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Das Ende der Familie

Das Ende der Familie

Kindern von heute fehlt es an Schutz und Geborgenheit. Exklusivabdruck aus „Kindheit 6.7“.

Vor nicht allzu langer Zeit gab es ein nicht staatliches, ein „privates Ressort“. Eine Non-Profit-Organisation. Einen „Betrieb“, der nicht nach den Prinzipien der Ökonomie, sondern denen der Nachhaltigkeit und Sinnhaftigkeit geführt wurde. Es gab einmal eine Institution, die sich mitten im „wirklichen Leben“ befand: die Familie. Sie soll hier nicht idealisiert werden. In ihr gab es auch Gewalt, Hass, Zwietracht, den „Brudermord“, den „Kindestod“ und Ähnliches. Dies geschah weder alltäglich, noch in allen Familien. Über zehntausende Jahre war dieses „Unternehmen“ höchst erfolgreich. Es durchlebte und überlebte nicht nur bittere Armut und Krisen, sondern auch unzählige, blutige Kriege.

Ohne die Familie hätten wir die bisherigen Krisen der Menschheitsgeschichte nicht überlebt. Ohne Familie – Sippe und intime Gemeinschaften – gäbe es die sehr erfolgreiche Evolution des Menschen erst gar nicht.

Vor der Industriellen Revolution verlief der Alltag der meisten Menschen überwiegend in drei uralten Kreisen: der Kernfamilie, der erweiterten Familie und der intimen Gemeinschaft.

„Die meisten arbeiteten in Familienunternehmen, zum Beispiel dem landwirtschaftlichen oder handwerklichen Betrieb der Familie. Oder sie arbeiteten im Familienbetrieb eines Nachbarn. Außerdem war die Familie soziales Netz, Gesundheitswesen, Versicherungsgesellschaft, Radio, Fernsehen, Zeitung, Bank und sogar Polizei in einem. Wenn jemand krank wurde, versorgte ihn die Familie. Wenn jemand alt wurde, sprang die Familie ein, und die Kinder waren die Rentenversicherung. Wenn jemand starb, kümmerten sich die Angehörigen um die Waisen. Wenn jemand eine Hütte bauen wollte, halfen die Familienmitglieder. Wenn jemand ein Unternehmen gründen wollte, trieb die Familie das Geld auf. Wenn jemand heiraten wollte, wählte die Familie den Partner oder prüfte ihn zumindest auf Herz und Nieren. Wenn es Streit mit dem Nachbarn gab, machte sich die Familie stark. Und wenn jemand so krank wurde, dass die Familie allein nicht mehr damit fertig wurde, wenn ein Unternehmen eine große Investition benötigte oder wenn Nachbarschaftsstreitigkeiten in Gewalt ausarteten, kam die Gemeinschaft zu Hilfe.

Die Gemeinschaft half ganz nach ihren eigenen Gepflogenheiten und einer ‚Gefälligkeitswirtschaft‘, die wenig mit der Marktwirtschaft und den Gesetzen von Angebot und Nachfrage zu tun hatte. Wenn Sie in einer mittelalterlichen Gemeinschaft leben würden und Ihr Nachbar Hilfe benötigte, dann würden Sie ihm helfen, seine Hütte zu bauen und seine Schafe zu hüten, ohne dafür eine Bezahlung zu erwarten. Und wenn Sie Hilfe benötigten, dann würde Ihr Nachbar einspringen. Gleichzeitig konnte der Burgherr das ganze Dorf dazu zwingen, ihm beim Bau seiner Festung zu helfen, ohne Ihnen auch nur einen Kreuzer dafür zu zahlen. Im Gegenzug konnten Sie sich darauf verlassen, dass er Sie vor Räubern und Barbaren schützte. Im Alltag des Dorfs wurden viele Geschäfte getätigt, aber bei den wenigsten war Geld im Spiel. Natürlich gab es Märkte, doch die spielten eine eher untergeordnete Rolle. Dort konnte man seltene Gewürze, Stoffe und Werkzeuge kaufen oder einen Anwalt oder Arzt aufsuchen. Doch weniger als zehn Prozent der alltäglichen Güter und Dienstleistungen wurden auf dem Markt erworben. Die meisten Bedürfnisse wurden von der Familie und der Gemeinschaft befriedigt.

