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Das Ende der Parteien

Das Ende der Parteien

Statt weiter Energie für die Wiederbelebung des maroden Parteiensystems zu verschwenden, sollten wir unsere Kräfte für einen Neustart bündeln.

von Heinz Kruse

Parteien ― im letzten Jahrhundert stehengeblieben

Deutschland und Europa sind erstarrt. Digitalisierung, Klimakrise und Umweltschutz stoßen auf politische Handlungsunfähigkeit. Es gibt keinen Masterplan für den technischen und ökologisch-sozialen Wandel. Die Parteien handeln allein mit der destruktiven Absicht der Sicherung ihrer Macht. Die Politik hat sich verselbstständigt und von der Gemeinschaft des Volkes abgenabelt. Gleiches gilt für die Medien und die globalen wirtschaftlichen Eliten. Sie leben in einer globalen Dunstglocke ― abseits von der Mehrheit der Bevölkerung.

Die Gräben zwischen der selbst ernannten globalen Elite und der Bevölkerung wachsen. Ein neues Kauderwelsch vermanscht die Sprache und führt zum realitätsfernen Denken. Politische Aussagen werden zur belanglosen politischen Plapperei ohne Sinn und Verbindlichkeit. Es herrschen gedankliche Leere und hoffnungslose Überschätzung eigener Wirkmöglichkeiten.

Militäreinsätze auf der ganzen Welt zeigen Größenwahn und groteske Selbstüberschätzung. Die Selbstgefälligkeit politischer Akteure verweigert sich jedem belastbaren Realitätsbezug.

Weltweite Militärpräsenz soll nach innen Stärke demonstrieren. Aber im globalen Spiel der Kräfte sind Deutschland und die EU ein hilfloser Gernegroß. Das hindert nicht an Selbstüberhöhung und den Glauben an ein globales Sendungsbewusstsein. „Deutschland reicht nicht, man muss die Welt retten.“ Dabei ist man nicht nur von den Welthandelsnationen ― zum Beispiel China und USA ― abhängig, sondern auch von globalen technischen Konglomeraten. Trotzdem besteht der Wahn politischer Machbarkeit von Wirtschaft und Gesellschaft.

Reformen stoßen in der Politik auf Mauern. Externe Berater helfen nicht, da es um Machtstrukturen geht. Reformversprechen ― wie die offene Verwaltung oder gar der lernende Staat ― sind eine ferne Fiktion. Wie in einem Marionettentheater wird an fremden Strippen getanzt. Zwar sehen viele Politiker Mängel und strukturelle Schwächen, aber die führenden Exponenten politischer Macht profitieren von den bestehenden Strukturen. Der schöne Schein wird nur mithilfe der öffentlichen Medien gewahrt, weil bestehende Defizite verschleiert werden. Tatsächlich sind Wege in die Zukunft blockiert. Dies bewirkt eine tiefgreifende Polarisierung unserer Gesellschaft ― und Deutschland und Europa geraten in eine Abwärtsspirale.

Die Zivilgesellschaft ist gefragt

Die Medien fallen als Ideenspender aus. Sie sind mehr oder weniger politische Beifallsorgane geworden. Das gilt vor allem für die einflussreichen TV-Sender. Von ihnen kommen keine Anstöße zur Selbsterneuerung der Politik. Sie weben mit am unentwirrbaren Knäuel von Lügen, Halbwahrheiten und Halbwissen und lenken ab von Missständen. Es fehlen Anstöße für eine offene, lern- und anpassungsfähige Politik zur strukturellen Erneuerung.

Das Dilemma von Bürger- und Zivilgesellschaft ist, dass die Politik viele selbstorganisatorische Gestaltungsräume der Bürger besetzt hat. Mit Sprechverboten und Sprachlenkung wurde die Gemeinschaft bis zur Handlungsunfähigkeit zersplittert. Zudem sind viele Gruppen der Zivilgesellschaft ideologisch erstarrt. Sie beharren auf alten Rezepten ohne praktische Relevanz.

Kritische Aufsätze und Bücher füllen lange Regale, doch leider fehlt „das geistige Band“ für ein praktisches Vorgehen. So reihen sich Demos, Proteste, neue Parteien und immer neue Aufrufe zum Widerstand folgenlos aneinander.

Viele versuchen, den ganz „großen Wurf“ (ihre Systemlösung) zu finden. Der Glaube an die einzig richtige Lösung führt letztlich zur Rechthaberei, Zersplitterung und zum Verlust von Perspektiven. Ein weiterer Aspekt ist die Komplexität der Lage. Sie lähmt, weil scheinbar alle Bereiche miteinander vernetzt sind. Wenn Teillösungen kaum vorstellbar sind oder den ideologischen Ansprüchen nicht gerecht werden, wird jegliche Erneuerungskraft gelähmt.

