Der Atomwaffenverbotsvertrag wurde im Juli 2017 von einer Mehrheit der UNO-Mitgliedstaaten angenommen. 50 Staaten müssen ihn ratifizieren, damit er in Kraft treten kann – 19 haben ihn ratifiziert. Darunter ist kein Atomwaffenstaat, auch Deutschland nicht, auf dessen Territorium bekanntlich US-Atomwaffen stationiert sind.
Der Atomwaffenverbotsvertrag soll hier nicht im Einzelnen besprochen werden. Hinzuweisen wäre darauf, dass sich der Verbotsvertrag nicht gegen bestehende Verträge zu Atomwaffen richten soll und dass Unterzeichnerstaaten aus dem Vertrag auch wieder aussteigen können.
Zur Unterzeichnung des Vertrages organisiert die International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) eine internationale Kampagne – auch in Deutschland.
ICAN Deutschland (1) nennt verschiedene Gründe für das Verbot von Kernwaffen:
Humanitäre und ökologische: Seit Hiroshima und Nagasaki weiß die Menschheit, dass nukleare Waffen grausame Massenvernichtungsmittel sind und die Umwelt zerstören. Darüber kann es keinen Dissens geben.
Wirtschaftliche: Unbestreitbar ist, dass Atomwaffen, vor allem die Trägersysteme, wie die konventionelle Rüstung viel Geld kosten, das für andere Bereiche benötigt wird.
Sicherheitsgründe: Laut ICAN seien Atomwaffen „in keiner Weise hilfreich gegen aktuelle reale Bedrohungen unserer Sicherheit, etwa Terrorismus, Klimawandel, extreme Armut, Überbevölkerung, Ressourcenknappheit und Krankheiten“. Das würde vermutlich auch niemand behaupten wollen.
ICAN meint ziemlich sicher voraussagen zu können, dass, solange Atomwaffen existieren, sie auch wieder eingesetzt werden, „entweder absichtlich oder unabsichtlich“ und schreibt: „Auch die Militärdoktrin der Atomwaffenstaaten sehen allesamt sehr realistische Einsatzszenarien vor“.
Dazu sei angemerkt: Es gehört nun mal zur ureigensten Aufgabe von Streitkräften realistische Einsatzszenarien, auch atomare, auszuarbeiten, um auf jeden denkbaren Fall vorbereitet zu sein. Aber zwischen Planung und Ausführung steht die politische Verantwortung und Entscheidung.
ICAN verweist zu Recht auf die Gefahr von Unfällen oder Fehleinschätzungen. Neben dokumentierten Einzelfällen spricht ICAN allerdings auch von „vielen unbekannten Einzelfällen“, in denen Atomwaffen „fast aus Versehen“ eingesetzt wurden. Unbekanntes lässt sich weder quantifizieren noch verifizieren. Gerade wenn es um so gravierende Risiken geht, sollte man sich vor Mutmaßungen und Übertreibungen hüten.
ICAN schreibt, Atomwaffen seien keineswegs ein „Garant für Frieden“. Das „Narrativ“, die atomare Abschreckung hätte während des Kalten Krieges den Frieden bewahrt, sei „weder rational begreifbar noch empirisch belegbar“.
Atomwaffen per se garantieren natürlich keinen Frieden. Nun hat aber die Geschichte keinen Rückwärtsgang. So schuf die Existenz der Atomwaffen die Notwendigkeit des strategischen Gleichgewichts und der gegenseitigen nuklearen Abschreckung.
Dass die atomare Abschreckung verhindert hat, dass aus dem kalten ein heißer Krieg wurde, lässt sich vielleicht etwas leichter verstehen, wenn man sich diese Geschichte ein wenig näher ansieht.