Daneben gab es Königreiche und Imperien, die sich um so wichtige Aufgaben wie die Kriegsführung und den Bau von Straßen und Palästen kümmerten. Dazu erhoben sie Steuern und zwangen die Bauern gelegentlich zum Kriegs- oder Arbeitsdienst. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, hielten sie ihre Nase aus den Angelegenheiten der Familien und Gemeinschaften heraus. Selbst wenn sich die Herrschenden einmischen wollten, war dies keine einfache Sache. Traditionelle landwirtschaftliche Gesellschaften erzeugten kaum Überschüsse, mit denen Beamte, Polizeikräfte, Sozialarbeiter, Lehrer und Ärzte bezahlt werden konnten. Daher richteten die wenigsten Herrscher Polizei, Krankenhäuser oder Schulen ein. Das überließen sie vielmehr den Familien und Gemeinschaften. (…)

In den letzten zweihundert Jahren änderte sich das dramatisch. Die Industrielle Revolution verlieh dem Markt gewaltige neue Kräfte, gab dem Staat neue Kommunikations- und Transportmittel an die Hand und stellte der Regierung ein Heer von Beamten, Lehrern, Polizisten und Sozialarbeitern zur Verfügung. Doch beim Einsatz dieser neuen Kräfte standen dem Markt und dem Staat die traditionellen Familien und Gemeinschaften im Weg, die wenig für Einmischung von außen übrig hatten. Staat und Markt hatten ihre Schwierigkeiten, mit ihren Gesetzen und wirtschaftlichen Interessen in den Alltag einer solidarischen Dorfgemeinschaft oder einer Familie mit starkem Zusammenhalt vorzudringen. Eltern und Dorfälteste wehrten sich dagegen, dass die jüngere Generation von nationalistischen Bildungssystemen indoktriniert, von der Armee eingezogen oder einem entwurzelten städtischen Proletariat zugeführt werden sollte.

Um diese Hindernisse zu beseitigen, mussten Staat und Markt die traditionellen Gemeinschafts- und Familienbande aufbrechen. Der Staat schickte seine Polizisten, um Blutfehden zu unterbinden und durch Gerichtsverfahren zu ersetzen. Der Markt schickte seine Händler, um die althergebrachten Traditionen zu zerstören und durch ständig wechselnde Moden zu ersetzen. Doch das reichte noch nicht aus. Um die Macht der Familie und der Gemeinschaft zu brechen, benötigten sie die Unterstützung einer fünften Kolonne.

Also lockten Staat und Markt die Menschen mit einer Verheißung, der sie nicht widerstehen konnten. ‚Du kannst ein freier Mensch werden’, versprachen sie. ‚Du kannst heiraten, wen du möchtest, ohne deine Eltern um Erlaubnis fragen zu müssen. Du kannst jede Arbeit annehmen, die dir gefällt, auch wenn es den Dorfältesten nicht passt. Du kannst leben, wo immer du willst, auch wenn du nicht jeden Sonntag zum großen Familienessen nach Hause kommen kannst. Du bist nicht länger von deiner Familie und deiner Gemeinschaft abhängig. Wir, der Staat und der Markt, kümmern uns schon um dich. Wir geben dir Essen, Kleidung, ein Dach über dem Kopf, Bildung, Gesundheit, Arbeit und soziale Sicherheit.’

In der romantischen Literatur erscheint das Individuum oft als jemand, der sich Staat und Markt widersetzt. Mit der Wirklichkeit hat dies nichts zu tun. Staat und Markt sind Vater und Mutter des Individuums, und das Individuum kann nur dank ihrer Hilfe überleben. (…) Nicht nur erwachsene Männer, sondern auch Frauen und Kinder werden als Individuen anerkannt. In der Vergangenheit galten Frauen oft als Eigentum der Familie oder Gemeinschaft. In modernen Staaten gelten Frauen jedoch zunehmend als Individuen, die unabhängig von der Familie und der Gemeinschaft wirtschaftliche Freiheiten und Rechte genießen. Sie können über ihr eigenes Bankkonto verfügen, ihre Partner frei wählen und sich sogar scheiden lassen oder allein leben.