Die Zukunft ist keine lineare Fortsetzung der Vergangenheit. Es gibt nicht den einzig wahren Lösungsweg für „die Neue Welt“ und keinen gordischen Knoten, den man für den Systemwechsel nur durchhauen muss. Es geht nicht um die „richtige Ideologie“, sondern um eine stabile Basis für kleine Lösungsschritte, die nicht an ideologischen Grenzen erstarren. Die Welt ist zu komplex für den großen Wurf. Lösungen sind das Ergebnis von Handeln, Lernen, Korrigieren, neuen Versuchen und praktischen Reformen. Das ist die Herausforderung für Bürger- und Zivilgesellschaft, denn die Erneuerung kann nur durch sie erfolgen.

Was ist zu tun?

Aktives Handeln setzt Souveränität voraus. Bürgerinnen und Bürger haben auf die Zweckmäßigkeit des Parteiensystems und auf die Rückbindung der Politik an die Ordnung des Rechts vertraut. Sie haben ihre Souveränität nicht wahrgenommen und sich nicht als Souverän der Demokratie selbst eine Verfassung gegeben. Zum Beispiel haben sie nicht durchsetzen können, dass die Vorgabe einer Verfassung für das deutsche Volk (Artikel 146 Grundgesetz) nach der Wiedervereinigung realisiert wurde (1). Es wäre ein wichtiger Schritt gewesen. Denn nach der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 beruhen demokratische Verfassungen auf dem Gedanken der Souveränität (2).

Souveränität und Selbstbestimmung sind Grundlage einer freien und handlungsfähigen Gemeinschaft von Gleichen. Freie Menschen nehmen ihre Rechte als Souverän wahr, indem sie sich eine Verfassung geben. Denn das Volk ― als Gemeinschaft ― ist die legitimierende Rechtfertigung der Verfassung, somit die einzige Legitimationsbasis der Politik.

Die Aufklärung hat gezeigt, dass eine Gemeinschaft in der Bestimmung ihrer Rechtsordnung keiner Rückführung auf ein höheres Wesen oder auf höhere Rechte bedarf.

Legitimation leitet sich aus dem freien Willen eines Volkes ab. Der normative Geltungsanspruch einer „Verfassung vom Volk“ ist darin begründet. Dieser Grundlegung hat sich unsere Politik faktisch entzogen.

Eine Verfassung, die sich das Volk gibt, ist Grundlage für friedliche Reformen. Mit ihnen nehmen handelnde Menschen eine aktive Rolle ein. Als gemeinschaftlich handelnde Subjekte formen sie demokratische Gemeinschaften. Ein neues „Wir“ ist eine Basis für politisches Handeln. Daraus können Institutionen wie runde Tische, politische Konferenzen, Regionalkonferenzen et cetera entstehen. Sie institutionalisieren erste Schritte in eine politische Rolle der Zivilgesellschaft. Kommunikative Plattformen können dann das Band für Gemeinschaften werden, um wieder Kontrolle über das eigene soziale Leben zu gewinnen.

Plattformen haben sich zuerst im Handel durchgesetzt. Sie ermöglichen aber auch den Austausch von Ideen und Meinungen. Sie können viele Menschen kommunikativ miteinander verbinden und sachbezogen Ergebnisse dokumentieren. Reformarbeit durch unterschiedliche Menschen und Vereinigungen ist damit möglich. Voraussetzung für funktionierende Plattformen ist ihre Neutralität und Sachorientierung, um gemeinschaftsbildend zu sein. Der gesellschaftlich experimentelle Charakter neuer Wege erfordert offene Arbeits- und Kommunikationsplattformen, auf denen ein breites Spektrum von Meinungen Platz findet.

Eine Herausforderung stellt das Zusammenführen einzelner Plattformen in übergeordnete Erkenntnisse und sachliche Lösungsschritte dar. Überregionale Kooperationen sind ein Weg, um Ideen und Ansätze für Lösungen zu finden.

In einem ersten Anlauf sind zum Beispiel folgende Orientierungen denkbar:

  • Formierung von Bürgergemeinschaften,
  • überregionale Kooperation,
  • Schaffung einer unabhängigen, politisch handlungsfähigen Zivilgesellschaft und
  • weiterführende Einrichtungen der Gemeinschaftsbildung, zum Beispiel Runde Tische, regionale und kommunale Fachgruppen, Regionalgruppen und Regionalkonferenzen.

Eine neue politische Struktur

Nur ein integrierendes „Wir“ kann eine neue politische Struktur der Gemeinschaft schaffen. Das wird am ehesten gelingen, wenn die Themen erkennbare Bezüge zur Lage haben, beispielsweise Regionalisierung, Digitalisierung, oder von grundlegender Bedeutung sind, zum Beispiel Gewaltenteilung. Eine thematische Vorgabe sollte gegeben sein, um die sachliche Zuordnung von Argumenten und Beiträgen zu ermöglichen.

Beispiele:

  • Regionales Handeln, Selbstorganisation in der Region, überregionale Kooperation,
  • Demokratisierung der Demokratie, zum Beispiel strikte Trennung von Politik und Justiz,
  • Digitalisierung.

