Ed Lehman ist ein kanadischer Kommunist und ein Genosse von mir. So etwas sage ich nicht oft und auch nicht leichtfertig — vor allem nicht über Leute aus dem Westen. Er wurde jedoch mein Kamerad, und wir kämpften fünf Tage lang Schulter an Schulter — und zwar nicht in der südamerikanischen Wildnis, auch nicht in Afghanistan oder in Syrien, sondern in der kleinen kanadischen Stadt Regina, der Hauptstadt der Provinz Saskatchewan.
Ich muss zugeben, dass ich so gut wie nichts über Regina wusste, als ich dorthin eingeladen wurde. Ich wusste nicht einmal, wie man es richtig ausspricht. Eines Tages jedoch erhielt ich eine E-Mail mit der Einladung, einer der Festredner der Friedenskonferenz in Regina zu werden. Ich nahm die Einladung spontan an.
Die Friedenskonferenz trug den Titel „Ja zu Frieden und Fortschritt — Nein zu NATO und Krieg!“.
Westlicher Friedensaktivismus
Normalerweise halte ich keine Ansprachen auf Friedenskonferenzen. Ich glaube bis heute daran, dass unterdrückte und kolonialisierte Länder für ihre Unabhängigkeit und Freiheit kämpfen müssen und dass der Friede, so wie er im Westen propagiert wird, den Status quo nur aufrechterhält. Friede ist, so sagte ich in Kanada, „wenn die Bomben nicht auf Paris oder Toronto fallen“. Friede ist, wenn die Elenden der Erde still und gehorsam in ihren geplünderten Ländern und Kontinenten sterben — weitab von Kameraobjektiven.
Tatsächlich ärgern mich viele Friedensbewegungen im Westen außerordentlich. Ihr Mangel an Sensibilität, gepaart mit Ignoranz, treiben mich in den Wahnsinn. Der Wunsch ihrer Mitglieder, „Gutes zu tun“ und „sich gut zu fühlen“, ist oft eigennützig und hat absolut nichts mit dem Kampf um Gerechtigkeit in Dutzenden von kolonialisierten und geplünderten „Satelliten“-Staaten zu tun.
Es geht tatsächlich um Gerechtigkeit
Als ich die Einladung aus Regina las, entdeckte ich jedoch etwas ganz anderes. Die Veranstalter sprachen tatsächlich von Gerechtigkeit, nicht nur davon, einen Konflikt zu beenden. Aus ganzem Herzen verteidigten sie Venezuela.
Und ihr Hauptziel bestand darin, die NATO aufzulösen oder „zumindest“ die Kanadier davon zu überzeugen, dass ihr Land nicht weiterhin Teil der „blutbefleckten“ Abenteuer sein sollte, die das Leben von Hunderten von Millionen Menschen auf der ganzen Welt zerstören.
Ich fühlte, dass die echte und solide Linke an mich herangetreten war. Und so akzeptierte ich die Einladung ohne großes Zögern.
Das Programm war wahnwitzig. Ich musste in den zwei Städten Regina und Winnipeg so gut wie Tag und Nacht Reden halten: vor den Teilnehmern der Friedenskonferenz, einer Kundgebung mit dem Titel „Nein zur NATO! Nein zu Regime Change-Politik!“ — die mitten in Regina im Victoria Park vor dem Ehrengrabmal der gefallenen Soldaten der beiden Weltkriege, des Koreakrieges und von Afghanistan stattfand — und vor Studenten und Professoren an drei Universitäten und einer Highschool. Gleichzeitig hatte ich den Printmedien und Radiosendern Interviews zu geben. Ich wurde gebeten, dem Publikum zwei meiner Dokumentarfilme zu zeigen — einen über Nordkorea und einen über die katastrophale Armut und über die Aids-Epidemie in der Region der Afrikanischen Großen Seen.