Geschichte der Atomwaffen
Kurz vor Beginn des 2. Weltkrieges gelang Forschern in Deutschland die erste Spaltung eines Atomkerns. Wissenschaftler, die aus Deutschland geflohen waren, befürchteten, dass die Nazis die Forschungen fortsetzen, um sie militärisch zu nutzen. Sie baten Albert Einstein, US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt vor dieser Gefahr zu warnen und ihn anzuregen, selbst Vorkehrungen zu treffen.
Seinen Brief vom 2. August 1939 bereute Einstein später. „Hätte ich gewusst, dass es die Deutschen nicht schaffen würden, eine Atombombe herzustellen, ich hätte keinen Finger gerührt”, erklärte Einstein, als die Auswirkungen des Atombombenabwurfs auf Japan bekannt wurden.
Einsteins Brief hatte wahrscheinlich dazu beigetragen, dass in den USA das sogenannte Manhattan-Projekt entstand, in dem ab 1942 an der Entwicklung der Atombombe gearbeitet wurde.
Als der erste Atombombentest näher rückte, versuchten einige der am Manhattan-Projekt beteiligen Wissenschaftler, darunter auch Leó Szildárd, Präsident Harry S. Truman vor dem Einsatz zu warnen. Truman verwies sie an seinen damaligen Berater James F. Byrnes, den späteren US-Außenminister. Über das Treffen am 28. Mai 1945 schrieb Leó Szildárd später:
„Byrnes war damals sehr besorgt über den steigenden Einfluss Russlands in Europa und war der Ansicht, dass unser Besitz und die Demonstration der Atombombe den Umgang mit Russland in Europa erleichtern würden.“
Bezeichnend ist auch, dass für Brigade General Leslie Groves, der im September 1942 die militärische Leitung des Manhattan-Projekts übernahm, Russland von Anfang an der Feind war:
„Etwa zwei Wochen nachdem ich die Leitung des Projekts übernommen hatte, zweifelte ich keinen Moment mehr daran, dass Russland unser Feind war und das Projekt auf dieser Grundlage durchgeführt wurde“ (2).
Das erklärte er während der Schlacht um Stalingrad.
Um den ersten Atombombentest abzuwarten, ließ Präsident Truman den Beginn der Potsdamer Konferenz um zwei Wochen verschieben, in der Hoffnung Josef W. Stalin zu überraschen und durch diese Machtdemonstration einzuschüchtern. Der Test am 16. Juli 1945 war erfolgreich, am 17. begann die Potsdamer Konferenz. Überrascht war nicht Stalin, sondern Truman, denn Stalin blieb von der Nachricht unbeeindruckt.
Die sowjetische Regierung war schon lange über das Manhattan-Projekt informiert. Antifaschisten beziehungsweise Kommunisten – wie Klaus Fuchs, Theodore Hall and David Greenglass, wissenschaftliche Mitarbeiter im US-Manhattan-Projekt – hatten die technischen Informationen der Sowjetunion zukommen lassen.
So wie Albert Einstein und Leó Szildárd wollten, dass die USA den Nazis mit der Atombombe zuvorkommen, so wollten die Antifaschisten verhindern, dass ein Atomwaffenmonopol der USA diese zu einem Angriff gegen die Sowjetunion verleiten könnten.
Die US-Propaganda, erst der US-Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 hätte Japan zur Kapitulation gezwungen, diente der Rechtfertigung für das damit angerichtete Grauen, vor allem auch gegenüber der US-Bevölkerung.
Japan stand bereits kurz vor der Kapitulation. Der Einsatz der Atombomben sei „vom militärischen Standpunkt aus betrachtet absolut überflüssig“ gewesen, meinte unter anderem selbst der Oberkommandierende der alliierten Streitkräfte im Pazifik, US-General McArthur (3).
Mit diesem Abwurf konnten seine Planer nun auch die Konsequenzen für Mensch und Umwelt testen. Vor allem aber sollte der Sowjetunion die US-Überlegenheit demonstriert werden. Wie hatte doch der Leiter des US-Atomwaffenprogramms Brigade General Leslie Groves schon 1942 gesagt: „Russland ist der Feind“.