Dieser Individualismus fordert jedoch seinen Tribut. Er hat Familie und Gemeinschaft geschwächt und Staat und Markt gestärkt. Letztere können leichter in unser Leben eingreifen, wenn wir nicht mehr starken Familien und Gemeinschaften angehören, sondern vereinzelt und entfremdet leben. Wenn sich die Nachbarn in einem Mietshaus nicht einmal darauf einigen können, wie viel sie einem Hausmeister bezahlen wollen, wie sollen sie sich dann dem Staat widersetzen?“ (1).

Rund 200 Jahre später ist das größte Erfolgsmodell der Menschheitsgeschichte in alle Atome zerlegt. Zu unserer gegenwärtigen „Kultur“ der völligen Zersplitterung und Trennung des Familienverbandes führten nicht nur die Industrialisierung – Ökonomie –, sondern auch Ideologien aus Pädagogik, Philosophie, Psychologie, Literatur und vor allem die flächendeckende Beschulung.

Das Kind, der Mensch, verlor schrittweise sein über zehntausende Jahre eingebunden, gefördert und gestützt sein durch liebende, vertraute und nahestehende Personen. Der wenig erfreuliche Ist-Zustand Kind und Familie am Beginn des 21. Jahrhunderts ist das Ergebnis eines langen Zerfalls und Teilungsprozesses, an dessen Anfang auch die – christliche, monotheistische – Religion und in weiterer Folge die Ideologie stand.

Im selben Zeitraum setzte auch in allen Bereichen der Bildung, der Kunst und der Wissenschaften ein Trennungs- und Teilungsprozess ein. Bis etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten Künstler und Wissenschaftler ein letztlich holistisches – ganzheitliches – Weltbild. Sie alle suchten vorrangig das Gemeinsame im Trennenden und nicht das Trennende im Gemeinsamen. So steht auch in einem der ältesten Weisheits-Bücher der Welt, dem I Ging: Alles ist in einem (2).

Alle großen Kulturen der Menschheitsgeschichte der letzten Jahrtausende, alle Weisheitslehren von Ost nach West, vom Höhlenmenschen und seinen Zeichnungen, die er uns hinterließ, bis hin zu dem, was uns Mahatma Gandhi oder Nelson Mandela vorlebten, war alles letztlich beseelt von dem Wissen: Alles ist in einem und es gibt nur das Eine.

„In diesem lebendigen Kosmos gibt es keine getrennten Teile, nichts kann aus diesem Netz herausgenommen werden, ohne gravierende Folgen für das gesamte Gefüge nach sich zu ziehen.

Solch eine Weltsicht, in der alles, was existiert, ein dynamisches, miteinander verwobenes und voneinander abhängiges Beziehungsgeflecht ist, stellt jedoch nach wie vor eine Herausforderung für das von Dualismen und Trennungen geprägte Weltbild des westlichen Abendlandes dar, dem seit dem 19. Jahrhundert zudem die Maximen des kapitalistischen Wettbewerbs und die Darwin'sche Doktrin vom ‚Kampf ums Dasein’ eingeschrieben sind. In keinem anderen gesellschaftlichen Bereich hat die Darwin'sche Ideologie von der ‚natürlichen Auslese’ einen solch gnadenlosen und rücksichtslosen Konkurrenzkampf entfesselt, wie in der Wirtschaft.

Die von Darwin in seiner Evolutionslehre proklamierte These vom ‚Überleben des Tüchtigsten’ wurde zum bestimmenden Paradigma für die moderne kapitalistische Gesellschaft. Damit wurde das Band menschlicher Verbundenheit radikal durchtrennt und Konkurrenz statt Kooperation, Egoismus statt Ethik zu den Leitmotiven des neuzeitlichen Menschen gekürt. Diesem neuen Leitbild folgend wurde die Tendenz zur rationalen Vernunft und Selbstbehauptung in den Industriegesellschaften überbetont und die integrativen, das Gemeinwohl fördernden Tendenzen zunehmend vernachlässigt“ (3).