Kanada ist anders
Wieso schreibe ich dies? Warum führe ich diese detaillierte Liste von Veranstaltungen an? Aus einem einfachen Grund: Mir schien, als unterscheide sich Kanada sehr von den USA — trotz der geographischen Nähe und obwohl es seine beschämend rechte Regierung gewählt hat.
Vor allen Dingen: Kanadier hören zu. Sie mögen nicht immer einer Meinung mit kommunistischen, revolutionären Denkern wie mir sein, aber sie setzen sich hin, konzentrieren sich und hören dir zu. Sie sind wissbegierig, wollen verstehen. Allein dies ist schon sehr beeindruckend in einer Welt, die von der westlichen Propaganda gehirngewaschen wird.
Aber es gibt noch mehr, was mir dort auffiel: Anders als in Orten wie Kalifornien sagt hier niemand zu mir: „Danke, dass du hier bist, aber zeige uns bitte nicht zu viel Blut, zu viel Leid. Wir könnten es nicht ertragen“ — genau die Bemerkungen, die ich einmal in den USA zu hören bekam, als ich Ausschnitte meines Filmes „Rwanda Gambit“ zeigen wollte.
Wenn man einem kanadischen Publikum sagt: „Sie sind für einige Massaker mitverantwortlich, die die NATO begeht, und ich werde Ihnen zeigen, was die Menschen dieser Länder zu ertragen haben“, wird ein großer Teil dieses Publikums nicht „nein“ sagen — er wird sitzenbleiben und dir zuhören und sich, wenn nötig, auch ansehen, was man ihm mitteilen möchte.
Dafür bin ich dankbar, davon bin ich beeindruckt. Es ist „viel mehr“ als das, was ich bisher in vielen Teilen des Westens erlebt habe.
Beeindruckend ist ebenfalls, dass Winnipeg keine große Stadt ist und Regina nur etwa 200.000 Einwohner hat — und dennoch zeichnen sich beide Städte durch eine lebendige intellektuelle Szene aus. Dort leben hochgebildete und informierte Individuen, die sich dem westlichen Regime und globalen Diktat entgegenstellen. Es leben dort Menschen, die gegen das Regime kämpfen.
Mainstream-Medien, die objektiv und umfassend berichten
Und was mir noch auffiel: Die lokalen „Mainstream“-Medien berichteten über unsere Konferenz, die vom Regina Peace Council und dessen Präsident Ed Lehman organisiert worden war — so zum Beispiel die Regina Leader Post, die eine wohlwollende Darstellung in dem Artikel „Eine Gruppe von Bürgern Reginas protestiert gegen Kanadas Beteiligung an der NATO“ lieferte. Die Zeitung hatte auch kein Problem damit, meine Ideen zu verbreiten — was auch für den lokalen Bürger-Radiosender zutrifft. Und Erin Weir, unabhängiges Parlamentsmitglied, das den Wahlkreis Regina-Lewvan repräsentiert, überbrachte persönlich herzliche Grüße an die Konferenz.
Ich halte an Universitäten auf der ganzen Welt Reden. In Regina wurde ich jedoch auch gebeten, vor einer Oberstufenklasse zu sprechen, deren Schüler in der Lage waren, sehr wichtige Fragen zu formulieren und zu stellen.
Ich möchte nicht sagen, dass ich in Kanada „an Mainstream-Veranstaltungen teilgenommen habe“. Aber sowohl in Regina als auch in Winnipeg wurde es mir ermöglicht, mit verschiedenen Professoren, Schülern, Studenten und — durch Medienkanäle — sogar mit der lokalen Öffentlichkeit zu interagieren und diese auch zu beeinflussen.
Die hiesigen Antikriegs-Aktivisten haben ihre Saskatchewan News, die nun bereits im 26. Jahr erscheinen. Darin wird nicht nur über lokale Friedensaktionen berichtet, sondern es werden auch Ideologien beleuchtet, die die Friedensbewegung lähmen — so zum Beispiel die Doktrin der „Schutzverantwortung“ und des „humanitären Interventionismus“, „eine Version der ‚Last des weißen Mannes‘“, wie Dave Gehl in seiner Rede dazu sagte. Die Saskatchewan Peace News dienen auch dazu, Friedensaktionen zu organisieren.