Abschreckung im Kalten Krieg
Mit dem Erfolg des ersten sowjetischen Atomwaffentests Ende August 1949 war das US-Atomwaffenmonopol gebrochen. Auch andere Staaten haben inzwischen Atomwaffen angeschafft. Bis heute sind die USA die einzige Atommacht, die ihre Atomwaffen auch eingesetzt hat.
Seit 1949 spielen Atomwaffen und die Nuklearstrategie in den Auseinandersetzungen zwischen USA/NATO und Sowjetunion/Russland eine zentrale Rolle.
Der Start des ersten Sputnik 1957 zeigte, dass nunmehr auch sowjetische Interkontinentalraketen das US-Territorium erreichen könnten.
Den strategischen Vorteil der USA mit ihren Mittelstreckenraketen in der Türkei und Italien wollte die UdSSR 1962 mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen auf Kuba kompensieren. Die Kuba-Krise endete mit einer Vereinbarung. Die sowjetischen Raketen wurden aus Kuba und die US-Raketen aus der Türkei und Italien abgezogen.
Das durch die nukleare Hochrüstung entstandene „Gleichgewicht des Schreckens“ – die Mutually Assured Destruction, also die gegenseitig zugesicherte Zerstörung – beruht auf der Annahme, dass keine Seite so verrückt sein kann, mit dem Einsatz von Atomwaffen auch die eigene nukleare Vernichtung in Kauf zu nehmen.
Heiße Zeit im Kalten Krieg
Die Entwicklung von atomaren US-Erstschlagwaffen zur „Enthauptung“ des Gegners, die darauf zielen einen atomaren Zweitschlag zu verhindern, führten Anfang der 1980er Jahre zu einer neuen Eskalation. Man kann wohl sagen, dass die frühen 80er Jahre die heißeste Zeit des Kalten Krieges waren.
1979 hatte die NATO den berühmten Doppelbeschluss zur Stationierung der Pershing II und Cruise Missiles verabschiedet, nukleare Erstschlagwaffen, die vor allem in der Bundesrepublik stationiert werden sollten.
Reagan hatte Abrüstungsverhandlungen für tot und eine Koexistenz mit dem „Reich des Bösen“ für ausgeschlossen erklärt. 1983 spitzten sich die Spannungen zu. US-Neocons in der Reagan-Administration propagierten den nuklearen Enthauptungsschlag der Sowjetunion und erstellten Pläne für einen „begrenzten Atomkrieg“ in Europa, der für die USA „führbar und gewinnbar“ sein sollte.
Als Anfang November auch noch das traditionelle NATO-Manöver ABLE ARCHER mit einer Simulation verbunden wurde, die auf Moskau wie die Vorbereitung eines nuklearen Erstschlags wirkte, spannten sich die Nerven in Moskau. Nach den bitteren Erfahrungen des Überfalls Nazideutschlands wollte die sowjetische Staatsführung das Land nie mehr einem Überraschungsangriff ausliefern und schaltete auf Gefechtsbereitschaft.
Mit den Informationen des DDR-Aufklärers Rainer Rupp, der in den höchsten Gremien der NATO arbeitete und Einblick in alle wichtigen Vorgänge hatte, konnte die sowjetische Führung überzeugt werden, dass die NATO keinen nuklearen Erstschlag plante und somit die Situation entspannt werden.
Über die Gefahr des nuklearen Ersteinsatzes sagt Rainer Rupp, dass selbst in höchsten NATO-Stabsmanövern ein Ersteinsatz von Nuklearraketen immer nur nach Beginn von regulären Kriegshandlungen vorgesehen war, im Rahmen der Eskalationshoheit, die sich die NATO vorbehielt.
Ein nuklearer Angriffskrieg zur Enthauptung der Kommando-, Kontroll- und Kommunikationszentren des Gegners – ohne dass von ihm eine akute Gefahr ausging – sei zwar Anfang der 1980er Jahre von den Neocons in der Reagan-Administration propagiert worden, aber alle Versuche, den europäischen NATO-Verbündeten einen „begrenzten, durchführbaren und gewinnbaren“ Nuklearkrieg gegen die Sowjetunion als neue NATO-Strategie zu verkaufen, seien gescheitert.