Die großen Dichter, Künstler, Wissenschaftler und Ärzte der letzten Jahrhunderte wie beispielsweise Leonardo da Vinci, Galileo Galilei, Kepler, Goethe, J. S. Bach, Paracelsus und viele mehr, waren ebenso davon überzeugt und beseelt: „Wie oben, so unten“, dass sich alles in allem wiederfindet und spiegelt, alles ist in einem.

Einen der größten Teilungs- und Zerfallsprozesse dieses holistischen Weltbildes erfuhr die Wissenschaft in etwa den letzten 150 Jahren. Die Kernspaltung und die Atombombe sind erste Höhepunkte auch eines sich radikal veränderten Weltbildes. Auch in der Bildung, in den staatlichen Schulen, begann sich alles zu teilen. In Physik-, Chemie-, Mathematik-, Geschichte-Unterricht und dergleichen. In den Klosterschulen des Mittelalters lehrte man noch den Zusammenhang in allen diesen Wissens- und Wissenschaftsbereichen. Mit den flächendeckenden staatlichen Schulen und der Industrialisierung im 19. Jahrhundert und der Schwerpunktsetzung auf naturwissenschaftliche Fächer – Mathematik, Chemie, Physik et cetera – wurde der Lehr- und Erkenntnisprozess des „Gemeinsamen in allem“ nachhaltig bis heute unterbrochen.

In den Wissenschaften wurde der Mensch freilich auch gründlich erforscht und in alle seine Teile zerlegt. Der Höhepunkt liegt in der Entschlüsselung des menschlichen Genoms. Im Zusammenhang Kind und Familie stehen wir am Beginn des 21. Jahrhunderts nach Jahrzehnten „intensiver Forschung“ in Biologie, (Entwicklungs-) Psychologie und Neurobiologie vor folgenden grundlegenden Erkenntnissen:

Nahezu jedes Kind wird gesund geboren. Sogenannte Erbkrankheiten, oder Krankheiten, die auf einem Gen-Defekt beruhen, sind so selten – circa 0,1 Prozent –, dass man sie als äußerst marginal vorkommend bezeichnen kann. Schon während der Schwangerschaft und im Verlauf der Geburt, aber vor allem in der – frühen – Kindheit, können einem Kind eine ganze Menge ungünstiger Dinge widerfahren, die nachhaltig seine Entwicklung hemmen und seine Gesundheit, Physe und Psyche, schädigen können.

Von Umweltfaktoren abgesehen, werden Kinder krank durch das, was ihnen widerfährt und wie mit ihnen umgegangen wird. Wie die Bindungs- und Bezugspersonen mit dem Kind umgehen und wie die äußeren Umstände des Aufwachsens sind, entscheidet (fast) ausschließlich, ob die Entwicklung und Gesundheit des Kindes gehemmt oder gefördert wird, und ob der Mensch – von Natur aus gesund – krank wird.

„Jede Krankheit ist eine Krankheit der Seele“,

sagte einmal der deutsche Dichter Novalis. Was kluge Geister schon immer wussten, ist nun am Beginn des dritten Jahrtausends „wissenschaftliches Faktum“. Am verletzbarsten und am nachhaltig irritierbarsten ist die (früh-)kindliche Seele.

Jedes Kind ist von Geburt an hoch oder sehr begabt. Intelligenz wird weder vererbt, noch richtet sie sich nach dem Bildungsgrad und dem Kontostand der Eltern. Das menschliche Gehirn stattet jedes Kind von Geburt an mit einer unglaublichen Fülle von Potentialen aus. Wie für die psychische und physische Entwicklung des Kindes gilt auch für die Intelligenz und die kognitiven Kompetenzen: Entscheidend ist von Geburt an ein stützender, anerkennender, kontinuierlicher und liebevoller Umgang der primären Bindungs- und Bezugspersonen. Mutter und Vater (4).