Vereint für den Frieden
Für Ed Lehman ist „Frieden“ nicht einfach ein nettes Wörtchen oder irgendein Slogan — und damit steht er in Regina nicht alleine. Er ist davon überzeugt, dass „Die Progressiven von heute den Kampf für den Frieden mit dem Kampf für sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt und dem Kampf gegen die Klimakrise und gegen Rassismus verbinden müssen. Wenn sich die Gerechtigkeit durchsetzen soll, muss sich in Nordamerika eine tiefgreifende Veränderung des Wirtschafts- und Sozialsystems vollziehen. Wir sahen in den 30er-, 40er-, 50er- und 60er-Jahren, dass selbst in den aussichtslosesten Situationen ein Sieg errungen werden kann.“
Rassismus
Gerechtigkeit und Rassismus … Leider ist Rassismus hier, in Saskatchewan und allgemein in Kanada, nicht nur ein hässliches Wort. Er ist eine Realität, eine Schande. Viele der Menschen der First Nation — oder nennen wir sie die Ureinwohner Kanadas — lebten noch immer in erschütterndem Elend und würden benachteiligt, wie mir Julie Peebles erzählte. Sie ist eine junge Frau, der die Lebensbedingungen der Ureinwohner Kanadas ein Anliegen sind. Ihr fielen Parallelen zwischen Aids, wie ich es in meinem Film über Kenia zeigte, und der Situation in Saskatchewan auf. Hier ist die indigene Bevölkerung sozialen Bedingungen ausgesetzt, die denen in den ärmsten Ländern der Welt gleichen.
Scherzhaft schlug ich zunächst vor, im Verlauf des Jahres noch einmal nach Regina zurückzukehren, um einen kurzen Dokumentarfilm über das Elend der First Nation zu drehen: „Wäre das nicht peinlich — ein Russe, der hierher reist und das tut, was eigentlich die Pflicht eines jeden anständigen kanadischen Filmemachers wäre?“ Man nahm diese Frage ernst: Die Menschen in Regina begrüßten meinen Vorschlag enthusiastisch und boten Hilfe und Unterstützung moralischer und praktischer Art an. Sie wollten mich hier unterbringen, herumfahren, mir wichtige Orte für den Film zeigen. Und nun bin ich fest entschlossen, zurückzukehren und zu helfen.
Rückmeldungen
Nach der Veranstaltung und meiner Abfahrt lobten viele Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens die Arbeit und den Kampf des Regina Peace Council. In einem der Briefe hieß es:
„Der Regina Peace Council (RPC) hat der gesamten Friedensbewegung wieder einmal die Möglichkeiten gezeigt, die es gibt und die umgesetzt werden können, wenn die Organisation und Mobilisierung öffentlicher Friedensaktivitäten sorgfältig und durchdacht erfolgt und wenn man vor allem der neuen Generation von Friedensaktivisten und engagierten anti-imperialistischen Stimmen eine Plattform bietet.
Die Veranstaltung in Regina steht in Einklang mit anderen bereits eingeleiteten internationalen Bestrebungen, über die in den Massenmedien, die im Besitz der Konzerne sind und von diesen gesteuert werden, nur wenig berichtet wird.