Die sowjetische Militärstrategie zu jener Zeit schloss den Ersteinsatz von Atomwaffen auch nach begonnen Kampfhandlungen aus. Wahrscheinlich, so Rainer Rupp, sei sich Moskau damals sicher gewesen, dass die NATO nie bis zur russischen Grenze kommen würde.
Der Ersteinsatz von Nuklearwaffen wäre für die Sowjetführung nur eine Option, wenn die Lage eindeutig identifiziert wurde und mit einem unmittelbar bevorstehenden nuklearen NATO-Angriff gerechnet werden musste, dem man innerhalb weniger Minuten zuvorkommen wollte. Dies sei die Situation im Herbst 1983 gewesen. Deshalb standen nuklear bestückte sowjetische Bomber mit laufenden Motoren auch auf dem DDR-Territorium startbereit.
Laut Rainer Rupp sei auch die NATO nie von einem atomaren Erstschlag seitens der Sowjetunion ausgegangen – mit Ausnahme zur Verhinderung des Starts von atomaren US-Erstschlagswaffen in Europa.
Die heiße Zeit der Achtziger endetet schließlich in der Entspannung. 1987 unterschrieben US-Präsident Reagan und der sowjetische Generalsekretär Gorbatschow den INF-Vertrag zur Stabilisierung des nuklearen Gleichgewichts in Europa.
Abschreckung heute
Damit endeten jedoch nicht die Bestrebungen der USA nach nuklearer Dominanz. Zwei Experten der Nuklearkriegsführung an der US-Luftwaffenuniversität untersuchten die Entwicklung der US-Atomkriegsstrategie unter dem Friedensnobelpreisträger Barack Obama und stellten im Jahr 2013 fest, dass unter seiner Ägide das US-Militär von Anfang an das Ziel der strategischen Vorherrschaft verfolgt habe (4).
Unter dem Deckmantel des Raketenabwehrsystems in Osteuropa wurden unter Präsident Obama Erstschlagkapazitäten geschaffen – bestückbar mit den atomaren Tomahawk Cruise Missiles – ohne dass europäische NATO-Mitglieder gegen diese Verletzung des INF-Vertrages protestiert hätten.
Bei Kündigung des INF-Vertrags – wie von Präsident Trump angekündigt – und der Stationierung von US-Mittelstreckenraketen nahe der russischen Grenze kämen wir heute in eine noch weitaus gefährlichere Situation als 1983, als die Vorwarnzeit für Moskau auf 5 Minuten reduziert war und schon damals für die Sowjetführung die Notwendigkeit bestand, im Spannungsfall bereits auf Verdacht ihren Gegenschlag zu starten, um ihrer „Enthauptung“, das heißt der Vernichtung ihrer Zweitschlagkapazität zuvorzukommen.
Bei noch geringeren Vorwarnzeiten, zum Beispiel bei einer Stationierung der US-Raketen in der Ukraine, Rumänien, Polen und den drei rabiat anti-russischen Kleinstaaten Estland, Lettland und Litauen, würde natürlich die Gefahr einer Fehleinschätzung und somit eines Atomkriegs um ein Vielfaches wachsen, denn dann bliebe in Moskau erst Recht keine Zeit mehr, um Fehlmeldungen zu überprüfen. Dieses neue Drohpotential müsste Russland wiederum mit einer weiteren atomaren Nachrüstung beantworten, um die Zweitschlagkapazität und damit eine wirksame gegenseitige Abschreckung zu erhalten.
Für Russland bleibt die Kriegsverhinderung und damit die atomare Abschreckung der wichtigste Faktor seiner nationalen Sicherheitsstrategie. Das russische Atomwaffenpotential soll andere Mächte vom Einsatz ihrer Atomwaffen abhalten und militärische Angriffe gegen sein Territorium mit einem hohen Preis für den Aggressor abschrecken.