98 Prozent aller Kinder kommen hoch begabt zur Welt. Nach der Schule sind es nur 2 Prozent.

Der Film-Untertitel des Dokumentarfilmes Alphabet ist sehr pointiert. Die Aussage beruht jedoch auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Gesundheit, Intelligenz und eine unerschöpfliche Fülle von Begabungen sind jedem Kind in die Wiege gelegt.

In den Slums von Rio de Janeiro, Mumbai oder in einer Nomadenfamilie in Somalia wird jederzeit ein bedeutender Wissenschaftler oder künftiger Nobelpreisträger geboren. Nur bedenken und beachten wir es nicht. Wie auch jederzeit aus einer mit ausreichendem Wohlstand versorgten Mittelschichtfamilie in Europa ein Massenmörder hervorgehen kann.

Den oben genannten elementaren Grund-Erkenntnissen lässt sich schließlich noch eine aus der Neurobiologie und der Psychologie hinzufügen. Das menschliche Gehirn ist von Geburt an ein soziales (5). Die Fähigkeit zur Empathie, mitfühlend zu sein, ist uns allen ebenso in die Wiege gelegt. Es liegt ganz allein an uns Eltern und allen in der Gesellschaft, was aus jedem gesunden, intelligenten und hoch begabten Kind wird. Nach jahrzehntelanger intensiver Forschung in unterschiedlichsten Disziplinen zum Wesen und der Entwicklung des Kindes und Menschen haben wir „schwarz auf weiß“, was beispielsweise Maria Montessori vor etwa 100 Jahren erkannte und mit anderen Worten in ihren Werken festhielt.

1901 erschien das Buch Das Jahrhundert des Kindes der schwedischen Reformpädagogin Ellen Key. Ihre Vision hat sich im 20. Jahrhundert mit den beiden großen Weltkriegen wohl kaum verwirklicht. Es wurden zwar in den 1950er bis 1989er Jahren die Grundrechte des Kindes und der Familie (!) in die Menschenrechtskonvention der UNO mit aufgenommen und festgeschrieben. Längst umgehen und entwerten auch viele demokratische „Rechts-Staaten“ diese Grundrechte mit ihrer eigenen Rechtspraxis. Der entscheidende Punkt, warum sich Ellen Keys Vision vom Jahrhundert des Kindes – noch – nicht erfüllte, ist wohl der: Die letzten Jahrzehnte können auch als ein endgültiges Verschwinden der Familie bezeichnet werden. Damit verschwand weitgehend die wichtigste Schutz- und Stützfunktion des Kindes, um die ihm mitgegebene Fülle an Potenzialen bestmöglich zu entfalten.

Wenn wir uns den Ist-Zustand Kind und Familie am Beginn des dritten Jahrtausends vergegenwärtigen, müssen wir eingestehen, dass die Worte Albert Schweitzers immer noch Gültigkeit haben:

„Wagen wir die Dinge zu sehen, wie sie sind. Es hat sich ereignet, dass der Mensch ein Übermensch geworden ist. (…) Er bringt die übermenschliche Vernünftigkeit, die dem Besitz übermenschlicher Macht entsprechen sollten, nicht auf. (…) Damit wird nun vollends offenbar, was man sich vorher nicht recht eingestehen wollte, dass der Übermensch mit dem Zunehmen seiner Macht zugleich immer mehr zum armseligen Menschen wird. (…) Was uns aber eigentlich zu Bewusstsein kommen sollte und schon lange vorher hätte kommen sollen, ist dies, dass wir als Übermenschen Unmenschen geworden sind“ (6).

Sind wir alle nicht auch zu Unmenschen geworden, nicht nur im Umgang mit den Ressourcen unseres Planeten, sondern auch mit den menschlichen Ressourcen und zunehmend der unserer Kinder? Der Ist-Zustand Kind und Familie am Beginn des 21. Jahrhunderts ist einer der scheinbar endgültigen Teilung, Entfremdung und Entwertung.

Der immer größer werdende Stumme Schrei unserer Kinder könnte in ein paar Jahrzehnten zu einem großen, lauten, kollektiven Schrei werden.

