sie vor unserer Kamera protestiert.
„Bleiben wir etwa in den Häusern anderer Leute? Mein Mann ist gelähmt, wir sind beide alt. Dies ist Tyrannei.“
So bog ich also vor ein paar Tagen in die alte Straße zum Dorf Hizme ein – heute ist sie eine breitere Schnellstraßen, mit einem israelischen Checkpoint an der Ecke. Von der jüdischen Siedlung Psgat Zeev getrennt wird das Dorf durch Die Mauer – ein etwa acht Meter hohes Ungetüm, das sich meilenweit wie eine Narbe durch die Westbank zieht. Hizme, dessen älteste Steinhäuser zweifellos älter als 2oo Jahre sind, war das Dorf der Khatib-Familie. Dorthin musste die Familie, so meine Vermutung, gegangen sein, nachdem man ihnen ihr Zuhause genommen hatte.
Dort traf ich Suliemans Bruder Ahmed, den ich nie kennen gelernt hatte und der Sulieman anrief. Dieser war nicht, wie ich befürchtet hatte, nach Europa oder Amerika ausgewandert, sondern lebte keine vier Kilometer entfernt mit seiner Frau und seinen fünf Kindern in einer engen Wohnung. Ich machte mich auf den Weg und dort auf der Straße stand Sulieman. Er war nun sechzig Jahre alt und fülliger, hatte aber denselben behäbigen Akzent, wenn er englisch sprach, und dieselbe Höflichkeit, mit der er uns vor einem Vierteljahrhundert auf sein Land eingeladen hatte.
Heute ist er ein noch traurigerer Mann. Er hegt die vergebliche – sehr vergebliche – Hoffnung, dass die Rechtssache der Familie gegen die Israelis wieder aufgerollt werden könnte. Hatte seine Familie sich nicht bereit erklärt, innerhalb der jüdischen Siedlung zu bleiben? Hatte man ihnen nicht gesagt, das Land werde für Straßen gebraucht – „öffentliche“ Straßen – und nicht für Siedler-Häuser? Die Anwälte der Familie hätten sie enttäuscht, meint Sulieman. Aber sie haben keine Entschädigung akzeptiert.
„Eine Entschädigung bedeutet, dass man ihnen sein Land verkauft – und damit das Eigentumsrecht aufgibt.“
Zuerst erkundigte ich mich nicht nach Suliemans Eltern, ahnte aber, was geschehen war. Nicht lange nach unseren Filmarbeiten erschienen die Israelis auf der Türschwelle des Hauses der Khatibs. Das war im Oktober 1993. Sulieman erzählte, es hätten sich die Polizei, Beamte der Gemeinde Jerusalem – die geschickterweise auf das alte Dorfgebiet von Hizme erweitert worden war –, Soldaten und Bulldozer eingefunden. „Ich unterrichtete an diesem Morgen in der Schule und meine Familie rief mich an und erzählte mir, die Israelis seien mit einem großen Aufgebot erschienen.
"Als ich ankam, war alles vorbei – nachdem sie das Haus zerstört hatten, zerstörten sie auch das Land, die Mauern, sogar die Bäume, Hühner, Tauben, alles. Sie ließen nichts übrig. Sie ließen keinen Stein auf dem andern. Sogar unser Hab und Gut luden sie auf Lastwagen – das Essen, die Kleidung, alles, das Bettzeug.“
Ein paar Tage lang lebten die Khatibs mitten in der Verwüstung in einem Zelt.
Ja, Mohamed und Saida waren gestorben und im Dorf Hizme begraben worden. Mohamed starb vor zwei Jahren, Saida im Jahr 2002. „Sie vergaßen das Land nicht“, sagt Sulieman. „Sie bedauerten stets, was passiert war, und wir hofften und vertrauten auf Gott, dass sich die Situation ändern und wir auf unser Land zurückkehren würden. Mein Vater brachte Wasser auf einem Esel herbei, den ganzen weiten Weg von Hizme – Sie haben ja gesehen, wie viele Bäume es dort gab …
Aber wir können gegen einen Staat wie Israel nicht ankämpfen. Sie tun so, als gäbe es dort Gerichte und Gesetze, diese dienen aber ausschließlich ihrem eigenen Vorteil."