Die heutige russische Militärdoktrin sieht den Einsatz von Atomwaffen nur dann vor, wenn die Russische Föderation mit Atomwaffen oder anderen Massenvernichtungswaffen angegriffen wird, oder wenn ein militärischer Überfall mit konventionellen Waffen, der die Existenz des russischen Staates bedroht, nicht mehr mit konventionellen Waffen abgewehrt werden kann.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gingen die USA/NATO davon aus, dass sie Russland wirtschaftlich und militärisch in die Knie zwingen würden. Zudem traten die USA 2002 einseitig aus dem ABM-Vertrag aus, dem Eckpfeiler des internationalen Sicherheitssystems.
In seiner Rede am 1. März 2018 (5) sagte Präsident Vladimir Putin, der Westen habe offensichtlich vorgehabt, „einen möglichst großen militärischen Vorsprung zu erringen, um Russland in allen künftigen Verhandlungen die Bedingungen diktieren zu können“.
In ihrer grenzenlosen Arroganz hatten die Herren und Damen des NATO-Kriegsbündnisses die Hand ausgeschlagen, die Putin ihnen immer wieder gereicht hatte. Und so kündete Putin russische Maßnahmen an, um die strategische Parität wiederherzustellen. Gleichzeitig wiederholte er sein Angebot, endlich zu verhandeln, um „gemeinsam ein neues, wirklich funktionierendes, internationales Sicherheitssystem zu erarbeiten und über eine nachhaltige Entwicklung der menschlichen Zivilisation nachzudenken“. Und er betonte, Russland sei jederzeit zu Verhandlungen bereit.
Dass der „Westen“ sich von Putins Rede schockiert zeigte, von Aggressivität und Provokation sprach – wer könnte es anders erwarten. Allerdings reihten sich auch die Friedensorganisationen ICAN/IPPNW in einer Pressemitteilung (6) in den Chor des Mainstreams ein. „Putin droht mit neuen ‚unschlagbaren‘ Atomwaffen“, heißt es dort, „Jetzt steigt auch Putin in den Potenzstreit mit Donald Trump und Kim Jung-un ein.“ und „Putin protzt mit seinen neuen nuklearen Fähigkeiten“.
Hatten ICAN/IPPNW die Entwicklung seit den 1990er Jahren verschlafen? Hatten sie die Rede Putins nicht gelesen? Warum ignorierten sie das russische Angebot zu verhandeln?
Atomare Abschreckung als politisches Instrument
Ob uns das gefällt oder nicht: Atomare Abschreckung ist auch ein politisches Instrument. Das zeigt gerade das Beispiel Nordkorea. Nachdem Nordkorea 2002 von den USA auf die Liste der „Achse des Bösen“ aufgenommen wurde, entschied es sich für die Wiederaufnahme seines Atomwaffenprogramms. Man darf wohl davon ausgehen, dass Nordkorea keine Selbstmordabsichten hegt und einen atomaren Angriffskrieg plant.
Wie der Asienexperte Rainer Werning es formulierte: „Nach einem fünfzehnjährigen westlichen ‚Krieg gegen den Terror‘ mit reihenweise verwüsteten Staaten im Nahen und Mittleren Osten folgt Nordkoreas Nomenklatura einer sehr rationalen Logik: Wenn wir schon international nicht als Freund geachtet sind, wollen wir wenigstens auf Augenhöhe als Feind geächtet werden“ (7). Auf Augenhöhe mit den USA zu verhandeln ist der gegenwärtige Versuch der Regierung in Pjöngjang, um endlich zu einem Friedensvertrag zu kommen.