Von Ernst Bloch stammt der – scheinbar – paradoxe Appell: „Vorwärts zu unseren Wurzeln!“

Wenn wir uns die Frage stellen, wohin wollen wir eigentlich als gesamte Gesellschaft – und diese Frage müssen wir uns bei diesem Befund Ist-Zustand Kind und Familie stellen – sollten wir uns zuvor in Erinnerung rufen, welchen Wert Kind und Familie einmal hatte. – Nicht ohne Grund.



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Quellen und Anmerkungen:

(1) Y. N. Harari, „Eine kurze Geschichte der Menschheit“, 2013 . Hararis Bestseller ist meines Erachtens die derzeit spannendste Beschreibung des „Großen und Ganzen“, der Entwicklung der Menschheit von unserer Kultur der Jäger-und-Sammler bis zu unserer gegenwärtigen „Kultur“ des Konsumismus. So komplexe Prozesse wie die kognitive und landwirtschaftliche Revolution, bis hin zum Kapitalismus, werden kurz und präzise erklärt wie kaum anderswo. Erstaunlicherweise geht der Universalhistoriker aber nicht näher darauf ein, welchen Anteil die Erziehung und „Bildung“ bei der Odyssee und dem großen Drama des „modernen“ Sapiens hat.
(2) Das I Ging (chinesisch „Das Buch der Wandlungen“) ist der älteste der klassischen chinesischen Texte. Seine Entstehung wird auf das dritte Jahrtausend vor Christus geschätzt.
(3) G. Hüther/C. Spannbauer, „Ein Plädoyer der Verbundenheit“, in: G. Hüther/C. Spannbauer (Herausgeber), Connectedness. Warum wir ein anderes Weltbild brauchen, 2012
(4) In den letzten drei Jahrzehnten fand einer der größten gesellschaftlichen „Umbauten“ der letzten Jahrhunderte statt. Noch nie in Friedenszeiten(!) hatten Kinder so wenig Kontakt zu ihrem zweiten Elternteil, zumeist dem Vater. Weiters gingen in einem längeren Prozess, der in den letzten zwei Jahrzehnten seinen „Abschluss“ fand, alle Belange des Aufwachsens eines Kindes bis etwa dem zehnten Lebensjahr in weibliche Hand – Erziehung und Bildung. Die Mehrheit der Kinder wird überwiegend von der Mutter betreut oder lebt ohnehin getrennt vom Vater. Über 80 Prozent sind es Frauen, also weibliche Autoritätspersonen, die in Krippe, Kindergarten und Grundschule arbeiten. (Worauf später genauer eingegangen wird.) In den letzten Jahrzehnten haben Autoren und Wissenschaftler aus Pädagogik, Psychologie und seit Jahren auch aus Neurobiologie darauf verwiesen, dass dies für die gesamte Entwicklung des Kindes nachteilig ist. Kinder brauchen beide Rollenbilder und Identifikationsmöglichkeiten: das weibliche/mütterliche und das männliche/väterliche Vorbild. Für Mädchen ist ein gleichwertiger Kontakt zum Vater vor allem in den ersten Lebensjahren und nochmals in der Pubertät für die spätere Beziehungsfähigkeit besonders wichtig. Burschen mit einem guten und regelmäßigen Kontakt zum Vater (der dem der Mutter gleichwertig sein sollte), sind lernbereiter, weniger anfällig für ein späteres Suchtverhalten (Alkohol, Drogen), gesünder, in ihrer Psyche stabiler, weniger aggressiv und anfällig für Kriminalität, als jene Jungen, die ein problematisches Verhältnis, kaum oder keinen Kontakt zu ihrem Vater haben.
(5) Siehe dazu auch die im Literaturverzeichnis angeführten Werke des deutschen Neurobiologen Prof. Dr. Gerald Hüther. Dem Wissenschaftler gelingt es die Komplexität des menschlichen Gehirns und „das Wunder Gehirn“ in einer allgemein verständlichen Sprache darzulegen.
(6) Aus der Nobelpreisrede von Albert Schweitzer in Oslo am 4. November 1954. In: A. Schweitzer, „Gesammelte Werke“, Band 2, 1973


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