Die NATO als defensive Allianz und unterstützt vom korrupten finanzkapitalistischen politischen Medienklüngel wird zunehmend als das enttarnt, was sie tatsächlich ist — die imperialistische Polizei und Provokateurin von US-angezettelten Kriegen, einschließlich der schlimmsten Kriegsform, der atomaren Kriege. Solange Kanada weiterhin Teil einer von den USA angeführten NATO ist, hat es keine Zukunft und bestimmt keine Sicherheit.“
Konstruktiver Optimismus
Ed Lehman selbst bewies, dass er nicht nur ein engagierter Kämpfer, sondern auch ein konstruktiver Optimist ist. Nachdem ich abgereist war, schrieb er mir:
*„In den letzten hundert Jahren hatte die Linke einen enormen Einfluss in Kanada. Ohne die Kämpfe der Arbeiterklasse, militanter Bauern, progressiver Intellektueller, der indigenen Bevölkerung und anderer hätte unser Land nicht die Sozialleistungen und Rechte, die so viele hier und heute für selbstverständlich halten. *
Unsere Nation erlebt jedoch infolge der Auswirkungen des Neoliberalismus und der Neoglobalisierung zunehmend eine Krise des Alltagslebens. Die Linke, und hier allen voran die Kommunisten, haben die Pflicht, eine starke Führungsrolle einzunehmen im Kampf gegen die Klimakatastrophe, für eine auf Frieden und Abrüstung basierende Außenpolitik und für den Sozialismus als Lösung für die Probleme, mit denen die Kanadier konfrontiert sind. Mit einer sozialistischen Vision und sozialistischem Optimismus werden die Arbeiter Kanadas eine neue Richtung für unser Land aufzeigen.“
In Winnipeg konfrontierte ich den ehemaligen kanadischen Botschafter für Venezuela, Ben Rowswell öffentlich — einen Mann, der diversen nicht-westlichen Ländern bereits großen Schaden zugefügt hat und der sein zerstörerisches Werk fortsetzt — siehe hier.
An der Winnipeg University hielt ich eine Rede mit dem Titel „NATO, Kanada und westlicher Imperialismus“, die man hier sehen kann.
Üben Kanada und seine Friedensbewegungen in Regina und Winnipeg den sprichwörtlichen Zwergenaufstand?
Dessen bin ich mir nicht sicher; was ich jedoch dort erlebte, erweckte Optimismus und Hoffnung in mir und ich gelangte zu der Überzeugung, dass „im Westen noch nicht alles verloren ist“.
Es regte mich auch zum Nachdenken an: Man nimmt ja stets an, dass sich Widerstandszentren in Metropolen wie New York, Los Angeles und Toronto befinden. In Wirklichkeit jedoch trifft sich die kanadische Opposition in kleinen Städten und Ortschaften — Radio Pacifica im tiefsten British Columbia, Christopher Black weit außerhalb Torontos und Ed Lehman in Regina.
Der RPC hat bereits so ausgezeichnete Kanadier wie Michel Chossudovsky, ein großer Denker und Herausgeber von Global Research, und Eva Bartlett — eine der mutigsten Kriegsreporterinnen der Welt — eingeladen; und bald gehört auch Christopher Black dazu, ein Freund von mir. Er ist kommunistischer internationaler Rechtsanwalt, Schriftsteller und Poet. Und nun wurde auch ich willkommen geheißen, ein revolutionärer Schriftsteller und — wie man mich in Lateinamerika nennt — ein militanter Internationalist. Die Menschen in Regina erschraken nicht bei meinen Worten — sie behandelten mich freundlich und herzlich, was ich nie vergessen werde.
In Regina fühlte ich mich deutlich wohler als je in Toronto oder Montreal.
Wovon Gelbwesten nur träumen können
Auf einer Demonstration mitten im Zentrum Reginas beobachteten uns zwei Polizisten — ein Mann und eine Frau — aus der Entfernung. Sie versuchten nicht, einzugreifen. Manchmal lächelten sie, aber größtenteils hörten sie einfach zu.
Als die Demonstranten einen Kreis bildeten, wurden die zwei Ordnungshüter aufgefordert, mitzumachen. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, traten sie mit in den Kreis. Da dachte ich: „Hier ist es ganz anders als in den USA. Dies ist Kanada.“
Und ich war mir sicher, dass ich bald hierher zurückkommen würde.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „In The Small Canadian Town of Regina, Resistance Is Brewing“. Er wurde von Gabriele Herb aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.
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