Das bedeutet natürlich nicht, die Friedensbewegung müsse nun eine atomare Bewaffnung aller Staaten begrüßen, die sich dem USA/NATO-Diktat nicht beugen wollen. Für eine Friedensbewegung ist das politische Instrument die Charta der Vereinten Nationen, das heißt die Achtung der Souveränität und Gleichheit aller Nationen und die klare Positionierung gegen jedes Diktat des Stärkeren.
Kann das Verbot von Atomwaffen weiterführen?
Beide atomaren Großmächte wissen, dass es in einem Atomkrieg keinen Sieger geben kann. Und da die Eskalationsspirale hin zu einem Atomwaffeneinsatz nicht kontrollierbar ist, ist die gegenseitige nukleare Abschreckung auch eine Abschreckung gegen einen konventionellen Angriff.
Zum Atomwaffenverbotsvertrag erklärte Sergej Lawrow:
„Die Befürworter des Vertrags, einschließlich der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Nuklearwaffen (ICAN), die mit dem Friedensnobelpreis für 2017 ausgezeichnet wurde, scheinen von einem hehren Ziel geleitet zu sein, Atomwaffen so schnell wie möglich zu verbieten“ (8).
Auch Russland trete ein für eine atomwaffenfreie Welt. Dennoch könne es den Vertrag nicht unterschreiben, da „eine vollständige Denuklearisierung nur im Rahmen der allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter Bedingungen gleicher und unteilbarer Sicherheit für alle Staaten, einschließlich der Nuklearstaaten, möglich ist, wie dies der Atomwaffensperrvertrag festgelegt“.
Der Vertrag über das Verbot von Nuklearwaffen hingegen „entspricht nicht diesen Grundsätzen und ignoriere die Notwendigkeit alle Faktoren zu berücksichtigen, die die strategische Stabilität beeinflussen können, und kann sich daher destabilisierend auf das Nichtverbreitungsregime auswirken. Im Ergebnis könnte die Welt noch instabiler und unberechenbarer werden.“
Inzwischen haben die ständigen UN-Sicherheitsratsmitglieder Russland, Großbritannien, China, die USA und Frankreich eine gemeinsame Erklärung im gleichen Sinn verbschiedet, in der es heißt, der Atomwaffenverbotsvertrag „wird nicht zur Vernichtung auch nur einer einzigen Waffeneinheit führen. Er entspricht nicht den höchsten Standards der Nichtweiterverbreitung. Er provoziert Diskrepanzen im Rahmen der internationalen Instrumente zur Nichtverbreitung und Abrüstung, was den weiteren Prozess im Abrüstungsbereich noch mehr erschweren kann.“
Und sie betonen, „dass die beste Methode zum Erzielen einer Welt ohne Atomwaffen ein etappenweiser Prozess ist, der die Situation im Bereich der internationalen Sicherheit berücksichtigt“ (9).
Kein Atomwaffenstaat wird in absehbarer Zeit den Atomwaffenverbotsvertrag unterschreiben, selbst wenn die notwendigen 50 Staaten ihn ratifizieren sollten.
ICAN geht davon aus, dass der Vertrag trotzdem wirke, denn er nehme den Atomwaffen „die Legitimität und diskreditiere den Besitz“. Auch das würde nicht weiterführen, denn Atomwaffen werden ja nicht moralisch gerechtfertigt, sondern strategisch begründet.
Zwei weitere Probleme seien hier nur angedeutet:
Auch wenn die Besitzerstaaten dem Verbotsvertrag beitreten würden, es gibt keine totale Verifizierung der Vernichtung ihrer Atomwaffen. Die internationalen Interessenkonflikte und Widersprüche lassen kein vollständiges gegenseitiges Vertrauen zu.
- Ein Staat, der nicht alle Atomwaffen abbaut, könnte alle anderen erpressen. Die Expertise und die Technologie existieren weiterhin und ermöglichen auch eine neuerliche atomare Rüstung, nicht nur heimlich. Jeder Staat kann entsprechend begründet aus dem Atomwaffenverbotsvertrag nach einer 12-monatigen Ankündigungsfrist aussteigen. Ein neuer nuklearer Rüstungswettlauf ist damit vorprogrammiert.