Sulieman erzählte, sein Vater habe sich für den Rest seines Lebens geweigert, Mandeln oder Trauben zu essen, weil sie nicht aus seinem Garten stammten.
So fuhren also Sulieman und ich im letzten Monat an einem hellen, heißen, strahlenden Morgen zu dem Ort, an dem sein Haus einst gestanden hatte. Wir hielten an dem alten Pfad zu seinem Haus an, wo nun große Felsbrocken lagen. Vorsichtig ging Suleiman zwischen ihnen durch und weiter eine schmucke, geteerte Straße entlang, zwischen Villen mit Rasen und Bäumen und roten Dächern und Parkplätzen für die Anwohner. Keiner nahm von Sulieman Notiz – wir sahen auf unserem Ausflug nur einen Mann – und so bewegte er sich mit wachsendem Selbstvertrauen zwischen den Häusern der Siedler.
„Ich bin zum ersten Mal hier, seit dies gebaut wurde“, sagte Sulieman, während er über eine niedrige Mauer auf das blickte, was einmal der Besitz seiner Familie gewesen war. „Es ist ein seltsames Gefühl. Ich kann mir nicht vorstellen, was einmal hier war und was nun hier ist. Ich glaube, unser Grundstück beginnt dort“ – und er zeigte etwas nach Süden. „Die Siedler wissen nichts von der Geschichte“, sagte er. „Sie wissen nicht, was die Menschen hier erlitten haben, bevor sie kamen.“
Sulieman spähte über die Mauer. „Vielleicht können wir von hier aus ein wenig schauen. Dieser hohe Baum steht auf unserem Land.
Sie haben nichts von uns übrig gelassen … die Mauern, die Bäume, nichts haben sie gelassen.“
Früher dachte ich immer, dass Enteignung und Mut im Bewusstsein eines Flüchtlings zusammengehören. Das ist nicht der Fall. Am Ende steht die Enteignung. Mut, fürchte ich, kann so rührend wie unerheblich sein. „Es schmerzt mich, es so zu sehen, in diesem Zustand“, sagte Sulieman.
„Jetzt leben sie (die Siedler) im Luxus auf den Ruinen anderer Menschen. Sie kennen (unsere Geschichte) nicht und sie wissen nicht … was hier vorher war. Dies ist schlechte Geschichte.
Und als sie unser Haus zerstörten, selbst wenn es ,für den öffentlichen Gebrauch‘ war, wie sie behaupteten, hätten sie unsere Gefühle, unsere Menschlichkeit, berücksichtigen müssen … Sie haben es plattgewalzt, als ob es keine Bäume, keine Mauern, gar nichts dort gegeben hätte. (Ihr Film) ist das einzige, was uns daran erinnert. Danke, dass Sie mich hergebracht haben. Es ist das erste Mal – als wäre es nicht mein Land. Es gehört nun Fremden. Was können wir tun? Es tut mir leid, dass dies alles passiert ist.“
Sulieman arbeitet nun in Teilzeit als Englisch-Übersetzer für die Zeitung Al-Quds-al-Arabi – „Arabisches Jerusalem“. Er hat seine Töchter ausgebildet und ist bereit, so sagt er, vor Gericht für sein Land zu kämpfen. Ich frage mich, wie realistisch sein Vorhaben ist. Immer wieder sage ich ihm, er müsse die osmanischen und britischen Besitzurkunden für sein Eigentum finden. Er erinnert sich daran, diese vor der Enteignung der Familie gelesen zu haben. Von den israelischen Gruppen, die gegen die jüdische Besiedlung der Westbank sind, weiß er nichts.
Ich sage ihm nicht, was ich befürchte: dass er sein Land niemals zurückbekommen wird.