Regionales Handeln ― Kompetenzen zwischen Politik und Bürgern

Dezentralisierung ist die Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit der Zivilgesellschaft. Denkbar sind eigenständige, parteiunabhängige Bürgerrepräsentanzen in den Regionen. Mögliche Formen sind Regionalkonferenzen, runde Tische und regionale Arbeitsgruppen, um die Region als selbstorganisierte Basis der Demokratie zu nutzen. Ein anzustrebendes Ziel könnte die Institutionalisierung regionaler Selbstverwaltung und beispielsweise die Überführung öffentlicher Unternehmen in das Eigentum der regional ansässigen Bevölkerung sein. Das Fernziel wäre zum Beispiel ein Europa der Regionen.

Demokratisierung der Demokratie (und Politik)

Gewaltenteilung auf allen politischen Handlungsebenen ist eine unerlässliche Grundlage für eine funktionierende Demokratie. Deshalb sollten demokratische Institutionen außerhalb der Parlamente dem Zugriff der Parteien entzogen werden. Leitlinie ist die Durchsetzung einer materiellen Gewaltenteilung, um die Kontrolle der Politik und ihre Rückbindung an die Ordnung des Rechts auf allen Ebenen zu gewährleisten.

Beispiele:

  • Direktwahl des Bundespräsidenten und gleichzeitige Stärkung seiner Rolle als Hüter der Verfassung.
  • Verselbstständigung des Rechnungshofes durch Direktwahl von parteiunabhängigen Vertretern.
  • Schaffung von Möglichkeiten zur wirksamen Ahndung von Willkür und Kompetenzüberschreitung durch die Politik.
  • Kontrolle der Medien durch parteiunabhängige Vertreter und Vertreterinnen in allen Gremien.
  • Sicherung von neutralen und sachgerechten Besetzungen von Stellen in herausragenden Institutionen wie Bundesbank und Verfassungsgericht.
  • Maßnahmen und Auswahlverfahren für eine neutrale und sachgerechte Justiz.

Digitalisierung

Kein Land kann sich der Digitalisierung entziehen. Die angemessene Teilnahme der Zivilgesellschaft an der digitalen Revolution in Wirtschaft und Gesellschaft ist eine Existenzfrage. Bisher laufen die Europäische Union und Deutschland der Digitalisierung hinterher. Dadurch wird die digitale Transformation ausgebremst und die Möglichkeiten neuer Techniken werden nicht genutzt. Wir können uns den fundamentalen Form- und Ordnungsfragen der Digitalisierung nicht entziehen. Sie nicht zu beantworten führt uns und Europa in eine Abwärtsspirale.

Die Einbindung von Bürger- und Zivilgesellschaft in die digitalen Systeme ist für ihre Akzeptanz und ihren Erfolg wichtig. Sie ergänzt und modifiziert reines Expertenwissen um das umfassende Wissen und Wollen der Gesellschaft.

Exemplarisch sind folgende Themen:

  • Schaffung einer digitalen Infrastruktur – Resilienz der Systeme steigern;
  • Modernes Datenrecht und Datenmanagement, durchgehende Kommunikationssysteme;
  • Künstliche Intelligenz (KI) in Administration und sozialen Verfahren;
  • Bildungs- und Ausbildungssysteme modernisieren, Stärkung von Selbstverwaltung, kreativen Fähigkeiten, kooperativen Kompetenzen und vernetzten Denkens;
  • Förderung von Gründungen, um die Transformation alter Strukturen zu beschleunigen;
  • Maßnahmen zur Förderung des Kulturwandels in Wirtschaft und Gesellschaft in Richtung Lern- und Anpassungsfähigkeit, strukturelle Offenheit für Innovationen;
  • Leitlinien der Datennutzung zur Verhinderung des Datenmissbrauchs.

Digitalisierung und KI führen zu einer tief greifenden Transformation. Antworten darauf sind Voraussetzungen für die Gestaltung unserer Zukunft. Es wird sich bald entscheiden, ob der Fortschritt lediglich Reisen ins All ermöglicht oder der Mehrheit der Menschen eine lebenswerte Zukunft beschwert.


Heinz Kruse war im Bereich der Wirtschafts- und Strukturpolitik des Landes Nordrhein-Westfalen sowie als Wirtschaftsdezernent der Landeshauptstadt Hannover tätig. Seit seiner Pensionierung arbeitet er an Lösungen und Verfahren für eine Reform der Demokratie, die aus seiner Sicht an der Frage der Verfassungshoheit ansetzen müssen. Er war Vorsitzender des Vereins Verfassung vom Volk e. V. und ist Buchautor.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien am 23. Juli 2021 unter dem Titel Parteien am Ende: Für einen Neustart durch die Zivilgesellschaft auf Neue Debatte.


Quellen und Anmerkungen:

(1) dejure.org: Grundgesetz (Übergangs- und Schlussbestimmungen); Artikel 146: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.” Auf https://dejure.org/gesetze/GG/146.html, abgerufen am 23. Juli 2021.
(2) Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte ― D*éclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen* wurde am 26. August 1789 von der französischen Nationalversammlung verabschiedet. In 17 Artikeln wurden die Menschen- und Bürgerrechte festgelegt, die jedem Franzosen unveräußerlich als Mensch und als Bürger Frankreichs zuerkannt wurden.


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