- Eine atomare Abrüstung bis auf null würde zudem die konventionelle Rüstung derart anheizen, dass die internationale Situation noch instabiler werden könnte und wegen der viel höheren Kosten Länder wirtschaftlich ruinieren.
Nach der Ankündigung Trumps, aus dem INF-Vertrag auszusteigen, forderte ICAN zwar auch die Rückkehr zur Abrüstung, erklärte aber zugleich, „der internationale Verbotsvertrag ist der Weg nach vorne“.
Der Verbotsvertrag kann von der Sache her nur ein Ziel sein und nicht der Weg. Mit diesem Verbot wird keine einzige Atomwaffe verschwinden. Der Vertrag kann nicht mehr sein als ein moralisches Bekenntnis ohne praktische Konsequenzen. Die Linken und Grünen Abgeordneten in der Bundestagsdebatte zur ICAN-Initiative am 18. Oktober machten die Schwäche ihrer Argumentation nur allzu deutlich.
Wenn eine Kampagne zu einem so schwierigen Thema wie Atomwaffen die Realitäten negiert, um das Ziel zum Weg zu erklären, besteht dann nicht die Gefahr, dass sie bei vielen Engagierten Illusionen und falsche Hoffnungen erzeugt?
Und schließlich: Wie sinnvoll ist ein internationaler Vertrag zum Verbot von Atomwaffen, von dem man von vorneherein wissen muss, dass ihm unter den heutigen und absehbaren internationalen politischen Realitäten nur Staaten beitreten, die keine Atomwaffen haben, keine atomare Bewaffnung planen und von denen keine Gefahr einer nuklearen Auseinandersetzung ausgeht?
Was können wir hierzulande tun?
ICAN fordert die Bundesregierung auf, den Verbotsvertrag zu unterschreiben. Laut Vertrag sollen Länder, auf deren Territorien fremde Kernwaffen lagern, „dafür Sorge tragen“, dass diese nach Vertragsunterschrift „sobald wie möglich entfernt werden, spätestens aber zu einem vom ersten Treffen der Vertragsstaaten festzulegenden Termin“ (10). Allerlei Vertragsbestimmungen sollen die Umsetzung regeln.
Die Bundesregierung könnte mit einer Unterschrift zwar ihre selbstgefällige moralische Pose einnehmen – auf die Bedrohung des „bösen Russlands“ zeigend, das sich dem Vertrag nicht anschließen wird – nur kommt sie sowieso nicht umhin, selbst „dafür Sorge zu tragen“, dass die US-Atomwaffen auch wirklich abgezogen beziehungsweise nicht durch modernisierte ersetzt werden. Sie könnte sich also durchaus hinter dem breiten Rücken der USA verstecken, falls diese Schwierigkeiten machen.
Aber warum überhaupt diesen Umweg über den Verbotsvertrag gehen? Die Bundesregierung kann jederzeit aus der nuklearen Teilhabe aussteigen. Das hätte sie schon längst tun können. Es gab diesbezüglich immer wieder Ankündigungen und 2009 hatte sie es sogar schon im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Das Problem ist wohl eher, dass ihr der Wille und der Mut fehlen, sich diesbezüglich – falls nötig – mit den USA anzulegen.
Der Ausstieg aus der nuklearen Teilhabe kann also ohne Umschweife von der Bundesregierung gefordert werden. Da die Bundesrepublik nicht mehr der NATO-Frontstaat ist wie zu Zeiten des Kalten Krieges, sondern die NATO inzwischen bis an die russische Grenze vorgedrungen ist, muss allerdings auch verhindert werden, dass im Fall eines Abzugs der US-Atomwaffen aus Deutschland, diese nicht noch näher an die Grenze Russlands verlegt werden. Willige, von ihrem Hass gegen Russland geblendete Aufnehmer in Osteuropa gibt es.