Während unseres Ausflugs lief er zu einer anderen Stelle nahe der Felsbrocken. „Ich glaube, diese Straße führt auch zu unserem Land. Sehen Sie dort die grünen Bäume, etwas weiter weg – sie markieren, glaube ich, die Grenze unseres Landes. Dort war es. Erinnern Sie sich daran, wie die Bulldozer dort hinfuhren?“
Ja, die Bulldozer sind auf unserem alten Film verewigt – am Steuer sitzen Palästinenser, wie ich mich erinnere, weil Araber noch immer dabei helfen, die Kolonien zu erbauen, die ihnen ihr Land wegnehmen. Ich bitte Sulieman, das Land zu benennen, auf das er blickt, das Land, auf dem einst das Haus der Familie stand. „Es ist Palästina – aber israelische Gebäude“, sagt er. „All die Häuser, die Sie sehen, stehen auf dem Land von Hizme und Beit Hanina. Ich sehe mich selbst als jemand, der im Ausland lebt, wenngleich im selben Bezirk … wir erhoffen von Gott, dass sich die Situation ändern wird, dass sich alles ändern wird, auch die Tyrannei …“.
Ich merke sofort, dass Sulieman dasselbe Wort benutzt, das seine Mutter vor all den Jahren geäußert hat: „Tyrannei“.
Und was denkt er hier, in der Siedlung Psgat Zeev, in dieser Parzelle des Landes, das früher ein Teil von Hizme war und noch immer ist? „Es bringt mich durcheinander“, sagte er. „Manchmal denke ich, ich könne nichts tun – weil ja dieser Staat, Israel, auf dem Land anderer erbaut wurde, nicht nur auf diesem unseren Land. Und es ist nicht einfach, es von einem solchen Staat, einer solchen Regierung zurückzubekommen. Sie breiten sich ja noch immer auf fremdem Gebiet aus.“
Das stimmt. Und dies ist weder der Ort noch die Zeit, von jüdischem Leid zu sprechen oder von israelischen orthodoxen Juden, die glauben, dass Gott – und nicht irgendein Gericht – ihnen das Recht auf das Land tausender arabischer Palästinenser gab, das Land der Khatibs inbegriffen.
Zu schweigen ist auch von der Aufteilung durch die UN, die von den Arabern nie akzeptiert wurde. Oder von der UN-Abstimmung, die den Staat Israel ins Leben gerufen hat. Oder von Trump. Oslo hängt wie ein Schatten über uns. Kann es einen palästinensischen Staat geben? „Nein, ich glaube nicht. Zur Zeit von Oslo … in dieser Zeit, da stellten wir uns vor, wir dachten – ja, so dachten wir –, es würde ihn geben. Nach dieser langen Zeit jedoch wird die Situation schlimmer …“.
Und nun folgte ein vertrauter Monolog, den ich schon oft zuvor gehört hatte – wenngleich seine Wiederholung dessen Ernsthaftigkeit nicht schmälert:
Die Palästinenser werden weiter für ihr Land kämpfen, auch wenn die Welt anderweitig beschäftigt ist. Wahrscheinlich. Die Israelis wären ohne die USA und die Lethargie Europas nicht imstande gewesen, palästinensisches Land zu stehlen. Ich fürchte, auch das entspricht der Wahrheit. Solange es eine Besatzung gibt, wird es keinen Frieden geben. Noch wahrer.
Nein, Sulieman wird „Palästina“ nicht verlassen – ich bestehe hier noch immer auf den Anführungsstrichen – weil es sein „Heimatland“ ist.
Hätte sich jedoch Sulieman, als ich ihn und seine Eltern vor 25 Jahren traf, vorstellen können, was geschehen würde? „Ich habe es mir nicht vorgestellt“, sagte er. „Und nach dieser langen Zeit, nach der Mauer und den Siedlungen, kannst du nicht mal mehr erkennen, dass dies einst dein Land war. Weil sie alles verändern, die neuen Häuser, Bäume, Straßen, Villen …“
Robert Fisk ist Politikwissenschaftler und Journalist und lebt bereits seit 40 Jahren in der arabischen Welt. Seit 1989 ist er Korrespondent für den Mittleren Osten beim Independent in Beirut.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „The Land Belonged to Them: Revisiting a Palestinian Family, 25 Years After Their Land was Taken". Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.
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