Von der Bundesregierung muss gefordert werden, dass sie sich glaubhaft einsetzt für Verhandlungen, nicht nur um neue US-Atomwaffen beziehungsweise Mittelstreckenraketen auf dem Territorium der europäischen NATO-Verbündeten zu verhindern, sondern auch für Verhandlungen, die Vertrauen und Transparenz schaffen und zu umfassenden Abrüstungsmaßnahmen führen.
Vor allem anderen aber muss die Friedensbewegung von der Bundesregierung eine aktive Politik der Deeskalation fordern. Dafür muss sie endlich ihre anti-russische Haltung aufgeben und darauf drängen, dass die NATO beziehungsweise die USA das von Präsident Putin wiederholte Angebot zu Verhandlungen auf allen Ebenen endlich wahrnehmen.
Russland bedroht uns nicht. Russland hat keinerlei Interesse an einem Krieg mit der NATO. Die deutsche Friedensbewegung steht in der Pflicht, sich der Geschichte zu erinnern und die Hetze gegen Russland klar zurückzuweisen. Die politische Eskalation des Westens gegen Russland macht unser offensives Eintreten für Entspannung immer dringender.
Solange die internationalen Beziehungen von erheblichen Interessenkonflikten, Gegensätzen und Auseinandersetzungen geprägt sind, wird es keine atomwaffenfreie Welt geben. Ein moralisches Bekenntnis zum Atomwaffenverbot kann keinen Schritt weiterführen, sondern nur Verhandlungen zu gegenseitiger Begrenzung, Kontrolle und Abrüstung. Atomare Abrüstung kann nur die Folge sein aus einem Prozess politischer Entspannung.
Quellen und Anmrkungen:
(1) Quellen der Argumente und Zitate von ICAN in diesem Artikel:
https://www.icanw.de/wp-content/uploads/2018/01/2017-01_Atomwaffen-aechten_web.pdf
https://www.icanw.de/grunde-fur-ein-verbot/argumente-fur-die-aechtung/
https://www.friedenskooperative.de/friedensforum/artikel/pro-und-contra-atomwaffenverbots-vertrag
https://www.icanw.de/wp-content/uploads/2014/07/ICAN_Kommentar_3_2016.pdf
https://www.icanw.de/wp-content/uploads/2017/12/faq_verbotsvertrag.pdf
https://www.icanw.de/neuigkeiten/bundesregierung-muss-zu-atomwaffenvertrag-vermitteln/
(2) Amerikas ungeschriebene Geschichte: Die Schattenseiten der Weltmacht; Oliver Stone, Peter Kuznick – Ullstein Buchverlage, Berlin 2015
(3) Ebenda
(4) https://deutsch.rt.com/meinung/74312-stationieren-usa-nukleare-mittelstreckenraketen-in-rumaenien-teil-3/
(5) http://www.luftpost-kl.de/luftpost-archiv/LP_16/LP02918_050318.pdf
(6) https://www.ippnw.de/relaunch/atomwaffen/artikel/de/friedensorganisationen-kritisieren-a.html
(7) https://www.jungewelt.de/artikel/329266.nukleare-lebensversicherung.html
(8) http://www.mid.ru/en/web/guest/meropriyatiya_s_uchastiem_ministra/-/asset_publisher/xK1BhB2bUjd3/content/id/2913751
https://de.sputniknews.com/panorama/20180119319134348-welt-atomwaffen-russland-lawrow/
(9) http://www.mid.ru/en/web/guest/maps/fr/-/asset_publisher/g8RuzDvY7qyV/content/id/3384609
https://de.sputniknews.com/politik/20181029322795184-atomwaffenverbotsvertrag-weltarsenale-kernwaffen-auftreten-gegen/
(10) fhttp://www.un.org/depts/german/conf/a-conf-229-17-8.pdf
Der Text basiert auf einem Vortrag, gehalten im Marx-Engels-Zentrum (MEZ) Berlin am 16. November 2018.
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